Der Realitätsverlust bei Neurose und Psychose 1924-004/1931
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    Der Realitätsverlust bei
    Neurose und Psychose

    (1924)

    Ich habe kürzlich1 einen der unterscheidenden Züge zwischen
    Neurose und Psychose dahin bestimmt, daß bei ersterer das
    Ich in Abhängigkeit von der Realität ein Stück des Es
    (Trieblebens) unterdrückt, während sich dasselbe Ich bei der
    Psychose im Dienste des Es von einem Stück der Realität
    zurückzieht. Für die Neurose wäre also die Übermacht des
    Realeinflusses, für die Psychose die des Es maßgebend. Der
    Realitätsverlust wäre für die Psychose von vorneherein ge-
    geben; für die Neurose, sollte man meinen, wäre er ver-
    mieden.

    Das stimmt nun aber gar nicht zur Erfahrung, die wir
    alle machen können, daß jede Neurose das Verhältnis des
    Kranken zur Realität irgendwie stört, daß sie ihm ein Mittel
    ist, sich von ihr zurückzuziehen und in ihren schweren Aus-
    bildungen direkt eine Flucht aus dem realen Leben bedeutet.

    1) Neurose und Psychose. [S. 186 dieses Bandes.]

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    Dieser Widerspruch erscheint bedenklich, allein er ist leicht
    zu beseitigen und seine Aufklärung wird unser Verständnis
    der Neurose nur gefördert haben.

    Der Widerspruch besteht nämlich nur so lange, als wir
    die Eingangssituation der Neurose ins Auge fassen, in welcher
    das Ich im Dienst der Realität die Verdrängung einer Trieb-
    regung vornimmt. Das ist aber noch nicht die Neurose selbst.
    Diese besteht vielmehr in den Vorgängen, welche dem ge-
    schädigten Anteil des Es eine Entschädigung bringen, also in
    der Reaktion gegen die Verdrängung und im Mißglücken
    derselben. Die Lockerung des Verhältnisses zur Realität ist
    dann die Folge dieses zweiten Schrittes in der Neurosen-
    bildung und es sollte uns nicht verwundern, wenn die
    Detailuntersuchung zeigte, daß der Realitätsverlust gerade
    jenes Stück der Realität betrifft, über dessen Anforderung
    die Triebverdrängung erfolgte.

    Die Charakteristik der Neurose als Erfolg einer mißglück-
    ten Verdrängung ist nichts Neues. Wir haben es immer so
    gesagt und nur infolge des neuen Zusammenhanges war es
    notwendig, es zu wiederholen.

    Das nämliche Bedenken wird übrigens in besonders ein-
    drucksvoller Weise wieder auftreten, wenn es sich um einen
    Fall von Neurose handelt, dessen Veranlassung („die trau-
    matische Szene“) bekannt ist und an dem man sehen kann,
    wie sich die Person von einem solchen Erlebnis abwendet
    und es der Amnesie überantwortet. Ich will zum Beispiel
    auf einen vor langen Jahren analysierten Fall zurück-
    greifen,2 in dem das in ihren Schwager verliebte Mädchen
    am Totenbett der Schwester durch die Idee erschüttert wird:
    Nun ist er frei und kann dich heiraten. Diese Szene wird
    sofort vergessen und damit der Regressionsvorgang einge-
    leitet, der zu den hysterischen Schmerzen führt. Es ist aber

    2) In den „Studien über Hysterie“, 1895. (Ges. Schriften, Bd. I)

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    gerade hier lehrreich zu sehen, auf welchem Wege die
    Neurose den Konflikt zu erledigen versucht. Sie entwertet
    die reale Veränderung, indem sie den in Betracht kommen-
    den Triebanspruch, also die Liebe zum Schwager, verdrängt.
    Die psychotische Reaktion wäre gewesen, die Tatsache des
    Todes der Schwester zu verleugnen.

    Man könnte nun erwarten, daß sich bei der Entstehung
    der Psychose etwas dem Vorgang bei der Neurose Analoges
    ereignet, natürlich zwischen anderen Instanzen. Also daß
    auch bei der Psychose zwei Schritte deutlich werden, von
    denen der erste das Ich diesmal von der Realität losreißt,
    der zweite aber den Schaden wieder gutmachen will und
    nun die Beziehung zur Realität auf Kosten des Es wieder-
    herstellt. Wirklich ist auch etwas Analoges an der Psychose
    zu beobachten; es gibt auch hier zwei Schritte, von denen
    der zweite den Charakter der Reparation an sich trägt, aber
    dann weicht die Analogie einer viel weiter gehenden Gleich-
    sinnigkeit der Vorgänge. Der zweite Schritt der Psychose
    will auch den Realitätsverlust ausgleichen, aber nicht auf
    Kosten einer Einschränkung des Es, wie bei Neurose auf
    Kosten der Realbeziehung, sondern auf einem anderen, mehr
    selbstherrlichen Weg durch Schöpfung einer neuen Realität,
    welche nicht mehr den nämlichen Anstoß bietet wie die
    verlassene. Der zweite Schritt wird also bei der Neurose wie
    bei der Psychose von denselben Tendenzen getragen, er
    dient in beiden Fällen dem Machtbestreben des Es, das sich
    von der Realität nicht zwingen läßt. Neurose wie Psychose
    sind also beide Ausdruck der Rebellion des Es gegen die
    Außenwelt, seiner Unlust oder, wenn man will, seiner
    Unfähigkeit, sich der realen Not, der 'Ανάγκη, anzupassen.
    Neurose und Psychose unterscheiden sich weit mehr von
    einander in der ersten einleitenden Reaktion als in dem auf
    sie folgenden Reparationsversuch.

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    Der anfängliche Unterschied kommt dann im Endergebnis
    in der Art zum Ausdruck, daß bei der Neurose ein Stück
    der Realität fluchtartig vermieden, bei der Psychose aber
    umgebaut wird. Oder: bei der Psychose folgt auf die anfäng-
    liche Flucht eine aktive Phase des Umbaus, bei der Neurose
    auf den anfänglichen Gehorsam ein nachträglicher Flucht-
    versuch. Oder noch anders ausgedrückt: Die Neurose ver-
    leugnet die Realität nicht, sie will nur nichts von ihr
    wissen; die Psychose verleugnet sie und sucht sie zu ersetzen.
    Normal oder „gesund“ heißen wir ein Verhalten, welches
    bestimmte Züge beider Reaktionen vereinigt, die Realität so
    wenig verleugnet wie die Neurose, sich aber dann wie die
    Psychose um ihre Abänderung bemüht. Dies zweckmäßige,
    normale Verhalten führt natürlich zu einer äußeren Arbeits-
    leistung an der Außenwelt und begnügt sich nicht wie bei
    der Psychose mit der Herstellung innerer Veränderungen;
    es ist nicht mehr autoplastisch, sondern allo-
    plastisch
    .

    Die Umarbeitung der Realität geschieht bei der Psychose
    an den psychischen Niederschlägen der bisherigen Beziehungen
    zu ihr, also an den Erinnerungsspuren, Vorstellungen und
    Urteilen, die man bisher von ihr gewonnen hatte und durch
    welche sie im Seelenleben vertreten war. Aber diese Beziehung
    war nie eine abgeschlossene, sie wurde fortlaufend durch
    neue Wahrnehmungen bereichert und abgeändert. Somit
    stellt sich auch für die Psychose die Aufgabe her, sich solche
    Wahrnehmungen zu verschaffen, wie sie der neuen Realität
    entsprechen würden, was in gründlichster Weise auf dem
    Wege der Halluzination erreicht wird. Wenn die Erinnerungs-
    täuschungen, Wahnbildungen und Halluzinationen bei so
    vielen Formen und Fällen von Psychose den peinlichsten
    Charakter zeigen und mit Angstentwicklung verbunden sind,
    so ist das wohl ein Anzeichen dafür, daß sich der ganze

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    Umbildungsprozeß gegen heftig widerstrebende Kräfte voll-
    zieht. Man darf sich den Vorgang nach dem uns besser
    bekannten Vorbild der Neurose konstruieren. Hier sehen wir,
    daß jedesmal mit Angst reagiert wird, so oft der verdrängte
    Trieb einen Vorstoß macht, und daß das Ergebnis des
    Konflikts doch nur ein Kompromiß und als Befriedigung
    unvollkommen ist. Wahrscheinlich drängt sich bei der Psy-
    chose das abgewiesene Stück der Realität immer wieder dem
    Seelenleben auf, wie bei der Neurose der verdrängte Trieb,
    und darum sind auch die Folgen in beiden Fällen die gleichen.
    Die Erörterung der verschiedenen Mechanismen, welche bei
    den Psychosen die Abwendung von der Realität und den
    Wiederaufbau einer solchen bewerkstelligen sollen, so wie
    des Ausmaßes von Erfolg, das sie erzielen können, ist eine
    noch nicht in Angriff genommene Aufgabe der speziellen
    Psychiatrie.

    Es ist also eine weitere Analogie zwischen Neurose und
    Psychose, daß bei beiden die Aufgabe, die im zweiten Schritt
    in Angriff genommen wird, teilweise mißlingt, indem sich
    der verdrängte Trieb keinen vollen Ersatz schaffen kann
    (Neurose) und die Realitätsvertretung sich nicht in die
    befriedigenden Formen umgießen läßt. (Wenigstens nicht bei
    allen Formen der psychischen Erkrankungen.) Aber die
    Akzente sind in den zwei Fällen anders verteilt. Bei der
    Psychose ruht der Akzent ganz auf dem ersten Schritt, der
    an sich krankhaft ist und nur zu Kranksein führen kann,
    bei der Neurose hingegen auf dem zweiten, dem Mißlingen
    der Verdrängung, während der erste Schritt gelingen kann
    und auch im Rahmen der Gesundheit ungezählte Male
    gelungen ist, wenn auch nicht ganz ohne Kosten zu machen
    und Anzeichen des erforderten psychischen Aufwandes zu
    hinterlassen. Diese Differenzen und vielleicht noch viele
    andere sind die Folge der topischen Verschiedenheit in der

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    Ausgangssituation des pathogenen Konflikts, ob das Ich darin
    seiner Anhänglichkeit an die reale Welt oder seiner Abhängig-
    keit vom Es nachgegeben hat.

    Die Neurose begnügt sich in der Regel damit, das be-
    treffende Stück der Realität zu vermeiden und sich gegen das
    Zusammentreffen mit ihm zu schützen. Der scharfe Unter-
    schied zwischen Neurose und Psychose wird aber dadurch
    abgeschwächt, daß es auch bei der Neurose an Versuchen
    nicht fehlt, die unerwünschte Realität durch eine wunsch-
    gerechtere zu ersetzen. Die Möglichkeit hiezu gibt die
    Existenz einer Phantasiewelt, eines Gebiets, das seiner-
    zeit bei der Einsetzung des Realitätsprinzips von der realen
    Außenwelt abgesondert wurde, seither nach Art einer
    „Schonung“ von den Anforderungen der Lebensnotwendig-
    keit frei gehalten wird und das dem Ich nicht unzugänglich
    ist, aber ihm nur lose anhängt. Aus dieser Phantasiewelt
    entnimmt die Neurose das Material für ihre Wunschneubil-
    dungen und findet es dort gewöhnlich auf dem Wege der
    Regression in eine befriedigendere reale Vorzeit.

    Es ist kaum zweifelhaft, daß die Phantasiewelt bei der
    Psychose die nämliche Rolle spielt, daß sie auch hier die
    Vorratskammer darstellt, aus der der Stoff oder die Muster
    für den Aufbau der neuen Realität geholt werden. Aber
    die neue phantastische Außenwelt der Psychose will sich an
    die Stelle der äußeren Realität setzen, die der Neurose hin-
    gegen lehnt sich wie das Kinderspiel gern an ein Stück der
    Realität an, — ein anderes als das, wogegen sie sich wehren
    mußte, — verleiht ihm eine besondere Bedeutung und einen
    geheimen Sinn, den wir nicht immer ganz zutreffend einen
    symbolischen heißen. So kommt für beide, Neurose wie
    Psychose, nicht nur die Frage des Realitätsverlusts,
    sondern auch die eines Realitätsersatzes in Betracht.