Der Traum als Beweismittel 1913-004/1931
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    316 Ein Traum

    EIN TRAUM ALS BEWEISMITTEL
    (1913)

    Eine Dame, die an Zweifelsucht und Zwangszeremoniell
    leidet, stellt an ihre Pflegerinnen die Anforderung, von ihnen
    keinen Moment aus den Augen gelassen zu werden, weil sie
    sonst zu grübeln beginnen würde, was sie in dem unbewachten
    Zeitraum Unerlaubtes getan haben mag. Wie sie nun eines
    Abends auf dem Diwan ausruht, glaubt sie zu bemerken, daß
    die diensthabende Pflegerin eingeschlafen ist. Sie fragt: Haben
    Sie mich gesehen?; die Pflegerin fährt auf und antwortet:
    Ja, gewiß. Die Kranke hat nun Grund zu einem neuen Zweifel
    und wiederholt nach einer Weile dieselbe Frage. Die Pflegerin
    beteuert es von neuem; in diesem Augenblicke bringt eine
    andere Dienerin das Abendessen.

    Dies ereignete sich eines Freitag abends. Am nåchsten
    Morgen erzählt die Pflegerin einen Traum, der die Zweifel
    der Patientin zerstreut.

    Traum: Man hat ihr ein Kind gegeben, die Mutter ist
    abgereist, und sie hat das Kind verloren. Sie fragt unterwegs
    die Leute auf der Strafte, ob sie das Kind gesehen haben. Dann
    kommt sie an ein großes Wasser, geht über einen schmalen
    Steg. (Dazu später ein Nachtrag: Auf diesem Steg ist plötzlich
    die Person einer anderen Pflegerin wie eine Fata Morgana vor
    ihr aufgetaucht.) Dann ist sie in einer ihr bekannten Gegend
    und trifft dort eine Frau, die sie als Mädchen gekannt hat,
    die damals Verkäuferin in einem Efwarengeschåft war, später
    aber geheiratet hat. Sie fragt die vor ihrer Tür stehende Frau:
    Haben Sie das Kind gesehen? Die Frau interessiert sich aber
    nicht für diese Frage, sondern erzählt ihr, daß sie jetzt von
    ihrem Manne geschieden ist, wobei sie binzufügt, daß es auch
    in der Ehe nicht immer glücklich geht. Dann wacht sie be-

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    als Beweismittel 317

    ruhigt auf und denkt sich, das Kind wird sich schon bei einer
    Nachbarin finden.

    Analyse: Von diesem Traum nahm die Patientin an,
    daß er sich auf das von der Pflegerin abgeleugnete Einschlafen
    beziche. Was ihr die Pflegerin, ohne ausgefragt zu werden,
    im Anschluß an den Traum erzählte, setzte sie in den Stand,
    eine praktisch zureichende, wenn auch an manchen Stellen un-
    vollständige Deutung des Traumes vorzunehmen. Ich selbst
    habe nur den Bericht der Dame gehört, nicht die Pflegerin
    gesprochen; ich werde, nachdem die Patientin ihre Deutung
    vorgetragen hat, hinzufiigen, was sich aus unserer allgemeinen
    Einsichtnahme in die Gesetze der Traumbildung ergänzen läßt.

    „Die Pflegerin sagt, bei dem Kind im Traume denke sie
    an eine Pflege, von welcher sie sich außerordentlich befriedigt
    gefühlt habe. Es handelte sich um ein an blennorrhoischer
    Augenentzündung erkranktes Kind, das nicht sehen konnte.
    Aber die Mutter dieses Kindes reiste nicht ab, sie nahm an
    der Pflege teil. Dagegen weiß ich, daß mein Mann, der viel
    auf diese Pflegerin hilt, mich ihr beim Abschied zur Behiitung
    übergeben hat, und daß sie ihm damals versprach, auf mich
    achtzugeben — wie auf ein Kind!“

    Wir erraten andrerseits aus der Analyse der Patientin, daß
    sie sich mit ihrer Forderung, nicht aus den Augen gelassen
    zu werden, selbst in die Kindheit zuriickversetzt hat.

    „Sie hat das Kind verloren“, fährt die Patientin fort,
    „heißt, sie hat mich nicht gesehen, hat mich aus den Augen
    verloren. Das ist ihr Geständnis, daß sie wirklich eine Weile
    geschlafen und mir dann nicht die Wahrheit gesagt hat.“

    Das Stiickchen des Traumes, in dem die Pflegerin bei den
    Leuten auf der Straße nach dem Kinde fragt, blieb der Dame
    dunkel, dagegen weiß sie über die weiteren Elemente des
    manifesten Traumes gute Auskunft zu geben.

    „Bei dem großen Wasser denkt sie an den Rhein, aber sie

    ン ク ?

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    318 Ein Traum

    setzt hinzu, es war doch weit größer als der Rhein. Sie er-
    innert sich dann, daß ich ihr am Abend vorher die Geschichte
    von Jonas und dem Walfisch vorgelesen und erzählt habe,
    daß ich selbst einmal im Armelkanal einen Walfisch gesehen.
    Ich meine, das große Wasser ist das Meer, also eine An-
    spielung auf die Geschichte von Jonas.“

    „Ich glaube auch, daß der schmale Steg aus der nåmlichen,
    in Mundart geschriebenen lustigen Geschichte herrührt. In ihr
    wird erzählt, daß der Religionslehrer den Schulkindern das
    wunderbare Abenteuer des Jonas vortrigt, worauf ein Knabe
    den Einwand macht, das könne doch nicht sein, denn der Herr
    Lehrer habe ein anderes Mal gesagt, der Walfisch habe einen
    so engen Schlund, daß er nur ganz kleine Tiere schlucken
    könne. Der Lehrer hilft sich mit der Erklärung, Jonas sei eben
    ein Jude gewesen, und der drücke sich überall durch. Meine
    Pflegerin ist sehr religiös, aber zu religiösen Zweifeln geneigt,
    und ich habe mir darum Vorwürfe gemacht, daß ich durch
    meine Vorlesung vielleicht ihre Zweifel angeregt habe.“

    „Auf diesem schmalen Steg sah sie nun die Erscheinung
    einer anderen ihr bekannten Pflegerin. Sie hat mir deren Ge-
    schichte erzählt, diese ist in den Rhein gegangen, weil man
    sie aus der Pflege, in der sie sich etwas hatte zuschulden
    kommen lassen, weggeschickt hatte.! Sie fürchtet also auch,

    ı) Ich habe mir an dieser Stelle eine Verdichtung des Materials
    zuschulden kommen lassen, die ich bei einer Revision der Nieder-
    schrift vor der referierenden Dame korrigieren konnte. Die als
    Erscheinung auf dem Steg auftretende Pflegerin hatte sich in der
    Pflege nichts zuschulden kommen lassen. Sie wurde weggeschickt,
    weil die Mutter des Kindes, die zur Abreise genötigt war, erklärte,
    sie wolle in ihrer Abwesenheit eine ältere — also doch ver-
    liflichere 一 Warteperson bei dem Kinde haben. Daran reihte sich
    cine zweite Erzählung von einer anderen Pflegerin, die wirklich
    wegen einer Nachlässigkeit entlassen worden war, sich darum aber
    nicht ertränkt hatte. Das fiir die Deutung des Traumelements
    nötige Material ist hier, wie sonst nicht selten, auf zwei Quellen

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    als Beweismittel 319

    wegen jenes Einschlafens weggeschickt zu werden. Übrigens
    hat sie am Tage nach dem Vorfall und der Traumerzåhlung
    heftig geweint und mir, auf meine Frage nach ihren Gründen,
    recht barsch geantwortet: ‚Das wissen Sie so gut wie ich, und
    jetzt werden Sie kein Vertrauen mehr zu mir haben. “

    Da die Erscheinung der ertrinkten Pflegerin ein Nachtrag,
    und zwar von besonderer Deutlichkeit war, hätten wir der
    Dame raten miissen, die Traumdeutung an diesem Punkte
    zu beginnen. Diese erste Hälfte des Traumes war nach dem
    Berichte der Tråumerin auch von heftigster Angst erfüllt, im
    zweiten Teil bereitet sich die Beruhigung vor, mit welcher
    sie erwacht.

    „Im nächsten Stück des Traumes^, setzt die analysierende
    Dame fort, „finde ich wieder einen sicheren Beweis fiir meine
    Auffassung, daß es sich darin um den Vorfall am Freitag
    abends handelt, denn mit der Frau, die früher Verkäuferin
    in einem Efwarengeschifte war, kann nur das Mädchen ge-
    meint sein, welches damals das Nachtmahl brachte. Ich be-
    merke, daß die Pflegerin den ganzen Tag über Ubligkeiten
    geklagt hatte. Die Frage, die sie an die Frau richtet: ‚Haben
    Sie das Kind geschen ist ja offenbar abgeleitet von meiner
    Frage: ‚Haben Sie mich gesehen?“, wie meine Formel lautet,
    die ich eben zum zweitenmal stellte, als das Mädchen mit den
    Schüsseln eintrat.“

    Auch im Traume wird in zwei Stellen nach dem Kinde
    gefragt. — Daß die Frau keine Antwort gibt, sich nicht inter-
    essiert, möchten wir als eine Herabsetzung der anderen
    Dienerin zugunsten der Träumerin deuten, die sich im Traume

    verteilt. Mein Gedächtnis vollzog die zur Deutung führende
    Synthese. — Übrigens findet sich in der Geschichte der ertränkten
    Pflegerin das Moment des Abreisens der Mutter, welches von der
    Dame auf die Abreise ihres Mannes bezogen wird. Wie man sieht,

    eine Überdeterminierung, welche die Eleganz der Deutung beein-
    trächtigt.

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    320 Ein Traum

    über die andere erhebt, gerade weil sie gegen Vorwürfe wegen
    ihrer Unachtsamkeit anzukåmpfen hat.

    „Die im Traume erscheinende Frau ist nicht wirklich von
    ihrem Manne geschieden. Die ganze Stelle stammt aus der
    Lebensgeschichte des anderen Mädchens, welches durch das
    Machtwort ihrer Eltern von einem Manne ferngehalten — ge-
    schieden — wird, der sie heiraten will. Der Satz, daß es in
    der Ehe auch nicht immer gut abgeht, ist wahrscheinlich ein
    Trost, der in Gesprichen der beiden zur Verwendung kam.
    Dieser Trost wird ihr zum Vorbild fiir einen anderen, mit
    dem der Traum schließt: Das Kind wird sich schon finden.“

    „Ich habe aber aus diesem Traume entnommen, daß die
    Pflegerin an jenem Abend wirklich eingeschlafen war und
    darum weggeschickt zu werden fürchtet. Ich habe darum den
    Zweifel an meiner eigenen Wahrnehmung aufgegeben. Ubri-
    gens hat sie nach der Erzählung des Traumes hinzugefügt,
    sie bedauere es sehr, daß sie kein Traumbuch mitgebracht
    habe. Als ich bemerkte, in solchen Büchern stehe doch nur der
    schlimmste Aberglaube, entgegnete sie, sie sei gar nicht aber-
    gläubisch, aber das müsse sie sagen: alle Unannehmlichkeiten
    ihres Lebens seien ihr immer an Freitagen passiert. Außerdem
    behandelt sie mich jetzt schlecht, zeigt sich empfindlich, reizbar
    und macht mir Szenen.“

    Ich glaube, wir werden der Dame zugestehen müssen, daß
    sie den Traum ihrer Pflegerin richtig gedeutet und verwertet
    hat. Wie so oft bei der Traumdeutung in der Psychoanalyse,
    kommen für die Übersetzung des Traumes nicht allein die
    Ergebnisse der Assoziation in Betracht, sondern auch die
    Begleitumstände der Traumerzählung, das Benehmen des
    Tråumers vor und nach der Traumanalyse sowie alles, was
    er ungefåhr gleichzeitig mit dem Traume — in derselben
    Stunde der Behandlung — äußert und verrät. Nehmen wir
    die Reizbarkeit der Pflegerin, ihre Beziehung auf den unglück-

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    als Beweismittel 321

    bringenden Freitag u.a. hinzu, so werden wir das Urteil
    bestätigen, der Traum enthalte das Geständnis, daf sie
    damals, als sie es ableugnete, wirklich eingenickt sei und
    darum fürchte, von ihrem Pflegekind weggeschickt zu werden.”

    Aber der Traum, welcher für die Dame eine praktische
    Bedeutung hatte, regt bei uns das theoretische Interesse nach
    zwei Richtungen an. Der Traum läuft zwar in eine Tröstung
    aus, aber im wesentlichen bringt er ein für die Beziehung zu
    ihrer Dame wichtiges Geständnis. Wie kommt der
    Traum, der doch der Wunscherfüllung dienen soll, dazu, ein
    Geständnis zu ersetzen, welches der Tråumerin nicht einmal
    vorteilhaft wird? Sollen wir uns wirklich veranlaft finden,
    außer den Wunsch- (und Angst-) Träumen auch Geständnis-
    träume zuzugeben sowie Warnungstråume, Reflexionstråume,
    Anpassungsträume u. dgl.?

    Ich bekenne nun, daß ich noch nicht ganz verstehe, warum
    der Standpunkt, den meine Traumdeutung gegen solche Ver-
    suchungen einnimmt, bei so vielen und darunter namhaften
    Psychoanalytikern Bedenken findet. Die Unterscheidung von
    Wunsch-, Gestindnis-, Warnungs- und Anpassungstriumen
    u. dgl. scheint mir nicht viel sinnreicher, als die notgedrungen
    zugelassene Differenzierung ärztlicher Spezialisten in Frauen-,
    Kinder- und Zahnärzte. Ich nehme mir die Freiheit, die Er-
    órterungen der Traumdeutung über diesen Punkt hier in
    äußerster Kürze zu wiederholen.*

    Als Schlafstörer und Traumbildner können die sogenannten
    »lagesreste^ fungieren, affektbesetzte Denkvorgänge des
    Traumtages, welche der allgemeinen Schlaferniedrigung einiger-
    maßen widerstanden haben. Diese Tagesreste deckt man auf,

    2) Die Pflegerin gestand übrigens einige Tage später einer dritten
    Person ihr Einschlafen an jenem Abend zu und rechtfertigte so
    die Deutung der Dame.

    3) Ges. Schriften, Bd. II, 9, 474 ff.

    Freud, Kleine Schriften zur Sexualtheorie 21

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    322 Ein Traum

    indem man den manifesten Traum auf die latenten Traum-
    gedanken zurückführt; sie sind Stücke dieser letzteren, gehören
    also den — bewußt oder unbewuft gebliebenen — Tätigkeiten
    des Wachens an, die sich in die Zeit des Schlafens fortsetzen
    mögen. Entsprechend der Mannigfaltigkeit der Denkvorgånge
    im Bewuften und Vorbewuften haben diese Tagesreste die
    vielfachsten und verschiedenartigsten Bedeutungen, es können
    unerledigte Wiinsche oder Befiirchtungen sein, ebenso Vor-
    sitze, Uberlegungen, Warnungen, Anpassungsversuche an
    bevorstehende Aufgaben usw. Insofern muß ja die in Rede
    stehende Charakteristik der Träume nach ihrem durch Deutung
    erkannten Inhalt gerechtfertigt erscheinen. Aber diese Tages-
    reste sind noch nicht der Traum, vielmehr fehlt ihnen das
    Wesentliche, was den Traum ausmacht. Sie sind fiir sich allein
    nicht imstande, einen Traum zu bilden. Streng genommen
    sind sie nur psychisches Material fiir die Traumarbeit, wie die
    zufällig vorhandenen Sinnes- und Leibreize oder eingeführte
    experimentelle Bedingungen deren somatisches Material bilden.
    Ihnen die Hauptrolle bei der Traumbildung zuschreiben, heißt
    nichts anderes als den voranalytischen Irrtum an neuer Stelle
    wiederholen, Träume erklärten sich durch den Nachweis eines
    verdorbenen Magens oder einer gedrückten Hautstelle. So zäh-
    lebig sind wissenschaftliche Irrtümer und so gern bereit, sich,
    wenn abgewiesen, unter neuen Masken wieder einzuschleichen.

    Soweit wir den Sachverhalt durchschaut haben, müssen wir
    sagen, der wesentliche Faktor der Traumbildung ist ein unbe-
    wufter Wunsch, in der Regel ein infantiler, jetzt verdrängter,
    welcher sich in jenem somatischen oder psychischen Material
    (also auch in den Tagesresten) zum Ausdruck bringen kann und
    ihnen darum eine Kraft leiht, so daß sie auch während der
    nächtlichen Denkpause zum Bewußtsein durchdringen können.
    Dieses unbewußten Wunsches Erfüllung ist jedesmal der
    Traum, mag er sonst was immer enthalten, Warnung, Über-

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    als Beweismittel 323

    legung, Geständnis und was sonst aus dem reichen Inhalt des
    vorbewufiten Wachlebens unerledigt in die Nacht hineinragt.
    Dieser unbewufte Wunsch ist es, welcher der Traumarbeit
    ihren eigentümlichen Charakter gibt als einer unbewuften
    Bearbeitung eines vorbewuften Materials. Der Psychoana-
    lytiker kann den Traum nur charakterisieren als Ergebnis der
    Traumarbeit; die latenten Traumgedanken kann er nicht dem
    Traume zurechnen, sondern dem vorbewuften Nachdenken,
    wenngleich er diese Gedanken erst aus der Deutung des
    Traumes erfahren hat. (Die sekundäre Bearbeitung durch die
    bewufte Instanz ist hiebei der Traumarbeit zugezählt; es
    wird an dieser Auffassung nichts geändert, wenn man sie ab-
    sondert. Man müßte dann sagen: der Traum im psycho-
    analytischen Sinne umfaßt die eigentliche Traumarbeit und
    die sekundäre Bearbeitung ihres Ergebnisses.) Der Schluß aus
    diesen Erwägungen lautet, daß man den Wunscherfüllungs-
    charakter des Traumes nicht in einen Rang mit dessen Cha-
    rakter als Warnung, Geständnis, Lösungsversuch usw. ver-
    setzen darf, ohne den Gesichtspunkt der psychischen Tiefen-
    dimension, also den Standpunkt der Psychoanalyse, zu ver-
    leugnen.

    Kehren wir nun zum Traume der Pflegerin zurück, um an
    ihm den Tiefencharakter der Wunscherfüllung nachzuweisen.
    Wir sind darauf vorbereitet, daß seine Deutung durch die
    Dame keine vollständige ist. Es erübrigen die Partien des
    Trauminhaltes, denen sie nicht gerecht werden konnte. Sie
    leidet überdies an einer Zwangsneurose, welche nach meinen
    Eindrücken das Verständnis der Traumsymbole erheblich er-
    schwert, ähnlich wie die Dementia praecox es erleichtert.

    Unsere Kenntnis der Traumsymbolik gestattet uns aber, un-
    gedeutete Stellen dieses Traumes zu verstehen und hinter den
    bereits gedeuteten einen tieferen Sinn zu erraten. Es muß uns
    auffallen, daß einiges Material, welches die Pflegerin ver-

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    324 Ein Traum

    wendet, aus dem Komplex des Gebärens, Kinderhabens
    kommt. Das große Wasser (der Rhein, der Kanal, in dem
    der Walfisch gesehen wurde) ist wohl das Wasser, aus dem
    die Kinder kommen. Sie kommt ja auch dahin „auf der Suche
    nach dem Kinde“. Die Jonasmythe hinter der Determinierung
    dieses Wassers, die Frage, wie Jonas (das Kind) durch die
    enge Spalte kommt, gehören demselben Zusammenhang an.
    Die Pflegerin, die sich aus Kränkung in den Rhein gestürzt
    hat, ins Wasser gegangen ist, hat ja auch in ihrer Verzweiflung
    am Leben eine sexualsymbolische Tröstung an der Todesart
    gefunden. Der enge Steg, auf dem ihr die Erscheinung ent-
    gegentritt, ist sehr wahrscheinlich gleichfalls als ein Genital-
    symbol zu deuten, wenngleich ich gestehen muß, daß dessen
    genauere Erkenntnis noch aussteht.

    Der Wunsch: ich will ein Kind haben, scheint also der
    Traumbildner aus dem Unbewußten zu sein, und kein anderer
    scheint besser geeignet, die Pflegerin über die peinliche Situa-
    tion der Realität zu trösten. „Man wird mich wegschicken, ich
    werde mein Pflegekind verlieren. Was liegt daran? Ich werde
    mir dafür ein eigenes, leibliches verschaffen." Vielleicht gehört
    die ungedeutete Stelle, daß sie alle Leute auf der Straße
    nach dem Kinde fragt, in diesen Zusammenhang; sie wire
    dann zu übersetzen: und müßte ich mich auf der Straße aus-
    bieten, ich werde mir das Kind zu schaffen wissen. Ein bisher
    verdeckter Trotz der Tråumerin wird hier plötzlich laut, und
    zu diesem paßt erst das Geständnis: „Also gut, ich habe die
    Augen zugemacht und meine Verliflichkeit als Pflegerin kom-
    promittiert, ich werde jetzt die Stelle verlieren. Werde ich so
    dumm sein, ins Wasser zu gehen wie die X? Nein, ich bleibe
    überhaupt nicht Pflegerin, ich will heiraten, Weib sein, ein
    leibliches Kind haben, daran lasse ich mich nicht hindern.“
    Diese Übersetzung rechtfertigt sich durch die Erwägung, daß
    »Kinderhaben* wohl der infantile Ausdruck des Wunsches

  • S.

    als Beweismittel 325

    nach dem Sexualverkehr ist, wie es auch vor dem Bewußtsein
    zum euphemistischen Ausdruck dieses anstößigen Wunsches
    gewählt werden kann.

    Das für die Träumerin nachteilige Geständnis, zu dem wohl
    im Wachleben eine gewisse Neigung vorhanden war, ist also
    im Traume ermöglicht worden, indem ein latenter Charakter-
    zug der Pflegerin sich desselben zur Herstellung einer in-
    fantilen Wunscherfüllung bediente. Wir dürfen vermuten, daß
    dieser Charakter in innigem Zusammenhang — zeitlichem wie
    inhaltlichem — mit dem Wunsche nach Kind und Sexual-
    genuß steht.

    Eine weitere Erkundigung bei der Dame, der ich das erste
    Stück dieser Traumdeutung danke, förderte folgende uner-
    wartete Aufschlüsse über die Lebensschicksale der Pflegerin
    zutage. Sie wollte, ehe sie Pflegerin wurde, einen Mann
    heiraten, der sich eifrig um sie bemühte, verzichtete aber
    darauf infolge des Einspruches einer Tante, zu welcher sie
    in einem merkwürdigen, aus Abhängigkeit und Trotz ge-
    mischten Verhältnis steht. Diese Tante, die ihr das Heiraten
    versagte, ist selbst Oberin eines Krankenpflegerordens; die
    Triumerin sah in ihr immer ihr Vorbild, sie ist durch Erb-
    riicksichten an sie gebunden, widersetzte sich ihr aber, indem
    sie nicht in den Orden eintrat, den ihr die Tante bestimmt
    hatte. Der Trotz, der sich im Traume verraten, gilt also der
    Tante. Wir haben diesem Charakterzug analerotische Her-
    kunft zugesprochen und nehmen hinzu, daß es Geldinteressen
    sind, welche sie von der Tante abhängig machen, denken auch
    daran, daß das Kind die anale Geburtstheorie bevorzugt.

    Das Moment dieses Kindertrotzes wird uns vielleicht einen
    innigeren Zusammenhang zwischen den ersten und der letzten
    Szene des Traumes annehmen lassen. Die ehemalige Ver-
    kåuferin von Efwaren im Traume ist zunächst die andere
    Dienerin der Dame, die im Moment der Frage: „Haben Sie

  • S.

    326 Traum und

    mich gesehen?“ mit dem Nachtmahl ins Zimmer trat. Aber
    es scheint, daß sie überhaupt die Stelle der feindlichen Kon-
    kurrentin zu übernehmen bestimmt ist. Sie wird als Pflege-
    person herabgesetzt, indem sie sich fiir das verlorene Kind gar
    nicht interessiert, sondern von ihren eigenen Angelegenheiten
    Antwort gibt. Auf sie wird also die Gleichgiltigkeit gegen
    das Pflegekind verschoben, zu der sich die Tråumerin ge-
    wendet hat. Ihr wird die ungliickliche Ehe und Scheidung an-
    gedichtet, welche die Tråumerin in ihren geheimsten Wiinschen
    selbst fürchten müßte. Wir wissen aber, daß es die Tante ist,
    welche die Tråumerin von ihrem Verlobten geschieden hat.
    So mag die „Verkäuferin von E&waren“ (was einer infantilen
    symbolischen Bedeutung nicht zu entbehren braucht) zur Re-
    prisentantin der, übrigens nicht viel älteren, Tante-Oberin
    werden, welche bei unserer Träumerin die hergebrachte Rolle
    der Mutter-Konkurrentin eingenommen hat. Eine gute Be-
    stätigung dieser Deutung liegt in dem Umstand, daß der im
    Traume „bekannte“ Ort, an dem sie die in Rede stehende
    Person vor ihrer Tür findet, der Ort ist, wo eben diese Tante
    als Oberin lebt.

    Infolge der Distanz, welche den Analysierenden vom Ob-
    jekt der Analyse trennt, muß es ratsam werden, nicht weiter
    in das Gewebe dieses Traumes einzudringen. Man darf viel-
    leicht sagen, auch soweit er der Deutung zuginglich wurde,
    zeigte er sich reich an Beståtigungen wie an neuen Problemen.

    TRAUM UND TELEPATHIE
    (1922)

    Eine Ankündigung wie die meinige muß in diesen Zeiten,
    die so voll sind von Interesse für die sogenannt okkulten
    Phänomene, ganz bestimmte Erwartungen erwecken. Ich be-