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316 Ein Traum
EIN TRAUM ALS BEWEISMITTEL
(1913)Eine Dame, die an Zweifelsucht und Zwangszeremoniell
leidet, stellt an ihre Pflegerinnen die Anforderung, von ihnen
keinen Moment aus den Augen gelassen zu werden, weil sie
sonst zu grübeln beginnen würde, was sie in dem unbewachten
Zeitraum Unerlaubtes getan haben mag. Wie sie nun eines
Abends auf dem Diwan ausruht, glaubt sie zu bemerken, daß
die diensthabende Pflegerin eingeschlafen ist. Sie fragt: Haben
Sie mich gesehen?; die Pflegerin fährt auf und antwortet:
Ja, gewiß. Die Kranke hat nun Grund zu einem neuen Zweifel
und wiederholt nach einer Weile dieselbe Frage. Die Pflegerin
beteuert es von neuem; in diesem Augenblicke bringt eine
andere Dienerin das Abendessen.Dies ereignete sich eines Freitag abends. Am nåchsten
Morgen erzählt die Pflegerin einen Traum, der die Zweifel
der Patientin zerstreut.Traum: Man hat ihr ein Kind gegeben, die Mutter ist
abgereist, und sie hat das Kind verloren. Sie fragt unterwegs
die Leute auf der Strafte, ob sie das Kind gesehen haben. Dann
kommt sie an ein großes Wasser, geht über einen schmalen
Steg. (Dazu später ein Nachtrag: Auf diesem Steg ist plötzlich
die Person einer anderen Pflegerin wie eine Fata Morgana vor
ihr aufgetaucht.) Dann ist sie in einer ihr bekannten Gegend
und trifft dort eine Frau, die sie als Mädchen gekannt hat,
die damals Verkäuferin in einem Efwarengeschåft war, später
aber geheiratet hat. Sie fragt die vor ihrer Tür stehende Frau:
Haben Sie das Kind gesehen? Die Frau interessiert sich aber
nicht für diese Frage, sondern erzählt ihr, daß sie jetzt von
ihrem Manne geschieden ist, wobei sie binzufügt, daß es auch
in der Ehe nicht immer glücklich geht. Dann wacht sie be-S.
als Beweismittel 317
ruhigt auf und denkt sich, das Kind wird sich schon bei einer
Nachbarin finden.Analyse: Von diesem Traum nahm die Patientin an,
daß er sich auf das von der Pflegerin abgeleugnete Einschlafen
beziche. Was ihr die Pflegerin, ohne ausgefragt zu werden,
im Anschluß an den Traum erzählte, setzte sie in den Stand,
eine praktisch zureichende, wenn auch an manchen Stellen un-
vollständige Deutung des Traumes vorzunehmen. Ich selbst
habe nur den Bericht der Dame gehört, nicht die Pflegerin
gesprochen; ich werde, nachdem die Patientin ihre Deutung
vorgetragen hat, hinzufiigen, was sich aus unserer allgemeinen
Einsichtnahme in die Gesetze der Traumbildung ergänzen läßt.„Die Pflegerin sagt, bei dem Kind im Traume denke sie
an eine Pflege, von welcher sie sich außerordentlich befriedigt
gefühlt habe. Es handelte sich um ein an blennorrhoischer
Augenentzündung erkranktes Kind, das nicht sehen konnte.
Aber die Mutter dieses Kindes reiste nicht ab, sie nahm an
der Pflege teil. Dagegen weiß ich, daß mein Mann, der viel
auf diese Pflegerin hilt, mich ihr beim Abschied zur Behiitung
übergeben hat, und daß sie ihm damals versprach, auf mich
achtzugeben — wie auf ein Kind!“Wir erraten andrerseits aus der Analyse der Patientin, daß
sie sich mit ihrer Forderung, nicht aus den Augen gelassen
zu werden, selbst in die Kindheit zuriickversetzt hat.„Sie hat das Kind verloren“, fährt die Patientin fort,
„heißt, sie hat mich nicht gesehen, hat mich aus den Augen
verloren. Das ist ihr Geständnis, daß sie wirklich eine Weile
geschlafen und mir dann nicht die Wahrheit gesagt hat.“Das Stiickchen des Traumes, in dem die Pflegerin bei den
Leuten auf der Straße nach dem Kinde fragt, blieb der Dame
dunkel, dagegen weiß sie über die weiteren Elemente des
manifesten Traumes gute Auskunft zu geben.„Bei dem großen Wasser denkt sie an den Rhein, aber sie
ン ク ?
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318 Ein Traum
setzt hinzu, es war doch weit größer als der Rhein. Sie er-
innert sich dann, daß ich ihr am Abend vorher die Geschichte
von Jonas und dem Walfisch vorgelesen und erzählt habe,
daß ich selbst einmal im Armelkanal einen Walfisch gesehen.
Ich meine, das große Wasser ist das Meer, also eine An-
spielung auf die Geschichte von Jonas.“„Ich glaube auch, daß der schmale Steg aus der nåmlichen,
in Mundart geschriebenen lustigen Geschichte herrührt. In ihr
wird erzählt, daß der Religionslehrer den Schulkindern das
wunderbare Abenteuer des Jonas vortrigt, worauf ein Knabe
den Einwand macht, das könne doch nicht sein, denn der Herr
Lehrer habe ein anderes Mal gesagt, der Walfisch habe einen
so engen Schlund, daß er nur ganz kleine Tiere schlucken
könne. Der Lehrer hilft sich mit der Erklärung, Jonas sei eben
ein Jude gewesen, und der drücke sich überall durch. Meine
Pflegerin ist sehr religiös, aber zu religiösen Zweifeln geneigt,
und ich habe mir darum Vorwürfe gemacht, daß ich durch
meine Vorlesung vielleicht ihre Zweifel angeregt habe.“„Auf diesem schmalen Steg sah sie nun die Erscheinung
einer anderen ihr bekannten Pflegerin. Sie hat mir deren Ge-
schichte erzählt, diese ist in den Rhein gegangen, weil man
sie aus der Pflege, in der sie sich etwas hatte zuschulden
kommen lassen, weggeschickt hatte.! Sie fürchtet also auch,ı) Ich habe mir an dieser Stelle eine Verdichtung des Materials
zuschulden kommen lassen, die ich bei einer Revision der Nieder-
schrift vor der referierenden Dame korrigieren konnte. Die als
Erscheinung auf dem Steg auftretende Pflegerin hatte sich in der
Pflege nichts zuschulden kommen lassen. Sie wurde weggeschickt,
weil die Mutter des Kindes, die zur Abreise genötigt war, erklärte,
sie wolle in ihrer Abwesenheit eine ältere — also doch ver-
liflichere 一 Warteperson bei dem Kinde haben. Daran reihte sich
cine zweite Erzählung von einer anderen Pflegerin, die wirklich
wegen einer Nachlässigkeit entlassen worden war, sich darum aber
nicht ertränkt hatte. Das fiir die Deutung des Traumelements
nötige Material ist hier, wie sonst nicht selten, auf zwei QuellenS.
als Beweismittel 319
wegen jenes Einschlafens weggeschickt zu werden. Übrigens
hat sie am Tage nach dem Vorfall und der Traumerzåhlung
heftig geweint und mir, auf meine Frage nach ihren Gründen,
recht barsch geantwortet: ‚Das wissen Sie so gut wie ich, und
jetzt werden Sie kein Vertrauen mehr zu mir haben. “Da die Erscheinung der ertrinkten Pflegerin ein Nachtrag,
und zwar von besonderer Deutlichkeit war, hätten wir der
Dame raten miissen, die Traumdeutung an diesem Punkte
zu beginnen. Diese erste Hälfte des Traumes war nach dem
Berichte der Tråumerin auch von heftigster Angst erfüllt, im
zweiten Teil bereitet sich die Beruhigung vor, mit welcher
sie erwacht.„Im nächsten Stück des Traumes^, setzt die analysierende
Dame fort, „finde ich wieder einen sicheren Beweis fiir meine
Auffassung, daß es sich darin um den Vorfall am Freitag
abends handelt, denn mit der Frau, die früher Verkäuferin
in einem Efwarengeschifte war, kann nur das Mädchen ge-
meint sein, welches damals das Nachtmahl brachte. Ich be-
merke, daß die Pflegerin den ganzen Tag über Ubligkeiten
geklagt hatte. Die Frage, die sie an die Frau richtet: ‚Haben
Sie das Kind geschen ist ja offenbar abgeleitet von meiner
Frage: ‚Haben Sie mich gesehen?“, wie meine Formel lautet,
die ich eben zum zweitenmal stellte, als das Mädchen mit den
Schüsseln eintrat.“Auch im Traume wird in zwei Stellen nach dem Kinde
gefragt. — Daß die Frau keine Antwort gibt, sich nicht inter-
essiert, möchten wir als eine Herabsetzung der anderen
Dienerin zugunsten der Träumerin deuten, die sich im Traumeverteilt. Mein Gedächtnis vollzog die zur Deutung führende
Synthese. — Übrigens findet sich in der Geschichte der ertränkten
Pflegerin das Moment des Abreisens der Mutter, welches von der
Dame auf die Abreise ihres Mannes bezogen wird. Wie man sieht,eine Überdeterminierung, welche die Eleganz der Deutung beein-
trächtigt.S.
320 Ein Traum
über die andere erhebt, gerade weil sie gegen Vorwürfe wegen
ihrer Unachtsamkeit anzukåmpfen hat.„Die im Traume erscheinende Frau ist nicht wirklich von
ihrem Manne geschieden. Die ganze Stelle stammt aus der
Lebensgeschichte des anderen Mädchens, welches durch das
Machtwort ihrer Eltern von einem Manne ferngehalten — ge-
schieden — wird, der sie heiraten will. Der Satz, daß es in
der Ehe auch nicht immer gut abgeht, ist wahrscheinlich ein
Trost, der in Gesprichen der beiden zur Verwendung kam.
Dieser Trost wird ihr zum Vorbild fiir einen anderen, mit
dem der Traum schließt: Das Kind wird sich schon finden.“„Ich habe aber aus diesem Traume entnommen, daß die
Pflegerin an jenem Abend wirklich eingeschlafen war und
darum weggeschickt zu werden fürchtet. Ich habe darum den
Zweifel an meiner eigenen Wahrnehmung aufgegeben. Ubri-
gens hat sie nach der Erzählung des Traumes hinzugefügt,
sie bedauere es sehr, daß sie kein Traumbuch mitgebracht
habe. Als ich bemerkte, in solchen Büchern stehe doch nur der
schlimmste Aberglaube, entgegnete sie, sie sei gar nicht aber-
gläubisch, aber das müsse sie sagen: alle Unannehmlichkeiten
ihres Lebens seien ihr immer an Freitagen passiert. Außerdem
behandelt sie mich jetzt schlecht, zeigt sich empfindlich, reizbar
und macht mir Szenen.“Ich glaube, wir werden der Dame zugestehen müssen, daß
sie den Traum ihrer Pflegerin richtig gedeutet und verwertet
hat. Wie so oft bei der Traumdeutung in der Psychoanalyse,
kommen für die Übersetzung des Traumes nicht allein die
Ergebnisse der Assoziation in Betracht, sondern auch die
Begleitumstände der Traumerzählung, das Benehmen des
Tråumers vor und nach der Traumanalyse sowie alles, was
er ungefåhr gleichzeitig mit dem Traume — in derselben
Stunde der Behandlung — äußert und verrät. Nehmen wir
die Reizbarkeit der Pflegerin, ihre Beziehung auf den unglück-S.
als Beweismittel 321
bringenden Freitag u.a. hinzu, so werden wir das Urteil
bestätigen, der Traum enthalte das Geständnis, daf sie
damals, als sie es ableugnete, wirklich eingenickt sei und
darum fürchte, von ihrem Pflegekind weggeschickt zu werden.”Aber der Traum, welcher für die Dame eine praktische
Bedeutung hatte, regt bei uns das theoretische Interesse nach
zwei Richtungen an. Der Traum läuft zwar in eine Tröstung
aus, aber im wesentlichen bringt er ein für die Beziehung zu
ihrer Dame wichtiges Geständnis. Wie kommt der
Traum, der doch der Wunscherfüllung dienen soll, dazu, ein
Geständnis zu ersetzen, welches der Tråumerin nicht einmal
vorteilhaft wird? Sollen wir uns wirklich veranlaft finden,
außer den Wunsch- (und Angst-) Träumen auch Geständnis-
träume zuzugeben sowie Warnungstråume, Reflexionstråume,
Anpassungsträume u. dgl.?Ich bekenne nun, daß ich noch nicht ganz verstehe, warum
der Standpunkt, den meine Traumdeutung gegen solche Ver-
suchungen einnimmt, bei so vielen und darunter namhaften
Psychoanalytikern Bedenken findet. Die Unterscheidung von
Wunsch-, Gestindnis-, Warnungs- und Anpassungstriumen
u. dgl. scheint mir nicht viel sinnreicher, als die notgedrungen
zugelassene Differenzierung ärztlicher Spezialisten in Frauen-,
Kinder- und Zahnärzte. Ich nehme mir die Freiheit, die Er-
órterungen der Traumdeutung über diesen Punkt hier in
äußerster Kürze zu wiederholen.*Als Schlafstörer und Traumbildner können die sogenannten
»lagesreste^ fungieren, affektbesetzte Denkvorgänge des
Traumtages, welche der allgemeinen Schlaferniedrigung einiger-
maßen widerstanden haben. Diese Tagesreste deckt man auf,2) Die Pflegerin gestand übrigens einige Tage später einer dritten
Person ihr Einschlafen an jenem Abend zu und rechtfertigte so
die Deutung der Dame.3) Ges. Schriften, Bd. II, 9, 474 ff.
Freud, Kleine Schriften zur Sexualtheorie 21
S.
322 Ein Traum
indem man den manifesten Traum auf die latenten Traum-
gedanken zurückführt; sie sind Stücke dieser letzteren, gehören
also den — bewußt oder unbewuft gebliebenen — Tätigkeiten
des Wachens an, die sich in die Zeit des Schlafens fortsetzen
mögen. Entsprechend der Mannigfaltigkeit der Denkvorgånge
im Bewuften und Vorbewuften haben diese Tagesreste die
vielfachsten und verschiedenartigsten Bedeutungen, es können
unerledigte Wiinsche oder Befiirchtungen sein, ebenso Vor-
sitze, Uberlegungen, Warnungen, Anpassungsversuche an
bevorstehende Aufgaben usw. Insofern muß ja die in Rede
stehende Charakteristik der Träume nach ihrem durch Deutung
erkannten Inhalt gerechtfertigt erscheinen. Aber diese Tages-
reste sind noch nicht der Traum, vielmehr fehlt ihnen das
Wesentliche, was den Traum ausmacht. Sie sind fiir sich allein
nicht imstande, einen Traum zu bilden. Streng genommen
sind sie nur psychisches Material fiir die Traumarbeit, wie die
zufällig vorhandenen Sinnes- und Leibreize oder eingeführte
experimentelle Bedingungen deren somatisches Material bilden.
Ihnen die Hauptrolle bei der Traumbildung zuschreiben, heißt
nichts anderes als den voranalytischen Irrtum an neuer Stelle
wiederholen, Träume erklärten sich durch den Nachweis eines
verdorbenen Magens oder einer gedrückten Hautstelle. So zäh-
lebig sind wissenschaftliche Irrtümer und so gern bereit, sich,
wenn abgewiesen, unter neuen Masken wieder einzuschleichen.Soweit wir den Sachverhalt durchschaut haben, müssen wir
sagen, der wesentliche Faktor der Traumbildung ist ein unbe-
wufter Wunsch, in der Regel ein infantiler, jetzt verdrängter,
welcher sich in jenem somatischen oder psychischen Material
(also auch in den Tagesresten) zum Ausdruck bringen kann und
ihnen darum eine Kraft leiht, so daß sie auch während der
nächtlichen Denkpause zum Bewußtsein durchdringen können.
Dieses unbewußten Wunsches Erfüllung ist jedesmal der
Traum, mag er sonst was immer enthalten, Warnung, Über-S.
als Beweismittel 323
legung, Geständnis und was sonst aus dem reichen Inhalt des
vorbewufiten Wachlebens unerledigt in die Nacht hineinragt.
Dieser unbewufte Wunsch ist es, welcher der Traumarbeit
ihren eigentümlichen Charakter gibt als einer unbewuften
Bearbeitung eines vorbewuften Materials. Der Psychoana-
lytiker kann den Traum nur charakterisieren als Ergebnis der
Traumarbeit; die latenten Traumgedanken kann er nicht dem
Traume zurechnen, sondern dem vorbewuften Nachdenken,
wenngleich er diese Gedanken erst aus der Deutung des
Traumes erfahren hat. (Die sekundäre Bearbeitung durch die
bewufte Instanz ist hiebei der Traumarbeit zugezählt; es
wird an dieser Auffassung nichts geändert, wenn man sie ab-
sondert. Man müßte dann sagen: der Traum im psycho-
analytischen Sinne umfaßt die eigentliche Traumarbeit und
die sekundäre Bearbeitung ihres Ergebnisses.) Der Schluß aus
diesen Erwägungen lautet, daß man den Wunscherfüllungs-
charakter des Traumes nicht in einen Rang mit dessen Cha-
rakter als Warnung, Geständnis, Lösungsversuch usw. ver-
setzen darf, ohne den Gesichtspunkt der psychischen Tiefen-
dimension, also den Standpunkt der Psychoanalyse, zu ver-
leugnen.Kehren wir nun zum Traume der Pflegerin zurück, um an
ihm den Tiefencharakter der Wunscherfüllung nachzuweisen.
Wir sind darauf vorbereitet, daß seine Deutung durch die
Dame keine vollständige ist. Es erübrigen die Partien des
Trauminhaltes, denen sie nicht gerecht werden konnte. Sie
leidet überdies an einer Zwangsneurose, welche nach meinen
Eindrücken das Verständnis der Traumsymbole erheblich er-
schwert, ähnlich wie die Dementia praecox es erleichtert.Unsere Kenntnis der Traumsymbolik gestattet uns aber, un-
gedeutete Stellen dieses Traumes zu verstehen und hinter den
bereits gedeuteten einen tieferen Sinn zu erraten. Es muß uns
auffallen, daß einiges Material, welches die Pflegerin ver-nº
S.
324 Ein Traum
wendet, aus dem Komplex des Gebärens, Kinderhabens
kommt. Das große Wasser (der Rhein, der Kanal, in dem
der Walfisch gesehen wurde) ist wohl das Wasser, aus dem
die Kinder kommen. Sie kommt ja auch dahin „auf der Suche
nach dem Kinde“. Die Jonasmythe hinter der Determinierung
dieses Wassers, die Frage, wie Jonas (das Kind) durch die
enge Spalte kommt, gehören demselben Zusammenhang an.
Die Pflegerin, die sich aus Kränkung in den Rhein gestürzt
hat, ins Wasser gegangen ist, hat ja auch in ihrer Verzweiflung
am Leben eine sexualsymbolische Tröstung an der Todesart
gefunden. Der enge Steg, auf dem ihr die Erscheinung ent-
gegentritt, ist sehr wahrscheinlich gleichfalls als ein Genital-
symbol zu deuten, wenngleich ich gestehen muß, daß dessen
genauere Erkenntnis noch aussteht.Der Wunsch: ich will ein Kind haben, scheint also der
Traumbildner aus dem Unbewußten zu sein, und kein anderer
scheint besser geeignet, die Pflegerin über die peinliche Situa-
tion der Realität zu trösten. „Man wird mich wegschicken, ich
werde mein Pflegekind verlieren. Was liegt daran? Ich werde
mir dafür ein eigenes, leibliches verschaffen." Vielleicht gehört
die ungedeutete Stelle, daß sie alle Leute auf der Straße
nach dem Kinde fragt, in diesen Zusammenhang; sie wire
dann zu übersetzen: und müßte ich mich auf der Straße aus-
bieten, ich werde mir das Kind zu schaffen wissen. Ein bisher
verdeckter Trotz der Tråumerin wird hier plötzlich laut, und
zu diesem paßt erst das Geständnis: „Also gut, ich habe die
Augen zugemacht und meine Verliflichkeit als Pflegerin kom-
promittiert, ich werde jetzt die Stelle verlieren. Werde ich so
dumm sein, ins Wasser zu gehen wie die X? Nein, ich bleibe
überhaupt nicht Pflegerin, ich will heiraten, Weib sein, ein
leibliches Kind haben, daran lasse ich mich nicht hindern.“
Diese Übersetzung rechtfertigt sich durch die Erwägung, daß
»Kinderhaben* wohl der infantile Ausdruck des WunschesS.
als Beweismittel 325
nach dem Sexualverkehr ist, wie es auch vor dem Bewußtsein
zum euphemistischen Ausdruck dieses anstößigen Wunsches
gewählt werden kann.Das für die Träumerin nachteilige Geständnis, zu dem wohl
im Wachleben eine gewisse Neigung vorhanden war, ist also
im Traume ermöglicht worden, indem ein latenter Charakter-
zug der Pflegerin sich desselben zur Herstellung einer in-
fantilen Wunscherfüllung bediente. Wir dürfen vermuten, daß
dieser Charakter in innigem Zusammenhang — zeitlichem wie
inhaltlichem — mit dem Wunsche nach Kind und Sexual-
genuß steht.Eine weitere Erkundigung bei der Dame, der ich das erste
Stück dieser Traumdeutung danke, förderte folgende uner-
wartete Aufschlüsse über die Lebensschicksale der Pflegerin
zutage. Sie wollte, ehe sie Pflegerin wurde, einen Mann
heiraten, der sich eifrig um sie bemühte, verzichtete aber
darauf infolge des Einspruches einer Tante, zu welcher sie
in einem merkwürdigen, aus Abhängigkeit und Trotz ge-
mischten Verhältnis steht. Diese Tante, die ihr das Heiraten
versagte, ist selbst Oberin eines Krankenpflegerordens; die
Triumerin sah in ihr immer ihr Vorbild, sie ist durch Erb-
riicksichten an sie gebunden, widersetzte sich ihr aber, indem
sie nicht in den Orden eintrat, den ihr die Tante bestimmt
hatte. Der Trotz, der sich im Traume verraten, gilt also der
Tante. Wir haben diesem Charakterzug analerotische Her-
kunft zugesprochen und nehmen hinzu, daß es Geldinteressen
sind, welche sie von der Tante abhängig machen, denken auch
daran, daß das Kind die anale Geburtstheorie bevorzugt.Das Moment dieses Kindertrotzes wird uns vielleicht einen
innigeren Zusammenhang zwischen den ersten und der letzten
Szene des Traumes annehmen lassen. Die ehemalige Ver-
kåuferin von Efwaren im Traume ist zunächst die andere
Dienerin der Dame, die im Moment der Frage: „Haben SieS.
326 Traum und
mich gesehen?“ mit dem Nachtmahl ins Zimmer trat. Aber
es scheint, daß sie überhaupt die Stelle der feindlichen Kon-
kurrentin zu übernehmen bestimmt ist. Sie wird als Pflege-
person herabgesetzt, indem sie sich fiir das verlorene Kind gar
nicht interessiert, sondern von ihren eigenen Angelegenheiten
Antwort gibt. Auf sie wird also die Gleichgiltigkeit gegen
das Pflegekind verschoben, zu der sich die Tråumerin ge-
wendet hat. Ihr wird die ungliickliche Ehe und Scheidung an-
gedichtet, welche die Tråumerin in ihren geheimsten Wiinschen
selbst fürchten müßte. Wir wissen aber, daß es die Tante ist,
welche die Tråumerin von ihrem Verlobten geschieden hat.
So mag die „Verkäuferin von E&waren“ (was einer infantilen
symbolischen Bedeutung nicht zu entbehren braucht) zur Re-
prisentantin der, übrigens nicht viel älteren, Tante-Oberin
werden, welche bei unserer Träumerin die hergebrachte Rolle
der Mutter-Konkurrentin eingenommen hat. Eine gute Be-
stätigung dieser Deutung liegt in dem Umstand, daß der im
Traume „bekannte“ Ort, an dem sie die in Rede stehende
Person vor ihrer Tür findet, der Ort ist, wo eben diese Tante
als Oberin lebt.Infolge der Distanz, welche den Analysierenden vom Ob-
jekt der Analyse trennt, muß es ratsam werden, nicht weiter
in das Gewebe dieses Traumes einzudringen. Man darf viel-
leicht sagen, auch soweit er der Deutung zuginglich wurde,
zeigte er sich reich an Beståtigungen wie an neuen Problemen.TRAUM UND TELEPATHIE
(1922)Eine Ankündigung wie die meinige muß in diesen Zeiten,
die so voll sind von Interesse für die sogenannt okkulten
Phänomene, ganz bestimmte Erwartungen erwecken. Ich be-
freud-1931-sexualtheorie
316
–326