Die Abwehr-Neuro-psychosen 1894-001/1894
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    3. Die Abwehr-Neuropsychosen.

    Versuch einer psychologischen Theorie der acquirirten Hysterie, vieler
    Phobien und Zwangsvorstellungen und gewisser hallucinatorischer
    Psychosen.

    Von Dr. Sigm. Freud, Privatdocent in Wien.

    Bei eingehendem Studium mehrerer mit Phobien und Zwangsvorstellungen
    behafteter Nervöser hat sich mir ein Erklämngsversuch dieser Symptome auf-
    gedrängt, der mir dann gestattete, die Herkunft solcher krankhaiter Vorstellungen
    in neuen, anderen Fällen glücklich zu errathen, und den ich darum der Mit-
    theilung und weiteren Prüfung würdig erachte. Gleichzeitig mit dieser „psycho-
    logischen Theorie der Phobien und Zwangsvorstellungen
    “ ergab sich
    aus der Beobachtung der Kranken ein Beitrag zur Theorie der Hysterie oder

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    vielmehr eine Abänderung derselben, welche einem wichtigen, der Hysterie wie
    den genannten Neurosen gemeinsamen Charakter Rechnung zu tragen scheint.
    Ferner hatte ich Gelegenheit, in den psychologischen Mechanismus einer Form
    von unzweifelhaft psychischer Erkrankung Einsicht zu nehmen, und fand dabei,
    dass die von mir versuchte Betrachtungsweise eine einsichtliche Verknüpfung
    zwischen diesen Psychosen und den beiden angeführten Neurosen herstellt. Eine
    Hilfshypothese, deren ich mich in allen drei Fällen bedient habe, werde ich
    zum Schlusse dieses Aufsatzes hervorheben.

    I.

    Ich beginne mit jener Abänderung, die mir an der Theorie der hysterischen
    Neurose erforderlich scheint:

    Dass der Symptomcomplex der Hysterie, soweit er bis jetzt ein Verständniss
    zulässt, die Annahme einer Spaltung des Bewusstseins mit Bildung separater
    psychischer Gruppen rechtfertigt, dürfte seit den schönen Arbeiten von P. JANET, 
    J. BREUER u. A. bereits zur allgemeinen Anerkennung gelangt sein. Weniger
    geklärt sind die Meinungen über die Herkunft dieser Bewusstseinsspaltung und
    über die Rolle, welche dieser Charakter im Gefüge der hysterischen Neurose spielt.

    Nach der Lehre von JANET1 ist die Bewusstseinsspaltung ein primärer Zug
    der hysterischen Veränderung. Sie beruht auf einer angeborenen Schwäche der
    Fähigkeit zur psychischen Synthese, auf der Enge des „Bewusstseinsfeldes“
    (champ du conscience), welche als psychisches Stigma die Degeneration der
    hysterischen Individuen bezeugt.

    Im Gegensatz zur Anschauung JANET'S, welche mir die mannigfaltigsten
    Einwände zuzulassen scheint, steht jene, die J. BREUER in unserer gemeinsamen
    Mittheilung2 vertreten hat. Nach BREUER ist „Grundlage und Bedingung“ der
    Hysterie das Vorkommen von eigenthümlichen traumartigen Bewusstseinszuständen
    mit eingeschränkter Associationsfähigkeit, für welche er den Namen „hypnoide
    Zustände“ vorschlägt. Die Bewusstseinsspaltung ist dann eine secundäre, er-
    worbene; sie kommt dadurch zu Stande, dass die in hypnoiden Zuständen auf-
    getauchten Vorstellungen vom associativem Verkehr mit dem übrigen Bewusst-
    seinsinhalt abgeschnitten sind.

    Ich kann nun den Nachweis zweier weiterer extremer Formen von Hysterie
    erbringen, bei welchen die Bewusstseinsspaltung unmöglich als eine primäre im
    Sinne von JANET gedeutet werden kann. Bei der ersteren dieser Formen gelang
    es mir wiederholt zu zeigen, dass die Spaltung des Bewusstseinsinhaltes
    die Folge eines Willensactes des Kranken ist
    , d. h. durch eine Willens-
    anstrengung eingeleitet wird, deren Motiv man angeben kann. Ich behaupte
    damit natürlich nicht, dass der Kranke eine Spaltung seines Bewusstseins herbei- 

    –––

    1 Etat mental des hystériques. Paris 1893 und 1894. – Quelques définitions récentes
    de l‘hystérie. Arch. de Neurol. 1898. XXXV-VI.

    2 Ueber den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene. Dieses Centralblatt.
    1893. Nr. 1 u. 2.

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    zuführen beabsichtigt; die Absicht des Kranken ist eine andere, sie erreicht aber
    nicht ihr Ziel, sondern ruft eine Spaltung des Bewusstseins hervor.

    Bei der dritten Form der Hysterie, die wir durch psychische Analyse von
    intelligenten Kranken erwiesen haben, spielt die Bewusstseinsspaltung nur eine
    geringfügige, vielleicht überhaupt keine Rolle. Es sind dies jene Fälle, in denen
    bloss die Reaction auf traumatische Reize unterblieben ist, die dann auch durch
    „Abreagiren“1 erledigt und geheilt werden, die reinen Retentionshysterien.

    Für die Anknüpfung an die Phobien und Zwangsvorstellnngen habe ich es
    hier nur mit der zweiten Form der Hysterie zu thun, die ich aus bald ersicht-
    lichen Gründen als Abwehrhysterie bezeichnen und durch diesen Namen von
    den Hypnoid- und Retentionshysterien sondern will. Ich kann meine Fälle
    von Abwehrhysterie auch vorläufig als „acquirirte“ Hysterie aufführen, weil bei
    ihnen weder von schwerer hereditärer Belastung, noch von eigener degenerativer
    Verkümmerung die Rede war.

    Bei den von mir analysirten Patienten hatte nämlich psychische Gesundheit
    bis zu dem Moment bestanden, in dem ein Fall von Unverträglichkeit in
    ihrem Vorstellungsleben vorfiel
    , d. h. bis ein Erlebniss, eine Vorstellung,
    Empfindung an ihr Ich herantrat, welches einen so peinlichen Adect erweckte,
    dass die Person beschloss, daran zu vergessen, weil sie sich nicht die Kraft zu-
    traute, den Widerspruch dieser unverträglichen Vorstellung mit ihrem Ich durch
    Denkarbeit zu lösen.

    Solche unverträgliche Vorstellungen erwachsen bei weiblichen Personen zu-
    meist auf dem Boden des sexualen Erlebens und Empfindens, und die Erkrankten
    erinnern sich auch mit aller wünschenswerthen Bestimmtheit ihrer Bemühungen
    zur Abwehr, ihrer Absicht das Ding „fortzuschieben“ , nicht daran zu denken,
    es zu unterdrücken. Hierher gehörige Beispiele aus meiner Erfahrung, deren
    Anzahl ich mühelos vermehren könnte, sind etwa: Der Fall eines jungen Mädchens,
    welches es sich verühelt, während der Pflege ihres kranken Vaters an den jungen
    Mann zu denken, der ihr einen leisen erotischen Eindruck gemacht hat; der
    Fall einer Erzieherin, die sich in ihren Herrn verliebt hatte, und die beschloss,
    sich diese Neigung aus dem Sinn zu schlagen, weil sie ihr mit ihrem Stolze
    unverträglich schien u. dergl. mehr.2

    –––
    1 Vgl. unsere gemeinsame Mittheilung.

    2 Diese Beispiele sind der noch nicht veröifentlichten, ausführlichen Arbeit von Breuer
    und mir über den psychischen Mechanismus der Hysterie entnommen.

    (Schluss folgt.)