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III.
DIE DISPOSITION ZUR ZWANGSNEUROSE. り
EIN BEITRAG ZUM PROBLEM DER NEUROSENWAHL.
Das Problem, warum und wieso ein Mensch an einer
Neurose erkranken kann, gehört gewiß zu jenen, die von der
Psychoanalyse beantwortet werden sollen. Es ist aber wahr-
scheinlich, daß diese Antwort erst über ein anderes und spe-
zielleres wird gegeben werden können, über das Problem,
warum diese und jene Person gerade an der einen bestimmten
Neurose, und an keiner anderen, erkranken muß, Dies ist
das Problem der Neurosenwahl.Was wissen wir bis jetzt zu diesem Problem? Eigentlich
ist hier nur ein einziger allgemeiner Satz gesichert. Wir
unterscheiden die fiir die Neurosen in Betracht kommenden
Krankheitsursachen in solche, die der Mensch ins Leben
mitbringt, und solche, die das Leben an ihn heranbringt,
konstitutionelle und akzidentelle, durch deren Zusammen-
wirken erst in der Regel die Krankheitsverursachung her-
gestellt wird. Nun besagt der eben angekündigte Satz, daß
die Gründe für die Entscheidung der Neurosenwahl durch-
wegs von der ersteren Art sind, also von der Natur der
Dispositionen, und unabhángig von den pathogen wirkenden
Erlebnissen.Worin suchen wir die Herkunft dieser, Dispositionen?
Wir sind aufmerksam darauf geworden, daß die in Betracht*) Vortrag auf dem psychoanalytischen Kongreß zu München 1913.
(Intern. Zeitschr. für ärztl. Psychoanalyse, I, 1913.)Freud, Neurosenlehre. IV. 8
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114 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.
kommenden psychischen Funktionen — vor allem die Sexual-
funktion, aber ebenso verschiedene wichtige Ichfunktionen —
eine lange und komplizierte Entwicklung durchzumachen
haben, bis sie zu dem fiir den normalen Erwachsenen charak-
teristischen Zustand gelangen. Wir nehmen nun an, daß diese
Entwicklungen nicht immer so tadellos vollzogen werden,
daß die gesamte Funktion der fortschrittlichen Veränderung
unterliege. Wo ein Stück derselben die vorige Stufe festhålt,
da ergibt sich eine sogenannte ,,Fixierungsstelle%, zu welcher
die Funktion im Falle der Erkrankung durch åuBerliche
Stórung regredieren kann.Unsere Dispositionen sind also Entwicklungshemmungen.
Die Analogie mit den Tatsachen der allgemeinen Pathologie
anderer Krankheiten bestárkt uns in dieser Auffassung. Bei
der Frage, welche Faktoren solche Stórungen der Entwick-
lung hervorrufen kónnen, macht aber die psychoanalytische
Arbeit Halt und iiberlåBt dies Problem der biologischen
Forschung.*) «Mit Hilfe dieser Voraussetzungen haben wir uns bereits
vor einigen Jahren an das Problem der Neurosenwahl heran-
gewagt. Unsere Arbeitsrichtung, welche dahin geht, die nor-
malen Verhältnisse aus ihren Störungen zu erraten, hat uns
dazu geführt, einen ganz besonderen und unerwarteten An-
griffspunkt zu wählen, Die Reihenfolge, in welcher die Haupt-
formen der Psychoneurosen gewöhnlich aufgeführt werden:
Hysterie, Zwangsneurose, Paranoia, Dementia praecox ent-
spricht (wenn auch nicht völlig genau) der Zeitfolge, in der*) Seitdem die Arbeiten von W. FlieB die Bedeutung bestimmter
ZeitgróBen für die Biologie aufgedeckt haben, ist es denkbar geworden,
daß sich Entwicklungsstórung auf zeitliche Abänderung von Entwicklungs-
schiiben zuriiekfiihrt. 5S.
111, DIE DISPOSITION ZUR ZWANGSNEUROSE. 115
diese Affektionen im Leben hervorbrechen. Die hysterischen
Krankheitsformen können schon in der ersten Kindheit beob-
achtet werden, die Zwangsneurose offenbart ihre ersten Sym-
ptome gewöhnlich in der zweiten Periode der Kindheit (von
sechs bis acht Jahren an); die beiden anderen, von mir als
Paraphrenie zusammengefaBten Psychoneurosen zeigen sich
erst nach der Pubertät und im Alter der Reife; Diese zu-
letzt auftretenden Affektionen haben sich nun unserer For-
schung nach den in die Neurosenwahl auslaufenden Dispo-
sitionen zuerst zugänglich erwiesen, Die ihnen beiden eigen-
iümlichen Charaktere des Größenwahns, der Abwendung von
der Welt der Objekte und der Erschwerung der Übertragung
haben uns zum Schlusse genötigt, daß deren disponierende
Fixierung in einem ‚Stadium der Libidoentwicklung vor der
Herstellung der Objektwahl, also in der Phase des Auto-
crotismus und des Narzißmus zu suchen ist. Diese so spät
auftretenden Erkrankungsformen gehen also auf sehr früh-
zeitige Hemmungen und Fixierungen zurück,Demnach würden wir darauf hingewiesen, die Disposition
für Hysterie und Zwangsneurose, die beiden eigentlichen Über-
tragungsneurosen mit frühzeitiger Symptombildung, in den
jüngeren Phasen der Libidoentwicklung zu vermuten. Allein
worin wäre hier die Entwicklungshemmung zu finden und
vor allem, welches wäre der Phasenunterschied, der die Dis-
position zur Zwangsneurose im Gegensatz zur Hysterie be-
gründen sollte? Darüber war lange nichts zu erfahren, und
meine früher unternommenen Versuche, diese beiden Dispo-
sitionen zu erraten, z. B. daß die Hysterie durch Passivität,
die Zwangsneurose durch Aktivität im infantilen Erleben be-
dingt sein sollte, mußten bald als verfehlt abgewiesen
werden, : E.g*
S.
116 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.
Ich kehre nun auf den Boden der klinischen Hinzel-
beobachtung zurück. Ich habe lange Zeit hindurch eine Kranke
studiert, deren Neurose eine ungewöhnliche Wandlung durch-
gemacht hatte. Dieselbe begann nach einem traumatischen
Erlebnis als glatte Angsthysterie und behielt diesen Charakter
durch einige Jahre bei. Eines Tages aber verwandelte sie
sich plötzlich in eine Zwangsneurose von der schwersten Art.
Ein solcher Fall mußte nach mehr als einer Richtung be-
deutsam werden. Einerseits konnte er vielleicht den Wert
eines bilinguen Dokumentes beanspruchen und zeigen, wie
ein identischer Inhalt von den beiden Neurosen in verschie-
denen Sprachen ausgedriickt wird. Anderseits drohte er,
unserer Theorie der Disposition durch Entwicklungshemmung
überhaupt zu widersprechen, wenn man sich nicht zur An-
nahme entschließen wollte, daß eine Person auch mehr als
eine einzige schwache Stelle in ihrer Libidoentwicklung mit-
bringen könne, Ich sagte mir, daß man kein Recht habe, diese
letztere Möglichkeit abzuweisen, war aber auf das Ver-
ständnis dieses Krankheitsfalles sehr gespannt,Als dieses im Laufe der Analyse kam, mußte ich sehen,
daß die Sachlage ganz anders war, als ich sie mir vorgestellt
hatte. Die Zwangsneurose war nicht eine weitere Reaktion
anf das nämliche Trauma, welches zuerst die Angsthysterie
hervorgerufen hatte, sondern auf ein zweites Erlebnis, welches
das erste vollig entwertet hatte. (Also, eine — allerdings
noch diskutierbare — Ausnahme von unserem Satze, der die
Unabhängigkeit der Neurosenwahl vom Erleben behauptet.)Ich kann leider — aus bekannten Motiven — auf die
Krankengeschichte des Falles nicht so weit eingehen, wie
ich gern möchte, sondern muß mich auf nachstehende Mit-
teilungen beschränken. Die Patientin war bis zu ihrer Er-S.
III. DIE DISPOSITION ZUR ZWANGSNEUROSE, 117
krankung eine glückliche, fast völlig befriedigte Frau ge-
wesen. Sie ‚wünschte sich Kinder aus Motiven infantiler
Wunschfixierung und erkrankte, als sie erfuhr, daß sie von
ihrem ausschlieBend geliebten Manne keine Kinder bekom-
men kønne. Die Angsthysterie, mit welcher sie auf diese
Versagung reagierte, entsprach, wie sie bald selbst verstehen
lernte, der Abweisung von Versuchungsphantasien, in denen
sich der festgehaltene Wunsch nach einem Kinde dureh-
setzte. Sie tat nun alles dazu, um ihren Mann nicht er-
raten zu lassen, daß sic infolge der durch ihn determinierten
Versagung erkrankt sei. Aber ich habe nicht ohne gute
Gründe behauptet, daß jeder Mensch in seinem eigenen Un-
bewuften ein Instrument besitzt, mit dem er die Äußerungen
des UnbewuBten beim anderen zu deuten vermag; der Mann
verstand ohne Geståndnis oder Erklårung, was die Angst
seiner Frau bedeute, krånkte sich darüber, ohne es zu zeigen,
und reagierte nun seinerseits neurotisch, indem er — zum
erstenmal — beim Eheverkehr versagte. Unmittelbar darauf
reiste er ab, die Frau hielt ihn fiir dauernd impotent ge-
worden und produzierte die ersten Zwangssymptome an dem
Tage vor seiner erwarteten Riickkunft.Der Inhalt ihrer Zwangsneurose bestand in einem pein-
lichen Wasch- und Reinlichkeitszwang und in höchst cner-
gischen Schutzmafregeln gegen böse Schädigungen, welche
andere von ihr zu befürchten hätten, also in Reaktions-
bildungen gegen analerotische und sadistische Re-
gungen. In solchen Formen mußte sich ihr Sexualbediirfnis
äußern, nachdem ihr Genitalleben durch die Impotenz des
får 816 einzigen Mannes eine volle Entwertung erfahren hatte.An diesen Punkt hat das kleine, von mir neugebildete
Stückchen Theorie angekniipft, welches natürlich nur schein-S.
118 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.
bar auf dieser einen Beobachtung ruht, in Wirklichkeit eine
große Summe früherer Eindrücke zusammenfaBt, die aber
erst nach dieser letzten Erfahrung fähig wurden, eine Ein-
sicht zu ergeben. Ich sagte mir, daß mein Entwicklungs-
schema der libidinôsen Funktion einer neuen Einschaltung
bedarf, Ich hatte zuerst nur unterschieden die Phase des
Autoerotismus, in welcher die einzelnen Partialtriebe, jeder
für sich, ihre Lustbefriedigung am eigenen Leibe suchen,
und dann die Zusammenfassung aller Partialtriebe zur Objekt-
wahl unter dem Primat der Genitalien im Dienste der Fort-
pflanzung. Die Analyse der Paraphrenien hat uns wie be-
kannt genötigt, dazwischen ein Stadium des Narzißmus ein-
zuschieben, in dem die Objektwahl bereits erfolgt ist, aber
das Objekt noch mit dem eigenen Ich zusammenfillt. Und
nun sehen wir die Notwendigkeit ein, ein weiteres Stadium
vor der Endgestaltung gelten zu lassen, in dem die Partial-
triebe bereits zur Objektwahl zusammengefaßt sind, das
Objekt sich der eigenen Person schon als eine fremde gegen-
überstellt, aber das Primat der Genitalzonen noch
nicht aufgerichtet ist. Die Partialtriebe, welche diese
prågenitale Organisation des Sexuallebens beherrschen,
sind vielmehr die analerotischen und die sadistischen,Ich weiB, daB jede solche Aufstellung zunåchst befrem-
dend klingt. Erst durch die Aufdeckung ihrer Beziehungen
zu unserem bisherigen Wissen wird sie uns vertraut, und am
Ende ist ihr Schicksal häufig, daß sie als eine geringfügige,
långst geahnte Neuerung erkannt wird. Wenden wir uns also
mit åhnlichen Erwartungen zur Diskussion der ,,prågenitalen
Sexualordnung*.a) Es ist bereits vielen Beobachtern aufgefallen und zu-
letzt mit besonderer Schürfe von E. Jones hervorgehobenS.
III. DIE DISPOSITION ZUR ZWANGSNEUROSE. 119
worden, welche außerordentliche Rolle die Regungen von Haß
und Analerotik in der Symptomatologie der Zwangsneurose
spielen.*) Dies leitet sich nun unmittelbar aus unserer Auf-
stellung ab, wenn es diese Partialtriebe sind, welche in der
Neurose die Vertretung der Genitaltriebe wieder übernom-
men haben, deren Vorgånger sie in der Entwicklung waren.Hier fügt sich nun das bisher zurickgehalteae Stück
aus der Krankengeschichte unseres Falles ein. Das Sexual-
leben der Patientin begann im zartesten Kindesalter mit
sadistischen Schlagephantasien. Nach deren Unterdrückung.
setzte eine ungewöhnlich lange Latenzzeit ein, in welcher das
Mädchen eine hochreichende moralische Entwicklung durch-
machte, ohne zum weiblichen Sexualempfinden zu erwachen.
Mit der in jungen Jahren geschlossenen Ehe begann eine
Periode normaler Sexualbetåtigung als glückliche Frau, die
durch eine Reihe von Jahren anhielt, bis die erste groBe Ver-
sagung die hysterische Neurose hrachte. Mit der darauf fol-
genden Entwertung des Genitallebens sank ihr Sexualleben,
wie erwähnt, auf die infantile Stufe des Sadismus zurück,Es ist nicht schwer, den Charakter zu bestimmen, in
welchem sich dieser Fall von Zwangsneurose von den häu-
figeren anderen unterscheidet, die in jüngeren Jahren be-
ginnen und von da an chronisch mit mehr oder weniger
auffålligen Exazerbationen verlaufen. In diesen anderen Fållen
wird die Sexualorganisation, welche die Disposition zur
Zwangsneurose enthält, einmal hergestellt, nie wieder völlig
überwunden; in unserem Falle ist sie zuerst durch die höhere
Entwicklungsstufe abgelöst und dann durch Regression von
dieser her wieder aktiviert worden,*) E. Jones, Haß und Analerotik in der Zwangsneurose. (Intern.
Zeitschr. fir årztl. Psychoanalyse I, 1913, H. 5.)S.
120 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE, IV.
b) Wenn wir von unserer Aufstellung aus den Anschluß
an biologische Zusammenhänge suchen, dürfen wir nicht ver-
gessen, daß der Gegensatz von männlich und weiblich, welcher
von der Fortpflanzungsfunktion eingeführt wird, auf der
Stufe der prägenitalen Objektwahl noch nicht vorhanden sein
kann, An seiner Statt finden wir den Gegensatz von Stre-
bungen mit aktivem und passivem Ziel, der sich späterhin
mit dem Gegensatz der Geschlechter verlöten wird. Die
Aktivität wird vom gemeinen Bemächtigungstrieb beigestellt,
den wir eben Sadismus heißen, wenn wir ihn im Dienste der
Sexualfunktion finden; er hat auch im vollentwickelten nor-
malen Sexualleben wichtige Helferdienste zu verrichten. Die
passive Strömung wird von der Analerotik gespeist, deren
erogene Zone der alten, undifferenzierten Kloake entspricht.
Die Betonung dieser Analerotik auf der prägenitalen Orga-
nisationsstufe wird beim Manne eine bedeutsame Prädispo-
sition zur Homosexualität hinterlassen, wenn die nächste
Stufe der Sexualfunktion, die des Primats der Genitalien,
erreicht wird, Der Aufbau dieser letzten Phase über der
vorigen und die dabei erfolgende Umarbeitung der Libido-
besetzungen bietet der analytischen Forschung die inter-
essantesten Aufgaben.Man kann der Meinung sein, daB man sich allen hier
in Betracht kommenden Schwierigkeiten und Komplikationen
entzieht, wenn man eine prågenitale Organisation des Sexual-
lebens verleugnet und das Sexualleben mit der Genital- und
Fortpflanzungsfunktion zusammenfallen, wie auch mit ihr
beginnen läßt. Von den Neurosen würde man dann mit Riick-
sicht auf die nicht mifverstündlichen Ergebnisse der ana-
lytischen Forschung aussagen, daß sie durch den Prozeß der
Sexualverdrángung dazu genötigt werden, sexuelle StrebungenS.
111. DIE DISPOSITION ZUR ZWANGSNEUROSE. 121
durch andere nicht sexuelle Triebe auszudrücken, die letz-
teren also kompensatorisch sexualisieren. Wenn man so ver-
fährt, hat man sich aber außerhalb der Psychoanalyse be-
geben. Man steht wieder dort, wo man sich vor der Psycho-
analyse befand, und muß auf das durch sic vermittelte Ver-
ständnis des Zusammenhanges zwischen Gesundheit, Per-
version und. Neurose verzichten. Die Psychoanalyse steht und
fällt mit der Anerkennung der sexuellen Partialtriebe, der
erogenen Zonen und der so gewonnenen Ausdehnung des Be-
griffes „Sexualfunktion“ im Gegensatz zur engeren „Genital-
funktion“. Ubrigens reicht die Beobachtung der normalen
Entwicklung des Kindes für sich allein hin, um eine solche
Versuchung zurückzuweisen.c) Auf dem Gebiete der Charakterentwicklung müssen
wir denselben Triebkräften begegnen, deren Spiel wir in den
Neurosen aufgedeckt haben. Eine scharfe theoretische Schei-
dung der beiden wird aber durch den einen Umstand geboten,
daß beim Charakter wegfällt, was dem Neurosenmechanismus
cigentümlich ist, das Mißglücken der Verdrängung und die
Wiederkehr des Verdrångten. Bei der Charakterbildung tritt
die Verdrängung entweder nicht in Aktion oder sie erreicht
glatt ihr Ziel, das Verdrängte durch Reaktionsbildungen und
Sublimierungen zu ersetzen. Darum sind die Prozesse der
Charakterbildung undurchsichtiger und der Analyse unzu-
gänglicher als die neurotischen.Gerade auf dem Gebiete der Charakterentwicklung be-
gegnet uns aber eine gute Analogie zu dem von uns be-
schriebenen Krankheitsfalle, also eine Bekräftigung der prä-
genitalen sadistisch-analerotischen Sexualorganisation. Es ist
bekannt und hat den Menschen viel Stoff zur Klage gegeben,
daß die Frauen häufig, nachdem sie ihre GenitalfunktionenS.
122 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV,
aufgegeben haben, ihren Charakter in eigentümlicher Weise
verändern. Sie werden zånkisch, quålerisch und rechthabe-
risch, kleinlich und geizig, zeigen also typische sadistische
und analerotische Ziige, die ihnen vorher in der Epoche der
Weiblichkeit nicht eigen waren. Lustspieldichter und Sati-
riker haben zu allen Zeiten ihre Invektiven gegen den „alten
Drachen“ gerichtet, zu dem das holde Mädchen, die liebende
Frau, die zårtliche Mutter geworden ist. Wir verstehen, daß
diese Charakterwandlung der Regression des Sexuallebens
auf die prågenitale sadistisch-analerotische Stufe entspricht,
in welcher wir die Disposition zur Zwangsneurose gefunden
haben. Sie wäre also nicht nur die Vorläuferin der genitalen
Phase, sondern oft genug auch ihre Nachfolge und Ablésung,
nachdem die Genitalien ihre Funktion erfüllt haben.Der Vergleich einer solchen Charakterverånderung mit
der Zwangsneurose ist sehr eindrucksvoll. In beiden Fällen
das Werk der Regression, aber im ersten Falle volle Regression
nach glatt vollzogener Verdrångung (oder Unterdriickung);
im Falle der Neurose: Konflikt, Bemiihung, die Regression
nicht gelten zu lassen, Reaktionsbildungen gegen dieselbe
und Symptombildungen durch Kompromisse von beiden Seiten
her, Spaltung der psychischen Tåtigkeiten in bewuBtseins-fåhige und unbewufte.
d) Unsere Aufstellung einer prågenitalen Sexualorgani-
sation ist nach zwei Richtungen hin unvollståndig. Sie nimmt
erstens kcine Riicksicht auf das Verhalten anderer Partial-
triebe, an dem manches der Erforschung und Erwähnung
wert wire, und begniigt sich, das auffållige Primat von Sa-
dismus und Analerotik herauszuheben. Besonders vom WiB-
trieb gewinnt man håufig den Eindruck, als ob er im Mecha-
nismus der Zwangsneurose den Sadismus geradezu ersetzenS.
111, DIE DISPOSITION ZUR ZWANGSNEUROSE , 123
könnte. Er ist ja im Grunde ein sublimierter, ins Intellek-
tuelle gehobener Sprófling des Bemåchtigungstriebes, seine
Zurückweisung in der Form des Zweifels nimmt im Bilde
der Zwangsneurose einen breiten Raum ein.Ein zweiter Mangel ist weit bedeutsamer. Wir wissen,
daß die entwicklungsgeschichtliche Disposition fiir eine Neu-
rose nur dann vollständig ist, wenn sie die Phase der Ich-
entwicklung, in welcher die Fixierung eintritt, ebenso be-
rücksichtigt wie die der Libidoentwicklung. Unsere Auf-
stellung hat sich aber nur auf die letztere bezogen, sie ent-
hält also nicht die ganze Kenntnis, die wir fordern dürfen.
Die Entwicklungsstadien der Ichtriebe sind uns bis jetzt sehr
wenig bekannt; ich weiß nur von einem vielversprechenden
Versuch von Ferenczi, sich diesen Fragen zu nähern.*)
Ich weiß nicht, ob es zu gewagt erscheint, wenn ich den
vorhandenen Spuren folgend die Annahme ausspreche, daß
ein zeitliches Voraneilen der Ichentwicklung vor der Libido-
entwicklung in die Disposition zur Zwangsneurose einzu-
tragen ist. Eine solche Voreiligkeit würde von den Ich-
trieben her zur Objektwahl nötigen, während die Sexual-
funktion ihre letzte Gestaltung noch nicht erreicht hat, und
somit eine Fixierung auf der Stufe der prägenitalen Sexual-
ordnung hinterlassen. Erwägt man, daß die Zwangsneurotiker
eine Übermoral entwickeln müssen, um ihre Objektliebe gegen
die hinter ihr lauernde Feindseligkeit zu verteidigen, so
wird man geneigt sein, ein gewisses. Maß von diesem Voran-
eilen der Ichentwicklung als typisch für die menschliche
Natur hinzustellen und die Fähigkeit zur Entstehung der
Moral in dem Umstand begründet zu finden, daß nach der*) Ferenczi: Entwicklungsstufen des Wirklichkeitssinnes. (Intern.
Zeitschr. für ärztl. Psychoanalyse, I, 1913, H. 2.)S.
124 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.
Entwicklung der Haß der Vorläufer der Liebe ist. Vielleicht
ist dies die Bedeutung eines Satzes von W. Stekel, der
mir seinerzeit unfaBbar erschien, daß der Haß und nicht die
Liebe die primäre Gefühlsbeziehung zwischen den Men-
schen sei.*)е) Für die Hysteric erübrigt nach dem Vorstehenden
die innige Beziehung zur letzten Phase der Libidoentwick-
Tung, die durch den Primat der Genitalien und die Einführung
der Fortpflanzungsfunktion ausgezeichnet ist. Dieser Erwerb
unterliegt in der hysterischen Neurose der Verdrüngung, mit
welcher eine Regression auf die prägenitale Stufe nicht ver-
bunden ist. Die Lücke in der Bestimmung der Disposition
infolge unserer Unkenntnis der Ichentwicklung ist hier noch
fühlbarer als bei der Zwangsneurose.Hingegen ist es nicht schwer nachzuweisen, daß eine
andere Regression auf ein früheres Niveau auch der Hysterie
zukommt, Die Sexualitát des weiblichen Kindes steht, wie
wir wissen, unter der Herrschaft eines mánnlichen Leit-
organes (der Klitoris) und benimmt sich vielfach wie die
des Knaben. Ein letzter Entwicklungsschub zur Zeit dor
Pubertät muB diese männliche Sexualität wegschaffen und
die von der Kloake abgeleitete Vagina zur herrschenden
erogenen Zone erheben. Es ist nun sehr gewöhnlich, daß in
der hysterischen Neurose der Frauen eine Reaktivierung die-
ser verdrängten männlichen Sexualität statt hat, gegen welche
sich dann der Abwehrkampf von seiten der ichgerechten
Triebe richtet. Doch erscheint es mir vorzeitig, an dieser
Stelle in die Diskussion der Probleme der hysterischen Dis-position einzutreten.
の Wi Stekel: Die Sprache des Traumes. 1911, S. 536,
Ein Beitrag zum Problem der Neurosenwahl
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