Die Disposition zur Zwangsneurose 1913-010/1922
  • S.

    II.
    DIE DISPOSITION ZUR ZWANGSNEUROSE. り

    EIN BEITRAG ZUM PROBLEM DER NEUROSENWAHL.

    Das Problem, warum und wieso ein Mensch an einer
    Neurose erkranken kann, gehört gewiß zu jenen, die von der
    Psychoanalyse beantwortet werden sollen. Es ist aber wahr-
    scheinlich, daß diese Antwort erst über ein anderes und spe-
    zielleres wird gegeben werden können, über das Problem,
    warum diese und jene Person gerade an der einen bestimmten
    Neurose, und an keiner anderen, erkranken muß. Dies ist
    das Problem der Neurosenwahl.

    Was wissen wir bis jetzt zu diesem Problem? Eigentlich
    ist hier nur ein einziger allgemeiner Satz gesichert. Wir
    unterscheiden die fiir die Neurosen in Betracht kommenden
    Krankheitsursachen in solche, die der Mensch ins Leben
    mitbringt, und solche, die das Leben an ihn heranbringt,
    konstitutionelle und akzidentelle, durch deren Zusammen-
    wirken erst in der Regel die Krankhcitsverursachung. her-
    gestellt wird. Nun besagt der eben angekündigte Satz, daß
    die Griinde fir die Entscheidung der Neurosenwahl durch-
    wegs von der ersteren Art sind, also von der Natur der
    Dispositionen, und unabhängig von den pathogen wirkenden
    Erlebnissen.

    Worin suchen wir die Herkunft dieser Dispositionen ?
    Wir sind aufmerksam. darauf geworden, daß die in Betracht

    *) Vortrag auf dem psychoanalytischen Kongreß zu München. 1913,
    (Intern. Zeitschr. für ärztl. Psychoanalyse, I, 1913.)

    Freud, Neurosenlehre. IV. ec)

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    114 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE, IV.

    kommenden psychischen Funktionen — vor allem die Sexual-
    funktion, aber ebenso verschiedene wichtige Ichfunktionen ー
    eine lange und komplizierte Entwicklung durchzumachen
    haben, bis sie zu dem für den normalen Erwachsenen charak-
    teristischen Zustand gelangen. Wir nehmen nun an, daf) diese
    Entwicklungen nicht immer so tadellos vollzogen werden,
    daß die gesamte Funktion der fortschrittlichen Veränderung
    unterliege. Wo ein Stück derselben die vorige Stufe festhålt,
    da ergibt sich eine sogenannte „Fixierungsstelle”, zu welcher
    die Funktion. im Falle der Erkrankung durch àuferliche
    Stórung regredieren kann.

    Unsere Dispositionen sind also Entwicklungshemmungen.

    Die Analogie mit den Tatsachen der allgemeinen Pathologie
    anderer Krankheiten bestärkt uns in dieser Auffassung. Bei
    der Frage, welche Faktoren solche Stórungen der Entwick-
    lung hervorrufen kónnen, macht aber die psychoanalytische
    Arbeit Halt und iiberlaBt dies Problem der biologischen
    Forschung.*)

    Mit Hilfe dieser Voraussetzungen haben wir uns bereits
    vor einigen Jahren an das Problem der Neurosenwahl heran-
    gewagt. Unsere Arbeitsrichtung, welche dahin geht, die nor-
    malen Verhältnisse aus ihren Störungen zu erraten, hat uns
    dazu geführt, einen ganz besonderen und unerwarteten An-
    griffspunkt zu wählen. Die Reihenfolge, in welcher die Haupt-
    formen der Psychoneurosen gewöhnlich aufgeführt werden:
    Hysterie, Zwangsneurose, Paranoia, Dementia praecox ent-

    spricht (wenn auch nicht völlig genau) der Zeitfolge, in der

    ち Seitdem die Arbeiten von W. Flie die Bedeutung bestimmter
    ZeitgróBen für die Biologie aufgedeckt haben, ist es denkbar geworden,
    daß sich Entwicklungsstórung auf zeitliche Abünderung von Entwicklungs-
    schüben zurückführt.

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    111, DIE DISPOSITION ZUR ZWANGSNEUROSE. 115

    diese Affektionen im Leben hervorbrechen. Die hysterischen
    Krankheitsformen können schon in der ersten Kindheit beob-
    achtet werden, die Zwangsneurose offenbart ihre ersten Sym-
    ptome gewöhnlich in der zweiten Periode der Kindheit (von
    sechs bis acht Jahren an); die beiden anderen, von mir als
    Paraphrenie zusammengefabten Psychoneurosen zeigen sich
    erst nach der Pubertåt und im Alter der Reife. Diese. zu-
    letzt auftretenden Affektionen haben sich nun unserer For-
    schung nach den in die Neurosenwahl auslaufenden Dispo-
    sitionen zuerst zugånglich erwiesen. Die ihnen beiden eigen-
    tümlichen Charaktere des GroBenwahns, der Abwendung von
    der Welt der Objekte und der Erschwerung der Übertragung
    haben uns zum Schlusse genötigt, daß deren disponierende
    Fixierung in cinem Stadium der Libidoentwicklung vor der
    Herstellung der Objektwahl, also in der Phase des Auto-
    erotismus und des Narziimus zu suchen ist. Diese so spit
    auftretenden Erkrankungsformen gehen also auf sehr friih-
    zeitige Hemmungen und Fixierungen zurück.
    Demnach würden wir darauf hingewiesen, die Disposition
    für Hysterie und Zwangsneurose, die beiden eigentlichen Über-
    / tragungsneurosen mit frühzeitiger Symptombildung, in den
    jüngeren Phasen der Libidoentwicklung zu vermuten, Allein
    worin wäre hier die Entwicklungshemmung zu finden und
    vor allem, welches wäre der Phasenunterschicd, der die Dis-
    position zur Zwangsneurose im Gegensatz zur Hysterie be-
    "gründen sollte? Darüber war lange nichts zu erfahren, und
    meine früher unternommenen Versuche, diese beiden Dispo-
    sitionen zu ‚erraten, z. B. daß die Hysterie durch Passivitåt,
    die Zwangsneurose durch Aktivitát im infantilen Erleben be-
    dingt sein sollte, mußten bald als verfehlt abgewiesen
    werden.

    ⑧*

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    116 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.

    Ich kehre nun auf den Boden der klinischen Einzel-
    beobachtung zuriick. Ich habe lange Zeit hindurch eine Kranke
    studiert, deren Neurose eine ungewöhnliche Wandlung durch-
    gemacht hatte. Dieselbe begann nach einem traumatischen
    Erlebnis als glatte Angsthysterie und behielt diesen Charakter
    durch einige Jahre bei. Eines Tages aber verwandelte sie
    sich plötzlich in eine Zwangsneurose von der schwersten Art.
    Ein solcher. Fall mußte nach mehr als einer Richtung be-
    deutsam werden. Einerseits konnte er vielleicht den Wert
    eines bilinguen Dokumentes beanspruchen und ‚zeigen, wie
    ein identischer Inhalt von den beiden Neurosen in verschie-
    denen Sprachen ausgedrückt wird. Anderscits drohte er,
    unserer Theorie der Disposition durch Entwicklungshemmung
    überhaupt zu widersprechen, wenn man sich nicht zur An-
    nahme entschließen wollte, daß eine Person auch mehr als
    eine einzige schwache Stelle in ihrer Libidoentwicklung mit-
    bringen könne. Ich sagte mir, daß man kein Recht habe, diese
    letztere Möglichkeit abzuweisen, war aber auf das Ver-
    ständnis dieses Krankheitsfalles sehr gespannt.

    Als dieses im Laufe der Analyse kam; mute ich sehen,
    daB die Sachlage ganz anders war, als ich sie mir vorgestellt
    hatte. Die Zwangsneurose war nicht eine weitere Reaktion
    auf das nàmliche Trauma, ‚welches zuerst die Angsthysterie
    hervorgerufen hatte, sondern auf ein zweites Erlebnis, welches
    das erste völlig entwertet hatte. (Also, cine — allerdings
    noch diskutierbare — Ausnahme von unserem Satze, der die
    Unabhángigkeit der Neurosenwahl vom Erleben behauptet.)

    Ich kann leider — aus bekannten Motiven — auf die
    Krankengeschichte des Falles nicht so weit eingehen, wie

    ich gern móchte, sondern muf mich auf nachstehende Mit-

    teilungen beschránken. Die Patientin war bis zu ihrer Er-

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    III. DIE DISPOSITION ZUR ZWANGSNEUROSE. 117

    krankung eine glückliche, fast völlig befriedigte Frau ge-
    wesen. Sie wünschte sich Kinder aus Motiven infantiler
    Wunschfixierung und erkrankte, als sie erfuhr, daß sie von
    ihrem ausschlieBend geliebten Manne keine Kinder bekom-
    men konne. Die Angsthysterie, mit welcher sie auf diese
    Versagung reagierte, entsprach, wie sie bald selbst verstehen
    lernte, der Abweisung von Versuchungsphantasien, in denen
    sich der festgehaltene Wunsch nach einem Kinde durch-
    setzte. Sie tat nun alles dazu, um ihren Mann nicht er-
    raten zu lassen, daB sie infolge der durch ihn determinierten
    Versagung erkrankt sei. Aber ich habe nicht ohne gute
    Gründe behauptet, daß jeder Mensch in seinem eigenen Un-
    bewußten ein Instrument besitzt, mit dem er die Äußerungen
    des Unbewuften beim anderen zu deuten vermag; der Mann
    verstand ohne Geståndnis oder Erklårung, was die Angst
    seiner Frau bedeute, krånkte sich dariiber, ohne es zu zeigen,
    und reagierte nun seinerseits neurotisch, indem er — zum
    erstenmal — beim Eheverkehr versagte. Unmittelbar darauf
    reiste er ab, die Frau hielt ihn für dauernd impotent ge-
    worden und produzierte die ersten Zwangssymptome an dem
    Tage vor seiner erwarteten Rückkunft.

    Der Inhalt ihrer Zwangsneurose bestand in ‘einem pein-
    lichen Wasch- und Reinlichkeitszwang und in höchst cner-
    gischen SchutzmaBregeln gegen böse Schädigungen, welche
    andere von ihr zu befürchten hätten, also in Reaktions-
    bildungen gegen analerotische und sadistische Re-
    gungen. In solchen Formen mußte sich ihr Sexualbedürfnis
    äußern, nachdem ihr Genitalleben durch die Impotenz des
    für sic einzigen Mannes eine volle Entwertung erfahren hatte:

    An diesen Punkt hat das kleine, von mir neugebildete
    Stückchen Theorie angeknüpft, welches natürlich nur schein-

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    118 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.

    bar auf dieser einen Beobachtung ruht, in Wirklichkeit eine
    große Summe früherer Eindrücke zusammenfaBt, die aber
    erst nach dieser letzten Erfahrung fähig wurden, eine Ein-
    sicht zu ergeben. Ich sagte mir, daß mein Entwicklungs-
    schema der libidinôsen Funktion einer neuen Einschaltung
    "bedarf. Ich hatte zuerst nur unterschieden die Phase des
    Autoerotismus, in welcher die einzelnen Partialtriebe, jeder
    fiir sich, ihre Lustbefriedigung am eigenen Leibe suchen,
    ‚und dann die Zusammenfassung aller Partialtriebe zur Objekt-
    wahl unter dem Primat der Genitalien im Dienste der Fort-
    pflanzung. Die Analyse der Paraphrenien hat uns wie be-
    kannt genötigt, dazwischen ein Stadium des Narzibmus ein-
    zuschieben, in dem die Objektwahl bereits erfolgt ist, aber
    das Objekt noch mit dem eigenen Ich zusammenfållt. Und
    nun sehen wir die Notwendigkeit ein, ein weiteres Stadium
    vor der Endgestaltung gelten zu lassen, in dem die Partial-
    triebe bereits zur Objektwahl zusammengefaßt sind, das
    Objekt sich der eigenen Person schon als eine fremde gegen-
    überstellt, aber das Primat der Genitalzonen noch
    nicht aufgerichtet ist. Die Partialtricbe, welche diese

    prägenitale Organisation des Sexuallebens beherrschen,

    sind vielmehr die analerotischen und die sadistischen,

    Ich weiß, daß jede solche Aufstellung zunächst befrem-
    dend Klingt. Erst durch die Aufdeckung ihrer Beziehungen
    zu unserem bisherigen Wissen wird sie uns vertraut, und am
    Ende ist ihr Schicksal häufig, daß sie als eine geringfügige,
    längst geahnte Neuerung erkannt‘ wird. Wenden wir uns also
    mit ähnlichen Erwartungen zur Diskussion der „prägenitalen
    Sexualordnung“.

    a) Es ist bereits vielen Beobachtern aufgefallen und zu-
    letzt mit besonderer Schärfe von E. Jones hervorgehoben

  • S.

    III. DIE DISPOSITION ZUR ZWANGSNEUROSE. 119

    worden, welche außerordentliche Rolle die Regungen von Haß
    und Analerotik in der Symptomatologie der Zwangsneurose
    spielen.*) Dies leitet sich nun unmittelbar aus unserer Auf-
    stellung ab, wenn es diese Partialtriebe sind, welche in der
    Neurose die Vertretung der Genitaltriebe wieder übernom-
    men haben, deren Vorgänger sie in der Entwicklung waren.

    Hier fügt sich nun das bisher zurückgchaltene Stück
    aus der Krankengeschichte unseres Falles ein. Das Sexual-
    leben der Patientin begann im zartesten Kindesalter mit
    sadistischen Schlagephantasien. Nach deren Unterdrückung
    setzte eine ungewöhnlich large Latenzzcit cin, in welcher das
    Mädchen eine hochreichende moralische Entwicklung durch-
    machte, ohne zum weiblichen Sexualempfinden zu erwachen.
    Mit der in jungen Jahren geschlossenen Ehe begann eine
    Periode normaler Sexualbetåtigung als glückliche Frau, die
    durch eine Reihe von Jahren anhielt, bis die erste große Ver-
    sagung die hysterische Neurose brachte. Mit der darauf fol-
    genden Entwertung des Genitallebens sank ihr Sexualleben,
    wie erwühnt, auf die infantile Stufe des Sadismus zurück.

    Es isp nicht schwer, den Charakter zu bestimmen, in
    welchem sich dieser Fall von Zwangsneurose von den håu-

    figeren anderen unterscheidet, die in jingeren Jahren be-
    ginnen und von da an chronisch mit mehr oder weniger
    auffälligen Exazerbationen verlaufen. In diesen anderen Fallen
    wird die Sexualorganisation, welche die Disposition zur
    Zwangsneurose enthält, einmal hergestellt, nie wieder völlig

    überwunden; in.unserem Falle ist sie zuerst durch die höhere
    Entwicklungsstufe abgelöst und dann durch Regression von
    dieser her wieder aktiviert worden.

    *) E. Jones, Haß und Analerotik in der Zwangsneurose, (Intern.
    Zeitschr. für ürztl. Psychoanalyse, I, 1913, H. 5.)

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    120 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.

    b) Wenn wir von unserer Aufstellung aus den Anschluß
    an biologische Zusammenhänge suchen, dürfen wir nicht ver-
    gessen, daß der Gegensatz von männlich und weiblich, welcher
    von der Fortpflanzungsfunktion eingeführt wird, auf der
    Stufe der prågenitalen Objektwahl noch nicht vorhanden sein
    kann. An seiner Statt finden wir den Gegensatz von Stre-
    bungen mit aktivem und passivem Ziel, der sich späterhin
    mit dem Gegensatz der Geschlechter verlôten wird. Die
    Aktivität wird vom gemeinen Bemåchtigungstrieb beigestellt,
    den wir cben Sadismus heißen, wenn wir ihn im Dienste der
    Sexualfunktion finden; er hat auch im vollentwickelten nor-
    malen Sexnalleben wichtige Helferdienste zu verrichten. Die
    passive Strömung wird von der Analerotik gespeist, deren
    erogene Zonc der alten, undifferenzierten Kloake entspricht.
    Die Betonung dieser Analerotik' auf der prågenitalen Orga-
    nisationsstufe wird beim Manne eine bedeutsame Prådispo-
    sition zur Homosexualität hinterlassen, wenn die nächste
    Stufe der Sexualfunktion, die des Primats der Genitalien,
    erreicht wird. Der Aufbau dieser letzten Phase über der
    vorigen und die dabei erfolgende Umarbeitung der Libido-
    besetzungen bietet der analytischen Forschung die inter-
    essantesten Aufgaben.

    Man kann der Meinung sein, daß man sich allen hier
    in Betracht kommen len Schwierigkeiten und Komplikationen
    entzieht, wenn man cine prågenitale Organisation des Sexual-
    lebens verleugnet und das Sexualleben mit der Genital- und

    Fortpflanzungsfunktion zusammenfallen, wie auch mit ihr
    beginnen läßt. Von den Neurosen würde man dann mit Riick-
    sicht auf die nicht mifverständlichen Ergebnisse der ana-
    lytischen Forschung aussagen, daß sie durch den Prozeß der

    Sexualverdrängung dazu genötigt werden, sexuelle Strebungen

  • S.

    III. DIE DISPOSITION ZUR ZWANGSNEUROSE. 121

    durch andere nicht sexuelle Triebe auszudriicken, die letz-
    teren also kompensatorisch sexualisieren. Wenn man so ver-
    fährt, hat man sich aber außerhalb der Psychoanalyse be-
    geben. Man steht wieder dort, wo man sich vor der Psycho-
    analysé befand, und muß auf das durch sie vermittelte Ver-
    ståndnis des Zusammenhanges zwischen Gesundheit, Per-
    version und Neurose verzichten, Die Psychoanalyse steht und
    fållt mit der Ancrkennung der sexuellen Partialtriebe, der
    erogenen Zonen und der so gewonnenen Ausdehnung des Be-
    griffes „Sexualfunktion* im Gegensatz zur engeren „Genital-
    funktion“. Übrigens reicht. die Beobachtung der normalen
    Entwicklung des Kindes für sich allein hin, um eine solche
    Versuchung zuriiekzuweisen.

    の Auf dem Gebiete der Charakterentwicklung müssen
    wir denselben Triebkråften begegnen, deren Spiel wir in den
    Neurosen aufgedeckt haben. Eine scharfe theoretische Schei-
    dung der beiden wird aber durch den einen Umstand geboten,
    daß beim Charakter wegfállt, was dem Neurosenmechanismus
    eigentümlich ist, das Mifiglicken der Verdràngung und die
    Wiederkehr des. Verdrángten. Bei der Charakterbildung tritt
    -die Verdrängung entweder nicht in Aktion oder sie erreicht 。
    glatt ihr Ziel, das Verdrángte durch Reaktionsbildungen und
    Sublimierungen zu ersetzen. Darum sind die Prozesse der
    Charakterbildung undurchsichtiger und. der Analyse unzu-
    gånglicher als die neurotischen.

    Gerade auf dem Gebiete der Charakterentwicklung be-
    gegnet uns aber eine gute Analogie zu dem von uns be-
    schriebenen Krankheitsfalle, also eine Bekråftigung der prå-
    genitalen sadistisch-analerotischen Sexualorganisation. Es ist
    bekannt und hat den Menschen viel Stoff zur Klage gegeben,
    daß die Frauen häufig, nachdem sie ihre Genitalfunktionen

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    SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV,

    aufgegeben haben, ihren Charakter in eigentiimlicher Weise
    verändern. Sie werden zänkisch, quålerisch und rechthabe-
    risch, kleinlich und geizig, zeigen also typische sadistische
    und analerotische Ziige, die ihnen vorher in der Epoche der
    Weiblichkeit nicht eigen waren. Lustspieldichter und Sati-
    riker haben zu allen Zeiten ihre Invektiven gegen den „alten
    Drachen“ gerichtet, zu dem das holde Mädchen, die liebende
    Frau, die zårtliche Mutter geworden ist. Wir verstehen, daß
    diese Charakterwandlung der Regression des Sexuallebens
    auf die prågenitale sadistisch-analerotische Stufe entspricht,
    in welcher wir die Disposition zur Zwangsneurose gefunden
    haben. Sie wire also nicht nur die Vorlåuferin der genitalen
    Phase, sondern oft genug auch ihre Nachfolge und Ablösung,
    nachdem die Genitalien ihre Funktion erfüllt haben.

    Der Vergleich einer solchen Charakterverånderung mit

    der Zwangsneurose ist sehr eindrucksvoll, In beiden Fällen

    das Werk der Regression, aber im ersten Falle volle Regression
    nach glatt vollzogener Verdrängung (oder Unterdrückung);
    im Falle der Neurose: Konflikt, Bemiihung, die Regression
    nicht gelten zu lassen, Reaktionsbildungen gegen dieselbe
    und Symptombildungen durch Kompromisse von beiden Seiten
    her, Spaltung der psychischen Tätigkeiten in bewuBtseins-
    fåhige und unbewufte.

    d) Unsere Aufstellung einer prågenitalen Sexualorgani-
    sation ist nach zwci Richtungen hin unvollståndig. Sie nimmt
    erstens keine Rücksicht auf das Verhalten ‘anderer Partial-
    triebe, an dem manches der Erforschung und Erwåhnung
    wert wåre, und begniigt sich, das auffållige Primat von Sa-
    dismus und Analerotik herauszuheben. Besonders vom Wif-
    trieb gewinnt man håufig den Eindruck, als ob er im Mecha-
    nismus der Zwangsneurose den Sadismus geradezu ersetzen

  • S.

    1. DIE DISPOSITION ZUR ZWANGSNEUROSE . 123

    könnte. Er ist ja im Grunde ein sublimierter, ins Intellek-
    tuelle gehobener Sprößling des. Bemächtigungstriebes, seine
    Zurückweisung in der Form des Zweifels nimmt im Bilde
    der Zwangsneurose einen breiten Raum ein,

    Ein zweiter Mangel ist weit bedeutsamer. Wir wissen,
    daß die entwicklungsgeschichtliche Disposition für cine Neu-
    rose nur dann vollständig ist, wenn sie die Phase der Ich-
    entwicklung, in welcher die Fixierung eintritt, ebenso be-
    rücksichtigt wie die der Libidoentwicklung. Unsere Auf-
    stellung hat sich aber nur auf die letztere bezogen, sie ent-
    hält also nicht die ganze Kenntnis, die wir fordern dürfen.
    Die Entwicklungsstadien der Ichtriebe sind uns bis jetzt sehr

    wenig bekannt; ich weiß nur von einem vielversprechenden

    Versuch von Ferenczi, sich diesen Fragen zu nähern.*)
    Ich weiß nicht, ob es zu gewagt erscheint, wenn ich den
    vorhandenen Spuren folgend die Annahme ausspreche, daß
    ein zeitliches Voraneilen der Ichentwicklung vor der Libido-
    entwicklung in die Disposition zur Zwangsneurose einzu-
    tragen ist. Eine solche Voreiligkeit würde von den Ich-
    trieben her zur Objektwahl nötigen, während die Sexual-
    funktior ihre letzte Gestaltung noch nicht erreicht hat, und
    somit eine Fixierung auf der Stufe der prågenitalen Sexual-
    ordnung hinterlassen. Erwägt man, daß die Zwangsneurotiker
    eine Übermoral entwickeln müssen, um ihre Objektliebe gegen
    die hinter ihr lauernde Feindseligkeit zu verteidigen, so
    wird man geneigt sein, ein gewisses Maß von diesem Voran-
    eilen der Ichentwicklung als typisch für die menschliche
    Natur hinzustellen und die Fähigkeit zur Entstehung der
    Moral in dem Umstand begründet zu finden, daß nach der

    *) Ferenczi: Entwicklungsstufen des Wirklichkeitssinnes. (Intern,
    Zeitschr. für ärztl. Psychoanalyse, I, 1913, H. 2.)

  • S.

    124 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.

    Entwicklung der Haß der Vorläufer der Liebe ist. Vielleicht
    ist dies die Bedeutung eines Satzes von W. Stekel, der
    mir seinerzeit unfaßbar erschien, daß der Haß und nicht die
    Liebe die primäre Gefiihlsbeziehung zwischen den Men-
    schen sei.*)

    e) Für die Hysterie erübrigt nach dem Vorstehenden
    die innige Beziehung zur letzten Phase der Libidoentwick-
    Jung, dic durch den Primat der Genitalien und die Einführung
    der Fortpflanzungsfunktion ausgezeichnet ist. Dieser Erwerb
    unterliegt in der hysterischen Neurose der Verdrängung, mit
    welcher eine Regression auf die prågenitale Stufe nicht ver-
    bunden ist. Die Liicke in der Bestimmung der Disposition
    infolge unserer Unkenntnis der Ichentwicklung ist hier noch
    fithlbarer als bei der Zwangsneurose.

    Hingegen ist es nicht schwer nachzuweisen, daß eine
    andere Regression auf ein früheres Niveau auch der Hysterie
    zukommt. Die Sexualität, des weiblichen Kindes steht, wie
    wir wissen, unter der Herrschaft eines männlichen Leit-
    organes (der Klitoris) und benimmt sich vielfach wie die
    des Knaben. Ein letzter Entwicklungsschub zur Zeit der
    Pubertät muß diese männliche Sexualität wegschaffen und
    die von der Kloake abgeleitete Vagina zur herrschenden
    erogenen Zone erheben. Es ist nun sehr gewöhnlich, daß in
    der hysterischen Neurose der Frauen eine Reaktivierung die-
    ser verdrängten männlichen Sexualität statt hat, gegen welche
    sich dann der Abwehrkampf von seiten der ichgerechten
    Triebe richtet. Doch erscheint es mir vorzeitig, an dieser
    Stelle in die Diskussion der Probleme der hysterischen Dis-

    position einzutreten.

    *) W. Stekel: Die Sprache des Traumes. 1911, S. 536.