S.
DIE. DISPOSITION ZUR
ZWANGSNEUROSEEin Beitrag zum Problem der Neurosenwahl
(1913)Das Problem, warum und wieso ein Mensch an einer
Neurose erkranken kann, gehört gewiß zu jenen, die von
der Psychoanalyse beantwortet werden sollen. Es ist aber
wahrscheinlich, daß diese Antwort erst über ein anderes und
spezielleres wird gegeben werden können, über das Problem,
warum diese und jene Person gerade an der einen bestimm-
ten Neurose und an keiner anderen erkranken muß. Dies ist
das Problem der Neurosenwahl.Was wissen wir bis jetzt zu diesem Problem? Eigentlich
ist hier nur ein einziger allgemeiner Satz gesichert. Wir
unterscheiden die für die Neurosen in Betracht kommenden
Krankheitsursaehen in solche, die der Mensch ins Leben
mitbringt, und solche, die das Leben an ihn heranbringt,
konstitutionelle und akzidentelle. durch deren Zusammen-
wirken erst in der Regel die Krankheitsverursachung herge-
stellt wird. Nun besagt der eben angekündigte Satz, daß die.
Gründe für die Entscheidung der Neurosenwahl durchwegs
von der ersteren Art sind, also von der Natur der Dispositio-
nen, und unabhängig von den pathogen wirkenden Erlebnissen.Worin suchen wir die Herkunft dieser Dispositionen? Wir
sind aufmerksam darauf geworden, daß die in Betracht
kommenden psychischen Funktionen — vor allem dieS.
6 Die Disposition
Sexualfunktion, aber ebenso verschiedene wichtige Iehfunk—
tionen — eine lange und komplizierte Entwicklung durch—
zumachen haben, bis sie zu dem für den normalen Erwachse-
nen charakteristischen’ Zustand gelangen. Wir nehmen nun
an, daß diese Entwicklungen nicht immer so tadellos voll—
zogen werden, daß die gesamte Funktion der fortschritt-
lichen Veränderung unterliege. Wo ein Stück derselben
die vorige Stufe festhält, da ergibt sich eine sogenannte
„Fixierungsstelle“, zu welcher die Funktion im Falle der Er-
krankung durch äußerliche Störung regredieren kann.Unsere Dispositionen sind also Entwicklungshemmungen.
Die Analogie mit den Tatsachen der allgemeinen Pathologie
anderer Krankheiten bestärkt uns in dieser Auflassung. Bei
der Frage, welche Faktoren solche Störungen der Entwick-
lung hervorrufen können, macht aber die psychoanalytische
Arbeit halt und überläßt dies Problem der biologischen
Forschung.‘Mit Hilfe dieser Voraussetzungen haben wir uns bereits
vor einigen Jahren an das Problem der Neurosenwahl heran-
gewagt. Unsere Arbeitsrichtung, welehe dahin geht, die nor-
malen Verhältnisse aus ihren Störungen zu erraten, hat uns
dazu geführt, einen ganz besonderen und unerwarteten An-
griffspunkt zu wählen. Die Reihenfolge, in welcher die
Hauptformen der“ Psychoneurosen gewöhnlich aufgeführt
werden, — Hysterie, Zwangsneurose, Paranoia, Dementia
praecox -— entspricht (wenn auch nicht völlig genau) der
Zeitfolge, in der diese Aflektionen im Leben hervorbrechen.
Die hysterischen Krankheitsformen können schon in der
ersten Kindheit beobachtet werden, die Zwangsneurose offen—_ I) Seitdem die Arbeiten von W. Fliefl die Bedeutung be—
stimmter Zeitgrößen für die Biologie aufgedeckt haben, ist es
denkbar geworden, daß sich Entwicklungsstönmg auf zeitliche
Abänderung von Entwicklungusehühen zurüekfiihrt.S.
zur Zwangsneuroxe 7
hart ihre ersten Symptome gewöhnlich in der zweiten Pe-
riode der Kindheit (von sechs bis acht Jahren an); die beiden
anderen, von mir als Parnphrenie zusammengefaßten Psycho-
neurosen zeigen sich erst nach der Pubertät und im Alter
der Reife. Diese zuletzt auftretenden Afiektionen haben sich
nun unserer Forschung nach den in die Neurosenwahl aus-
laufenden Dispositionen zuerst zugänglich erwiesen. Die
ihnen beiden eigentümlichen Charaktere des Größenwehns,
der Abwendung von der Welt der Objekte und der Erschwe-
rung der Übertragung haben uns zum Schlusse genötigt, daß
deren disponierende Fixierung in einem Stadium der Libido-
entwicklung vor der Herstellung der Objektwahl, also in
der Phase des Autoerotismus und des Narzißmus zu suchen ist.
Diese so spät auftretenden Erkrankungsformen gehen also auf
sehr frühzeitige Hemmungen und Fixierungen zurück.Demnach würden wir darauf hingewiesen, die Disposian
für Hysterie und Zwangsneurose, die beiden eigentlichen
Uhertragungsneurosen mit frühzeitiger Symptomhildung, in
den jüngeren Phasen der Libidoentwicklung zu vermuten-
Allein worin wäre hier die Entwicklungshemmung zu finden
und vor allem, welches wäre der Phasenunterschied, der die
Disposition zur Zwangsneurose im Gegensatz zur Hysterie
begründen sollte? Darüber war lange nichts zu erfahren, und
meine früher unternommenen Versuche, diese beiden Dispo-
sitionen zu ernten, z. B. daß die Hysterie durch Passivität,
die Zwangsneurose durch Aktivität im infantilen Erleben
bedingt sein sollte, mußten bald als verfehlt abgewiesen
werden.Ich kehre nun auf den Boden der klinischen Einzel-
beobachtung zurück. Ich habe lange Zeit hindurch eine
Kranke studiert, deren Neurose eine ungewöhnliche Wand-
lung durchgernacht hatte. Dieselbe begann nach einem
traumatischen Erlebnis als glatte Angsthysterie und behieltS.
g Die Disposition
diesen Charakter durch einige jahre bei. Eines Tages aber
verwandelte sie sich plötzlich in eine Zwangsneurose von
der schwersten Art. Ein solcher Fall mußte nach mehr als
einer Richtung bedeutsam werden. Einerseits konnte er viel-
leicht den Wert eines bilinguen Dokuments beanspruchen
und zeigen, wie ein identischer Inhalt von den beiden Neu-
rosen in verschiedenen Sprachen ausgedrückt wird. Ander-
seits drohte er, unserer Theorie der Disposition durch Ent-
‚ wicklungshemmung überhaupt zu widersprechen, wenn man
sich nicht zur Annahme entschließen wollte, daß eine Person
auch mehr als eine einzige schwache Stelle in ihrer Libido-
entwicklung mitbringen könne. Ich sagte mir, daß man kein
Recht habe, diese letztere Möglichkeit abzuweisen, war aber
auf das Verständnis dieses Krankheitsfalles sehr gespannt.Als dieses im Laufe der Analyse kam, mußte ich sehen,
daß die Sachlage ganz anders war, als ich sie mir vorgestellt
hatte. Die Zwangsneurose. war nicht eine weitere Reaktion
auf das nämliche Trauma, welches zuerst die Angsthysterie
hervorgerufen. hatte, sondern auf ein zweites Erlebnis,
welches das erste völlig entwertet hatte. (Also, eine -— aller-
dings noch diskutierbare — Ausnahme von unserem Satze,
der die Unabhängigkeit der Neurosenwahl vom Erleben be—
hauptet.)Ich kann leider —- aus bekannten Motiven —— auf die
Krankengeschichte des Falles nicht so weit eingehen, wie
ich gern möchte. sondern muß mich auf nachstehende Mit-
teilungen beschränken. Die ?atientin war bis zu ihrer Er-
krankung eine glückliche, fast völlig befriedigte Frau ge
wesen. Sie wünschte sich Kinder aus Motiven infantiler
Wunschfixierung und erkrankte, als sie erfuhr. daß sie von
ihrem ausschließend geliebten Marine keine Kinder bekom—
men könne. Die Angsthysteric, mit; der sie auf diese Ver—
sagung reagierte, entsprach, wie sie bald selbst verstehen lern-S.
zur Zwangmeurose 9
te, der Abweisung von Versuchungsphantasien, in denen sich
der festgehaltene Wunsch nach einem Kinde durchsetzte. Sie
tat nun alles dazu, um ihren Mann nicht ernten zu lassen,
daß sie infolge der durch ihn determinierten Verengung er-
krankt sei. Aber ich habe nicht ohne gute Gründe be-
hauptet, daß jeder Mensch in seinem eigenen Unbewußten
ein Instrument besitzt. mit dem er die Äußerungen des Un-
bewußten beim anderen zu deuten vermag; der Mann ver-
stand ohne Geständnis oder Erklärung, was die Angst seiner
Frau bedeute, kränkte sich darüber, ohne es zu zeigen, und
reagierte nun seinerseits neurotisch, indem er -— zum ersten-
mal — beim Eheverkehr versagte, Unmittelbar darauf reiste
er ab, die Frau hielt ihn für dauernd impotent geworden
und produzierte die ersten Zwangssymptorne an dem Tage
vor seiner erwarteten Rückkunft.Der Inhalt ihrer Zwangsneurose bestand in einem pein—
lichen Wasch- und Reinlichkeitszwang und in höchst euer;
gischen Schutzmaßregelu gegen böse Schädigungen, welche
andere von ihr zu befürchten hätten, also in Reaktionst-
dungen gegen analerotische und sadistische
Regungen. In solchen Formen mußte sich ihr Sexualbediirfnis
äußern, nachdem ihr Genitalleben durch die Impotenz des
für sie einzigen Mannes eine volle Entwertung erfahren hatte.An diesen Punkt hat das kleine, von mir nengebildete
Stückchen Theorie angeknüpft, welches natürlich nur schein—
bar anf dieser einen Beobachtung ruht, in Wirklichkeit eine
große Summe früherer Eindrücke zusammenfaßt, die aber
erst nach dieser letzten Erfahrung fähig wurden, eine Ein—
sicht zu ergeben. Ich sagte mir, daß mein Entwicklungs-
schema der libidinösen Funktion einer neuen Einschaltung
bedarf. Ich hatte zuerst nur unterschieden die Phase des
Autoerotismus, in welcher die einzelnen Partialtriebe, jeder
für sich, ihre Lustbefriedigung am eigenen Leibe suchen,S.
io ' Die Disposition
und dann die Zusammenfassung aller Partialtriebe zur Ob-
jektwahl unter dem Primat der Genitalien im Dienste der
Fortpflanzung. Die Analyse der Paraphrenien hat uns, wie
bekannt, genötigt, dazwischen ein Stadium des Narzißmus
einzuschieben, in dem die Objektv'vahl bereits erfolgt ist,
aber das Objekt noch mit dem eigenen Ich zusammenfällt.
Und nun sehen wir die Notwendigkeit ein, ein weiteres
Stadium vor der Endgestaltung gelten zu lassen, in dem die
Partialtriebe bereits zur Objektwahl zusammengefaßt sind,
das Objekt sich der eigenen Person schon als eine fremde
gegenüberstellt, aber der Prima: der Genital-
Zonen noch nicht aufgerichtet ist. Die Par-
tialttiebe, welche diese prägenitale Organisation des
Sexuallebens beherrschen, sind vielmehr die analerotischen
und die sadistischen.Ich weiß, daß jede solche Aufstellung zunächst befremdend
klingt. Erst durch die Aufdeckung ihrer Beziehungen zu
unserem bisherigen Wissen wird sie uns vertraut, und am
Ende ist ihr Schicksal häufig, daß sie als eine geringfügige,
längst geehnte Neuerung erkannt wird. Wenden wir uns also
mit ähnlichen Erwartungen zur Diskussion der „prägenitalen
Sexualordnung“.n) Es ist bereits vielen Beobachtern aufgefallen und zuletzt
mit besonderer Schärfe von E. Jones hervorgehoben wor-
den, welche außerordentliche Rolle die Regungen von Haß
und Analerotik in der Symptomatologie der Zwangsneurose
spielen.’ Dies leitet sich nun unmittelbar aus unserer Auf—
stellung ab‚ wenn es diese Partialtriebe sind, die in der Neu-
rose die Vertretung der Getütaltriehe wieder übernommen
haben, deren Vorgänger sie in der Entwicklung waren.Hier fügt sich nun das bisher zurückgehaltene Stück aus
z) E. Jones: Haß und Analerotik in der Zwangsneurase.
(Internat. Zeitschrift für ärztl. Psychoanfllyse, I, 1913, H. 5.)S.
zur Zwangmeurose ! 1
der Krankengeschichte unseres Falles ein. Das Sexualleben
der Patientin begann im zartesten Kindesalter rnit sadisti-
schen Schlagephantasien. Nach deren Unterdrückung setzte
eine ungewöhnlich lange Latenzzeit ein, in welcher das
Mädchen eine hochreichendc moralische Entwicklung durch-
machte, ohne zum weiblichen Sexualempfinden zu erwecken.
Mit der in jungen jahren geschlossenen Ehe begann eine
Periode normaler Sexualbet'aitignng als glückliche Frau, die
durch eine Reihe von Jahren anhielt, bis die erste große
Versagung die hystm'ische Neurose brachte. Mit der darauf fol-
genden Entwertung des Genitallebens sank ihr Sexuallehen,
wie erwähnt, auf die infantile Stufe des Sadismus zurück.Es ist nicht schwer, den Charakter zu bestimmen, in
welchem sich dieser Fall von Zwangsneurose von den häufi-
geren anderen unterscheidet, die in jüngeren jahren beginnen
und von da. an chronisch mit mehr oder weniger auffälligen
Exazerbationen verlaufen. In diesen anderen Fällen wird die
Sexualorganisation‚ welche die Disposition zur Zwangs-
neurose enthält, einmal hergestellt, nie wieder völlig überwun-
den; in unserem Falle ist sie zuerst durch die höhere Ent-
wicklungsstufe abgelöst und dann durch Regression von
dieser her wieder aktiviert werden.b) Wenn wir von unserer Aufstellung aus den Anschluß
an biologische Zusammenhänge suchen, dürfen wir nicht
vergessen, daß der Gegensatz von männlich und weiblich,
welcher von der Fortpflanzungsfunktion eingeführt wird,
auf der Stufe der prägenitalen Objektwahl noch nicht vor-
handen sein kann. An seiner Statt finden wir den Gegensatz
von Strebungen mit aktivem und. passivem Ziel, der sich
späterhin mit dem Gegensatz der Geschlechter verlöten wird.
Die Aktivität wird vom gemeinen Bemiichtigungstrieb bei-
gestellt, den wir eben Sadismus heißen, wenn wir ihn im
Dienste der Sexualfunktion finden; er hat auch im voll-S.
u Die Disposition
entwickelten normalen Sexualleben wichtige Helferdienste
zu verrichten. Die passive Strömung wird von der Anal—
erotik gespeist, deren erogene Zone der alten, undifierenzier—
ten Kloake entspricht. Die Betonung dieser Analerotik auf
der prägenitalen. Organisationsstufe wird beim Marine eine
bedeutsame Prädisposition zur Homosexualität hinterlassen,
wenn die nächste Stufe der Sexualfunktion, die des Primats
der Genitalien, erreicht wird. Der Aufbau dieser letzten
Phase über der vorigen und die dabei erfolgende Umarbei-
tung der Libidobesetzungen bietet der analytischen Forschung
die interessantesten Aufgaben.Man kann der Meinung sein, daß man sich allen hier in
Betracht kommenden Schwierigkeiten und Komplikationen
entzieht, wenn man eine prägenitale Organisation des Sexual-
lebens verleugnet und das Sexualieben mit der Genital- und
Fortpflanzungsfunktion zusammenfallen, wie auch mit ihr
beginnen läßt. Von den Neurosen würde man dann mit
Rücksicht auf die nicht mißverständlichen Ergebnisse der
analytischen Forschung aussagen, daß sie durch den Prozeß
der Sexualverdrängung dazu genötigt werden, sexuelle Sere—
bungen durch andere nicht sexuelle Triebe auszudrücken,
die letzteren also kompensatorisch zu semalisieren. Wenn
man so verfährt, hat man sich aber außerhalb der Psycho-
analyse begeben. Man steht wieder dort, wo man sich vor
der Psychoanalyse befand, und muß auf das durch sie ver-
mittelte Verständnis des Zusammenhanges zwischen Gesund-
heit, Perversion und Neurose verzichten. Die Psychoanalyse
steht und fällt mit der Anerkennung der sexuellen Partial-
triebe, der erogenen Zonen und der so gewonnenen Aus-
dehnung des Begrifies „Sexualfunktion“ im Gegensatz zur
engeren „Genitalfunktion". Übrigens reicht die Beobachtung
der normalen Entwicklung des Kindes für sich allein hin,
um eine solche Versuchung zurückzuweisen.S.
zur Z wangmeurose 13
:) Auf dem Gebiete der Chamkterentwicklung müssen
wir denselben Triebkräften begegnen, deren Spiel wir in den
Neurosen aufgedeckt haben. Eine scharfe theoretische Schei-
dung der beiden wird aber durch den einen Umstand ge-
boten, daß beim Charakter wegfällt, was dem Neurosen«
mechanismus eigentümlich ist, das Mißglücken der Verdrän-
gung und die Wiederkehr des Verdrängten. Bei der Charak-
terbildung tritt die Verdrängung entweder nicht in Aktion
oder sie erreicht glatt ihr Ziel, das Verdrängte durch Reak-
tionsbildungen und Sublimierungen zu ersetzen. Darum sind
die Prozesse der Charakterbildung undurchsichtiger und der
Analyse unzugänglicher als die neurotischen.Gerade auf dem Gebiete der Charakterentwicklung be—
gegnet uns aber eine gute Analogie zu dem von uns be—
schriebenen Krankheitsfalle, also eine Bekräftigung der prä-
genitalen sadistisch-analerotisehen Sexualorganisation. Es ist
bekannt und hat den Menschen viel Stoff zur Klage gegeben,
daß die Frauen häufig, nachdem sie ihre Genitalfunktionen
aufgegeben haben, ihren Charakter in eigentiimlicher Weise
verändern. Sie werden ziinkisch, quälerisch und rechthabe-
risch, kleinlieh und geizig, zeigen also typische sadistischfl
und analerotische Züge, die ihnen vorher in der Epoche der
Weiblichkeit nicht eigen waren. Lustspieldichter und Sati-
riker haben zu allen Zeiten ihre Invektiven gegen den „alten
Drachen“ gerichtet, zu dem das beide Mädchen, die liebende
Frau, die zärtliche Mutter geworden ist. Wir verstehen, daß
diese Charakterwandlung der Regression des Sexuallehens
auf die prägenitale sadistisch-analerotische Stufe entspricht,
in welcher wir die Disposition zur Zwangsneurose gefunden
haben. Sie wäre also nicht nur die Vorläuferin der genitalen
Phase, sondern oft genug auch ihre Nachfolge und Ablösung,
nachdem die Genitalien ihre Funktion erfüllt haben.Der Vergleich einer solchen Charakterveränclerung mit
S.
14 Die Disposition
der Zwangsneurose ist sehr eindrucksvoll. In beiden Fällen
das Werk der Regression, aber im ersten Falle volle Regres-
sion nach glatt vollzogener Verdrängung (oder Unter-
drückung); im Falle der Neurose: Konflikt, Bemühung, die
Regression nicht gelten zu lassen, Reaktionsbildungen gegen
dieselbe und Symptombildungen durch Kompromisse von
beiden Seiten her, Spaltung der psychischen Tätigkeiten in
bewußtseinsfähige und unbewußte.d) Unsere Aufstellung einer prägenitlalen Sexualorganisa-
tion ist nach zwei Richtungen hin unvollständig. Sie nimmt
erstens keine Rücksicht auf das Verhalten anderer Partial—
triebe, an dem manches der Erforschung und Erwähnung
wert wäre, und begnügt sich, den auffälligen Prima: von
Sadisrnus und Analerotik herauszuheben. Besonders vom
Wißtrieb gewinnt man häufig den Eindruck, als ob er im
Mechanismus der Zwangsneurose den Sadismus geradezu
ersetzen könnte. Er ist ja im Grunde ein sublirnierter, ins
Intellektuelle gehobener Sprößling des Bem'a'chtigungstriebes,
seine Zurückweisung in der Form des Zweifels nimmt im
Bilde der Zwangsneurosc einen breiten Raum ein.Ein zweiter Mangel ist weit bedeutsamer. Wir wissen, daß
die entwicklungsgmchichtliche Disposition fiir eine Neurose
nur dann vollständig ist, wenn sie die Phase der Ichentwick-
lung, in welcher die Fixierung eintritt, ebenso berücksichtigt
wie die der Libidoentwicklung. Unsere Aufstellung hat sich
aber nur auf die letztere bezogen‚ sie enthält also nicht die
ganze Kenntnis, die wir fordern dürfen. Die Entwicklungs-
Stadien der Ichtriebe sind uns bis jetzt sehr wenig bekannt;
ich weiß nur von einem vielverspreehenden Versuch von
F e r en czi, sich diesen Fragen zu nähern.’ Ich weiß nicht,3) Ferenczi: Entwicklungsstufen des Wirklichkeitssinnes.
Internat. Zeitschr. für ärztl. Psychoanalyse, I, 1913. (Fe ren czi,
Bausteine zur Psychoanalyse Bd. I, S. 62 E.)S.
zur Zwmgrneurose “
ob es zu gewagt erscheint, wenn ich den vorhandenen
Spuren folgend die Annahme ausspreche, daß ein zeitliches
Voraneilen der Ichentwicklung vor der Libidoentwiclslung
in die Disposition zur Zwangsneurose einzutragen ist. Eine
solche Voreiligkeit wiirde von den Ichtrieben her zur
Objektwa.hl nötigen, während die Sexualfunktion ihre letzte
Gestaltung noch nicht erreicht hat, und somit eine Fixierung
auf der Stufe der prägenitalen Sexualordnung hinterlassen.
Erwägt man, daß die Zwangsneurodker eine Übermoral ent-
wickeln müssen, um ihre Objektliebe gegen die hinter ihr
lauernde Feindseligkeit zu verteidigen, so wird man geneigt
sein, ein gewisses Maß von diesem Verweilen der Ichent-
wicklung als typisch für die menschliche Natur hinzustellen
und die Fähigkeit zur Entstehung der Moral in dem Um-
stand begründet zu finden, daß nach der Entwicklung der
Haß der Vorläufer der Liebe ist. Vielleicht ist dies die Be-
deutung eines Satzes von W. Stekel, der mir seinerzeit
unfzßbar erschien, daß der Haß und nicht die Liebe die pri—
märe Gefühlsheziehung zwischen den Menschen sei.‘e) Fiir die Hysterie erübrigt nach dem Vorstehenden die
innige Beziehung zur letzten Phase der Libidoentwicklung,
die durch den Primat der Genitalien und die Einführung
der Fortpflanzungsfunktion ausgezeichnet ist. Dieser Erwerb
unterliegt in der hysterischen Neurose der Verdrängung, mit
welcher eine Regression auf die prägenitale Stufe nicht ver-
bunden ist. Die Lücke in der Bestimmung der Disposition
infolge unserer Unkenntnis der Ichentwicklung ist hier noch
fühlbarer als bei der Zwangsneurose.Hingegen ist es nicht schwer nachzuweisen, daß eine
andere Regression auf ein früheres Niveau auch der Hysterie
zukommt. Die Sexualität des weiblichen Kindes steht, wie4) W. Stekel: Die Sprache des Traumes, 1911, S. 536.
S.
16 Die Di;pmition zur Zwangmeurose
wir wissen, unter der Herrschaft eines männlichen Leitorgans
(der Klitoris) und benimmt sich vielfach wie die des Knaben.
Ein letzter Entwicklungschub zur Zeit der Pubertät muß
diese männliche Sexualität Wegschaflen und die von der
Kloake abgeleitete Vagina zur herrschenden erogenen Zone
erheben. Es ist nun sehr gewöhnlich, daß in der hysterischen
Neurose der Frauen eine Reaktivierung dieser verdrängten
männlichen Sexualität statt hat, gegen welche sich dann
der Abwehrkampf von seiten der ichgerechben Triebe
richtet. Doch* erscheint es mir vorzeitig, an dieser Stelle in
die Diskussion der Probleme der hysterischen Disposition
einzutreten.ZWEI KINDERLÜGEN
(1913)
Es ist begreiflieh, daß Kinder lügen, wenn sie damit die
Lügen der Erwachsenen nachahmen. Aber eine Anzahl von
Lügen von gut geratenen Kindern haben eine besondere Be—
deutung und sollten die Erzieher nachdenklich machen,
anstatt sie zu erbittern. Sie erfolgen unter dem Einfluß über-
starker Liebesmotive und werden verhängnisvoll, wenn sie
ein Mißverst'a'ndnis zwischen dem Kind: und der von ihm
geliebten Person herbeiführen.I
Das siebenjährige Mädchen (im zweiten Schuljahr) hat
vom Vater Geld verlangt, um Farben zum Bemalen von
Ostereiern zu kaufen. Der Vater hat es abgeschlagen mit der
Begründung, er habe kein Geld. Kurz darauf verlangte es
vom Vater Geld, um zu einem Kranz für die verstorbene
Landesfürstin beizusteuern. Jedes der Schulkinder soll fünf-
Ein Beitrag zum Problem der Neurosenwahl
sksn4
5
–16