Die Disposition zur Zwangsneurose 1913-010/1931
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    DIE. DISPOSITION ZUR
    ZWANGSNEUROSE

    Ein Beitrag zum Problem der Neurosenwahl
    (1913)

    Das Problem, warum und wieso ein Mensch an einer
    Neurose erkranken kann, gehört gewiß zu jenen, die von
    der Psychoanalyse beantwortet werden sollen. Es ist aber
    wahrscheinlich, daß diese Antwort erst über ein anderes und
    spezielleres wird gegeben werden können, über das Problem,
    warum diese und jene Person gerade an der einen bestimm-
    ten Neurose und an keiner anderen erkranken muß. Dies ist
    das Problem der Neurosenwahl.

    Was wissen wir bis jetzt zu diesem Problem? Eigentlich
    ist hier nur ein einziger allgemeiner Satz gesichert. Wir
    unterscheiden die für die Neurosen in Betracht kommenden
    Krankheitsursaehen in solche, die der Mensch ins Leben
    mitbringt, und solche, die das Leben an ihn heranbringt,
    konstitutionelle und akzidentelle. durch deren Zusammen-
    wirken erst in der Regel die Krankheitsverursachung herge-
    stellt wird. Nun besagt der eben angekündigte Satz, daß die.
    Gründe für die Entscheidung der Neurosenwahl durchwegs
    von der ersteren Art sind, also von der Natur der Dispositio-
    nen, und unabhängig von den pathogen wirkenden Erlebnissen.

    Worin suchen wir die Herkunft dieser Dispositionen? Wir
    sind aufmerksam darauf geworden, daß die in Betracht
    kommenden psychischen Funktionen — vor allem die

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    6 Die Disposition

    Sexualfunktion, aber ebenso verschiedene wichtige Iehfunk—
    tionen — eine lange und komplizierte Entwicklung durch—
    zumachen haben, bis sie zu dem für den normalen Erwachse-
    nen charakteristischen’ Zustand gelangen. Wir nehmen nun
    an, daß diese Entwicklungen nicht immer so tadellos voll—
    zogen werden, daß die gesamte Funktion der fortschritt-
    lichen Veränderung unterliege. Wo ein Stück derselben
    die vorige Stufe festhält, da ergibt sich eine sogenannte
    „Fixierungsstelle“, zu welcher die Funktion im Falle der Er-
    krankung durch äußerliche Störung regredieren kann.

    Unsere Dispositionen sind also Entwicklungshemmungen.
    Die Analogie mit den Tatsachen der allgemeinen Pathologie
    anderer Krankheiten bestärkt uns in dieser Auflassung. Bei
    der Frage, welche Faktoren solche Störungen der Entwick-
    lung hervorrufen können, macht aber die psychoanalytische
    Arbeit halt und überläßt dies Problem der biologischen
    Forschung.‘

    Mit Hilfe dieser Voraussetzungen haben wir uns bereits
    vor einigen Jahren an das Problem der Neurosenwahl heran-
    gewagt. Unsere Arbeitsrichtung, welehe dahin geht, die nor-
    malen Verhältnisse aus ihren Störungen zu erraten, hat uns
    dazu geführt, einen ganz besonderen und unerwarteten An-
    griffspunkt zu wählen. Die Reihenfolge, in welcher die
    Hauptformen der“ Psychoneurosen gewöhnlich aufgeführt
    werden, — Hysterie, Zwangsneurose, Paranoia, Dementia
    praecox -— entspricht (wenn auch nicht völlig genau) der
    Zeitfolge, in der diese Aflektionen im Leben hervorbrechen.
    Die hysterischen Krankheitsformen können schon in der
    ersten Kindheit beobachtet werden, die Zwangsneurose offen—

    _ I) Seitdem die Arbeiten von W. Fliefl die Bedeutung be—
    stimmter Zeitgrößen für die Biologie aufgedeckt haben, ist es
    denkbar geworden, daß sich Entwicklungsstönmg auf zeitliche
    Abänderung von Entwicklungusehühen zurüekfiihrt.

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    zur Zwangsneuroxe 7

    hart ihre ersten Symptome gewöhnlich in der zweiten Pe-
    riode der Kindheit (von sechs bis acht Jahren an); die beiden
    anderen, von mir als Parnphrenie zusammengefaßten Psycho-
    neurosen zeigen sich erst nach der Pubertät und im Alter
    der Reife. Diese zuletzt auftretenden Afiektionen haben sich
    nun unserer Forschung nach den in die Neurosenwahl aus-
    laufenden Dispositionen zuerst zugänglich erwiesen. Die
    ihnen beiden eigentümlichen Charaktere des Größenwehns,
    der Abwendung von der Welt der Objekte und der Erschwe-
    rung der Übertragung haben uns zum Schlusse genötigt, daß
    deren disponierende Fixierung in einem Stadium der Libido-
    entwicklung vor der Herstellung der Objektwahl, also in
    der Phase des Autoerotismus und des Narzißmus zu suchen ist.
    Diese so spät auftretenden Erkrankungsformen gehen also auf
    sehr frühzeitige Hemmungen und Fixierungen zurück.

    Demnach würden wir darauf hingewiesen, die Disposian
    für Hysterie und Zwangsneurose, die beiden eigentlichen
    Uhertragungsneurosen mit frühzeitiger Symptomhildung, in
    den jüngeren Phasen der Libidoentwicklung zu vermuten-
    Allein worin wäre hier die Entwicklungshemmung zu finden
    und vor allem, welches wäre der Phasenunterschied, der die
    Disposition zur Zwangsneurose im Gegensatz zur Hysterie
    begründen sollte? Darüber war lange nichts zu erfahren, und
    meine früher unternommenen Versuche, diese beiden Dispo-
    sitionen zu ernten, z. B. daß die Hysterie durch Passivität,
    die Zwangsneurose durch Aktivität im infantilen Erleben
    bedingt sein sollte, mußten bald als verfehlt abgewiesen
    werden.

    Ich kehre nun auf den Boden der klinischen Einzel-
    beobachtung zurück. Ich habe lange Zeit hindurch eine
    Kranke studiert, deren Neurose eine ungewöhnliche Wand-
    lung durchgernacht hatte. Dieselbe begann nach einem
    traumatischen Erlebnis als glatte Angsthysterie und behielt

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    g Die Disposition

    diesen Charakter durch einige jahre bei. Eines Tages aber
    verwandelte sie sich plötzlich in eine Zwangsneurose von
    der schwersten Art. Ein solcher Fall mußte nach mehr als
    einer Richtung bedeutsam werden. Einerseits konnte er viel-
    leicht den Wert eines bilinguen Dokuments beanspruchen
    und zeigen, wie ein identischer Inhalt von den beiden Neu-
    rosen in verschiedenen Sprachen ausgedrückt wird. Ander-
    seits drohte er, unserer Theorie der Disposition durch Ent-
    ‚ wicklungshemmung überhaupt zu widersprechen, wenn man
    sich nicht zur Annahme entschließen wollte, daß eine Person
    auch mehr als eine einzige schwache Stelle in ihrer Libido-
    entwicklung mitbringen könne. Ich sagte mir, daß man kein
    Recht habe, diese letztere Möglichkeit abzuweisen, war aber
    auf das Verständnis dieses Krankheitsfalles sehr gespannt.

    Als dieses im Laufe der Analyse kam, mußte ich sehen,
    daß die Sachlage ganz anders war, als ich sie mir vorgestellt
    hatte. Die Zwangsneurose. war nicht eine weitere Reaktion
    auf das nämliche Trauma, welches zuerst die Angsthysterie
    hervorgerufen. hatte, sondern auf ein zweites Erlebnis,
    welches das erste völlig entwertet hatte. (Also, eine -— aller-
    dings noch diskutierbare — Ausnahme von unserem Satze,
    der die Unabhängigkeit der Neurosenwahl vom Erleben be—
    hauptet.)

    Ich kann leider —- aus bekannten Motiven —— auf die
    Krankengeschichte des Falles nicht so weit eingehen, wie
    ich gern möchte. sondern muß mich auf nachstehende Mit-
    teilungen beschränken. Die ?atientin war bis zu ihrer Er-
    krankung eine glückliche, fast völlig befriedigte Frau ge
    wesen. Sie wünschte sich Kinder aus Motiven infantiler
    Wunschfixierung und erkrankte, als sie erfuhr. daß sie von
    ihrem ausschließend geliebten Marine keine Kinder bekom—
    men könne. Die Angsthysteric, mit; der sie auf diese Ver—
    sagung reagierte, entsprach, wie sie bald selbst verstehen lern-

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    te, der Abweisung von Versuchungsphantasien, in denen sich
    der festgehaltene Wunsch nach einem Kinde durchsetzte. Sie
    tat nun alles dazu, um ihren Mann nicht ernten zu lassen,
    daß sie infolge der durch ihn determinierten Verengung er-
    krankt sei. Aber ich habe nicht ohne gute Gründe be-
    hauptet, daß jeder Mensch in seinem eigenen Unbewußten
    ein Instrument besitzt. mit dem er die Äußerungen des Un-
    bewußten beim anderen zu deuten vermag; der Mann ver-
    stand ohne Geständnis oder Erklärung, was die Angst seiner
    Frau bedeute, kränkte sich darüber, ohne es zu zeigen, und
    reagierte nun seinerseits neurotisch, indem er -— zum ersten-
    mal — beim Eheverkehr versagte, Unmittelbar darauf reiste
    er ab, die Frau hielt ihn für dauernd impotent geworden
    und produzierte die ersten Zwangssymptorne an dem Tage
    vor seiner erwarteten Rückkunft.

    Der Inhalt ihrer Zwangsneurose bestand in einem pein—
    lichen Wasch- und Reinlichkeitszwang und in höchst euer;
    gischen Schutzmaßregelu gegen böse Schädigungen, welche
    andere von ihr zu befürchten hätten, also in Reaktionst-
    dungen gegen analerotische und sadistische
    Regungen. In solchen Formen mußte sich ihr Sexualbediirfnis
    äußern, nachdem ihr Genitalleben durch die Impotenz des
    für sie einzigen Mannes eine volle Entwertung erfahren hatte.

    An diesen Punkt hat das kleine, von mir nengebildete
    Stückchen Theorie angeknüpft, welches natürlich nur schein—
    bar anf dieser einen Beobachtung ruht, in Wirklichkeit eine
    große Summe früherer Eindrücke zusammenfaßt, die aber
    erst nach dieser letzten Erfahrung fähig wurden, eine Ein—
    sicht zu ergeben. Ich sagte mir, daß mein Entwicklungs-
    schema der libidinösen Funktion einer neuen Einschaltung
    bedarf. Ich hatte zuerst nur unterschieden die Phase des
    Autoerotismus, in welcher die einzelnen Partialtriebe, jeder
    für sich, ihre Lustbefriedigung am eigenen Leibe suchen,

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    io ' Die Disposition

    und dann die Zusammenfassung aller Partialtriebe zur Ob-
    jektwahl unter dem Primat der Genitalien im Dienste der
    Fortpflanzung. Die Analyse der Paraphrenien hat uns, wie
    bekannt, genötigt, dazwischen ein Stadium des Narzißmus
    einzuschieben, in dem die Objektv'vahl bereits erfolgt ist,
    aber das Objekt noch mit dem eigenen Ich zusammenfällt.
    Und nun sehen wir die Notwendigkeit ein, ein weiteres
    Stadium vor der Endgestaltung gelten zu lassen, in dem die
    Partialtriebe bereits zur Objektwahl zusammengefaßt sind,
    das Objekt sich der eigenen Person schon als eine fremde
    gegenüberstellt, aber der Prima: der Genital-
    Zonen noch nicht aufgerichtet ist. Die Par-
    tialttiebe, welche diese prägenitale Organisation des
    Sexuallebens beherrschen, sind vielmehr die analerotischen
    und die sadistischen.

    Ich weiß, daß jede solche Aufstellung zunächst befremdend
    klingt. Erst durch die Aufdeckung ihrer Beziehungen zu
    unserem bisherigen Wissen wird sie uns vertraut, und am
    Ende ist ihr Schicksal häufig, daß sie als eine geringfügige,
    längst geehnte Neuerung erkannt wird. Wenden wir uns also
    mit ähnlichen Erwartungen zur Diskussion der „prägenitalen
    Sexualordnung“.

    n) Es ist bereits vielen Beobachtern aufgefallen und zuletzt
    mit besonderer Schärfe von E. Jones hervorgehoben wor-
    den, welche außerordentliche Rolle die Regungen von Haß
    und Analerotik in der Symptomatologie der Zwangsneurose
    spielen.’ Dies leitet sich nun unmittelbar aus unserer Auf—
    stellung ab‚ wenn es diese Partialtriebe sind, die in der Neu-
    rose die Vertretung der Getütaltriehe wieder übernommen
    haben, deren Vorgänger sie in der Entwicklung waren.

    Hier fügt sich nun das bisher zurückgehaltene Stück aus

    z) E. Jones: Haß und Analerotik in der Zwangsneurase.
    (Internat. Zeitschrift für ärztl. Psychoanfllyse, I, 1913, H. 5.)

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    zur Zwangmeurose ! 1

    der Krankengeschichte unseres Falles ein. Das Sexualleben
    der Patientin begann im zartesten Kindesalter rnit sadisti-
    schen Schlagephantasien. Nach deren Unterdrückung setzte
    eine ungewöhnlich lange Latenzzeit ein, in welcher das
    Mädchen eine hochreichendc moralische Entwicklung durch-
    machte, ohne zum weiblichen Sexualempfinden zu erwecken.
    Mit der in jungen jahren geschlossenen Ehe begann eine
    Periode normaler Sexualbet'aitignng als glückliche Frau, die
    durch eine Reihe von Jahren anhielt, bis die erste große
    Versagung die hystm'ische Neurose brachte. Mit der darauf fol-
    genden Entwertung des Genitallebens sank ihr Sexuallehen,
    wie erwähnt, auf die infantile Stufe des Sadismus zurück.

    Es ist nicht schwer, den Charakter zu bestimmen, in
    welchem sich dieser Fall von Zwangsneurose von den häufi-
    geren anderen unterscheidet, die in jüngeren jahren beginnen
    und von da. an chronisch mit mehr oder weniger auffälligen
    Exazerbationen verlaufen. In diesen anderen Fällen wird die
    Sexualorganisation‚ welche die Disposition zur Zwangs-
    neurose enthält, einmal hergestellt, nie wieder völlig überwun-
    den; in unserem Falle ist sie zuerst durch die höhere Ent-
    wicklungsstufe abgelöst und dann durch Regression von
    dieser her wieder aktiviert werden.

    b) Wenn wir von unserer Aufstellung aus den Anschluß
    an biologische Zusammenhänge suchen, dürfen wir nicht
    vergessen, daß der Gegensatz von männlich und weiblich,
    welcher von der Fortpflanzungsfunktion eingeführt wird,
    auf der Stufe der prägenitalen Objektwahl noch nicht vor-
    handen sein kann. An seiner Statt finden wir den Gegensatz
    von Strebungen mit aktivem und. passivem Ziel, der sich
    späterhin mit dem Gegensatz der Geschlechter verlöten wird.
    Die Aktivität wird vom gemeinen Bemiichtigungstrieb bei-
    gestellt, den wir eben Sadismus heißen, wenn wir ihn im
    Dienste der Sexualfunktion finden; er hat auch im voll-

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    u Die Disposition

    entwickelten normalen Sexualleben wichtige Helferdienste
    zu verrichten. Die passive Strömung wird von der Anal—
    erotik gespeist, deren erogene Zone der alten, undifierenzier—
    ten Kloake entspricht. Die Betonung dieser Analerotik auf
    der prägenitalen. Organisationsstufe wird beim Marine eine
    bedeutsame Prädisposition zur Homosexualität hinterlassen,
    wenn die nächste Stufe der Sexualfunktion, die des Primats
    der Genitalien, erreicht wird. Der Aufbau dieser letzten
    Phase über der vorigen und die dabei erfolgende Umarbei-
    tung der Libidobesetzungen bietet der analytischen Forschung
    die interessantesten Aufgaben.

    Man kann der Meinung sein, daß man sich allen hier in
    Betracht kommenden Schwierigkeiten und Komplikationen
    entzieht, wenn man eine prägenitale Organisation des Sexual-
    lebens verleugnet und das Sexualieben mit der Genital- und
    Fortpflanzungsfunktion zusammenfallen, wie auch mit ihr
    beginnen läßt. Von den Neurosen würde man dann mit
    Rücksicht auf die nicht mißverständlichen Ergebnisse der
    analytischen Forschung aussagen, daß sie durch den Prozeß
    der Sexualverdrängung dazu genötigt werden, sexuelle Sere—
    bungen durch andere nicht sexuelle Triebe auszudrücken,
    die letzteren also kompensatorisch zu semalisieren. Wenn
    man so verfährt, hat man sich aber außerhalb der Psycho-
    analyse begeben. Man steht wieder dort, wo man sich vor
    der Psychoanalyse befand, und muß auf das durch sie ver-
    mittelte Verständnis des Zusammenhanges zwischen Gesund-
    heit, Perversion und Neurose verzichten. Die Psychoanalyse
    steht und fällt mit der Anerkennung der sexuellen Partial-
    triebe, der erogenen Zonen und der so gewonnenen Aus-
    dehnung des Begrifies „Sexualfunktion“ im Gegensatz zur
    engeren „Genitalfunktion". Übrigens reicht die Beobachtung
    der normalen Entwicklung des Kindes für sich allein hin,
    um eine solche Versuchung zurückzuweisen.

  • S.

    zur Z wangmeurose 13

    :) Auf dem Gebiete der Chamkterentwicklung müssen
    wir denselben Triebkräften begegnen, deren Spiel wir in den
    Neurosen aufgedeckt haben. Eine scharfe theoretische Schei-
    dung der beiden wird aber durch den einen Umstand ge-
    boten, daß beim Charakter wegfällt, was dem Neurosen«
    mechanismus eigentümlich ist, das Mißglücken der Verdrän-
    gung und die Wiederkehr des Verdrängten. Bei der Charak-
    terbildung tritt die Verdrängung entweder nicht in Aktion
    oder sie erreicht glatt ihr Ziel, das Verdrängte durch Reak-
    tionsbildungen und Sublimierungen zu ersetzen. Darum sind
    die Prozesse der Charakterbildung undurchsichtiger und der
    Analyse unzugänglicher als die neurotischen.

    Gerade auf dem Gebiete der Charakterentwicklung be—
    gegnet uns aber eine gute Analogie zu dem von uns be—
    schriebenen Krankheitsfalle, also eine Bekräftigung der prä-
    genitalen sadistisch-analerotisehen Sexualorganisation. Es ist
    bekannt und hat den Menschen viel Stoff zur Klage gegeben,
    daß die Frauen häufig, nachdem sie ihre Genitalfunktionen
    aufgegeben haben, ihren Charakter in eigentiimlicher Weise
    verändern. Sie werden ziinkisch, quälerisch und rechthabe-
    risch, kleinlieh und geizig, zeigen also typische sadistischfl
    und analerotische Züge, die ihnen vorher in der Epoche der
    Weiblichkeit nicht eigen waren. Lustspieldichter und Sati-
    riker haben zu allen Zeiten ihre Invektiven gegen den „alten
    Drachen“ gerichtet, zu dem das beide Mädchen, die liebende
    Frau, die zärtliche Mutter geworden ist. Wir verstehen, daß
    diese Charakterwandlung der Regression des Sexuallehens
    auf die prägenitale sadistisch-analerotische Stufe entspricht,
    in welcher wir die Disposition zur Zwangsneurose gefunden
    haben. Sie wäre also nicht nur die Vorläuferin der genitalen
    Phase, sondern oft genug auch ihre Nachfolge und Ablösung,
    nachdem die Genitalien ihre Funktion erfüllt haben.

    Der Vergleich einer solchen Charakterveränclerung mit

  • S.

    14 Die Disposition

    der Zwangsneurose ist sehr eindrucksvoll. In beiden Fällen
    das Werk der Regression, aber im ersten Falle volle Regres-
    sion nach glatt vollzogener Verdrängung (oder Unter-
    drückung); im Falle der Neurose: Konflikt, Bemühung, die
    Regression nicht gelten zu lassen, Reaktionsbildungen gegen
    dieselbe und Symptombildungen durch Kompromisse von
    beiden Seiten her, Spaltung der psychischen Tätigkeiten in
    bewußtseinsfähige und unbewußte.

    d) Unsere Aufstellung einer prägenitlalen Sexualorganisa-
    tion ist nach zwei Richtungen hin unvollständig. Sie nimmt
    erstens keine Rücksicht auf das Verhalten anderer Partial—
    triebe, an dem manches der Erforschung und Erwähnung
    wert wäre, und begnügt sich, den auffälligen Prima: von
    Sadisrnus und Analerotik herauszuheben. Besonders vom
    Wißtrieb gewinnt man häufig den Eindruck, als ob er im
    Mechanismus der Zwangsneurose den Sadismus geradezu
    ersetzen könnte. Er ist ja im Grunde ein sublirnierter, ins
    Intellektuelle gehobener Sprößling des Bem'a'chtigungstriebes,
    seine Zurückweisung in der Form des Zweifels nimmt im
    Bilde der Zwangsneurosc einen breiten Raum ein.

    Ein zweiter Mangel ist weit bedeutsamer. Wir wissen, daß
    die entwicklungsgmchichtliche Disposition fiir eine Neurose
    nur dann vollständig ist, wenn sie die Phase der Ichentwick-
    lung, in welcher die Fixierung eintritt, ebenso berücksichtigt
    wie die der Libidoentwicklung. Unsere Aufstellung hat sich
    aber nur auf die letztere bezogen‚ sie enthält also nicht die
    ganze Kenntnis, die wir fordern dürfen. Die Entwicklungs-
    Stadien der Ichtriebe sind uns bis jetzt sehr wenig bekannt;
    ich weiß nur von einem vielverspreehenden Versuch von
    F e r en czi, sich diesen Fragen zu nähern.’ Ich weiß nicht,

    3) Ferenczi: Entwicklungsstufen des Wirklichkeitssinnes.
    Internat. Zeitschr. für ärztl. Psychoanalyse, I, 1913. (Fe ren czi,
    Bausteine zur Psychoanalyse Bd. I, S. 62 E.)

  • S.

    zur Zwmgrneurose “

    ob es zu gewagt erscheint, wenn ich den vorhandenen
    Spuren folgend die Annahme ausspreche, daß ein zeitliches
    Voraneilen der Ichentwicklung vor der Libidoentwiclslung
    in die Disposition zur Zwangsneurose einzutragen ist. Eine
    solche Voreiligkeit wiirde von den Ichtrieben her zur
    Objektwa.hl nötigen, während die Sexualfunktion ihre letzte
    Gestaltung noch nicht erreicht hat, und somit eine Fixierung
    auf der Stufe der prägenitalen Sexualordnung hinterlassen.
    Erwägt man, daß die Zwangsneurodker eine Übermoral ent-
    wickeln müssen, um ihre Objektliebe gegen die hinter ihr
    lauernde Feindseligkeit zu verteidigen, so wird man geneigt
    sein, ein gewisses Maß von diesem Verweilen der Ichent-
    wicklung als typisch für die menschliche Natur hinzustellen
    und die Fähigkeit zur Entstehung der Moral in dem Um-
    stand begründet zu finden, daß nach der Entwicklung der
    Haß der Vorläufer der Liebe ist. Vielleicht ist dies die Be-
    deutung eines Satzes von W. Stekel, der mir seinerzeit
    unfzßbar erschien, daß der Haß und nicht die Liebe die pri—
    märe Gefühlsheziehung zwischen den Menschen sei.‘

    e) Fiir die Hysterie erübrigt nach dem Vorstehenden die
    innige Beziehung zur letzten Phase der Libidoentwicklung,
    die durch den Primat der Genitalien und die Einführung
    der Fortpflanzungsfunktion ausgezeichnet ist. Dieser Erwerb
    unterliegt in der hysterischen Neurose der Verdrängung, mit
    welcher eine Regression auf die prägenitale Stufe nicht ver-
    bunden ist. Die Lücke in der Bestimmung der Disposition
    infolge unserer Unkenntnis der Ichentwicklung ist hier noch
    fühlbarer als bei der Zwangsneurose.

    Hingegen ist es nicht schwer nachzuweisen, daß eine
    andere Regression auf ein früheres Niveau auch der Hysterie
    zukommt. Die Sexualität des weiblichen Kindes steht, wie

    4) W. Stekel: Die Sprache des Traumes, 1911, S. 536.

  • S.

    16 Die Di;pmition zur Zwangmeurose

    wir wissen, unter der Herrschaft eines männlichen Leitorgans
    (der Klitoris) und benimmt sich vielfach wie die des Knaben.
    Ein letzter Entwicklungschub zur Zeit der Pubertät muß
    diese männliche Sexualität Wegschaflen und die von der
    Kloake abgeleitete Vagina zur herrschenden erogenen Zone
    erheben. Es ist nun sehr gewöhnlich, daß in der hysterischen
    Neurose der Frauen eine Reaktivierung dieser verdrängten
    männlichen Sexualität statt hat, gegen welche sich dann
    der Abwehrkampf von seiten der ichgerechben Triebe
    richtet. Doch* erscheint es mir vorzeitig, an dieser Stelle in
    die Diskussion der Probleme der hysterischen Disposition
    einzutreten.

    ZWEI KINDERLÜGEN

    (1913)

    Es ist begreiflieh, daß Kinder lügen, wenn sie damit die
    Lügen der Erwachsenen nachahmen. Aber eine Anzahl von
    Lügen von gut geratenen Kindern haben eine besondere Be—
    deutung und sollten die Erzieher nachdenklich machen,
    anstatt sie zu erbittern. Sie erfolgen unter dem Einfluß über-
    starker Liebesmotive und werden verhängnisvoll, wenn sie
    ein Mißverst'a'ndnis zwischen dem Kind: und der von ihm
    geliebten Person herbeiführen.

    I

    Das siebenjährige Mädchen (im zweiten Schuljahr) hat
    vom Vater Geld verlangt, um Farben zum Bemalen von
    Ostereiern zu kaufen. Der Vater hat es abgeschlagen mit der
    Begründung, er habe kein Geld. Kurz darauf verlangte es
    vom Vater Geld, um zu einem Kranz für die verstorbene
    Landesfürstin beizusteuern. Jedes der Schulkinder soll fünf-