S.
110
I.
Die Handhabung der Traumdeutung in der
Psychoanalyse.Von Sigm. Freud.
Das „Zentralblatt für Psychoanalyse“ hat sich nicht nur die eine
Aufgabe gesetzt, über die Fortschritte der Psychoanalyse zu orientieren
und selbst kleinere Beiträge zur Veröffentlichung zu bringen, sondern
möchte auch den anderen Aufgaben genügen, das bereits Erkannte in
klarer Fassung dem Lernenden vorzulegen und dem Anfänger in der
analytischen Behandlung durch geeignete Anweisungen Aufwand an Zeit
und Mühe zu ersparen. Es werden darum in dieser Zeitschrift von
nun an auch Aufsätze didaktischer Natur und technischen Inhaltes er-
scheinen, an denen es nicht wesentlich ist, ob sie auch etwas Neues
mitteilen.Die Frage, die ich heute zu behandeln gedenke, ist nicht die nach
der Technik der Traumdeutung. Es soll nicht erörtert werden, wie
man Träume zu deuten und deren Deutung zu verwerten habe, sondern
nur, welchen Gebrauch man bei der psychoanalytischen Behandlung von
Kranken von der Kunst der Traumdeutung machen solle. Man kann
dabei gewiss in verschiedener Weise vorgehen, aber die Antwort auf
technische Fragen ist in der Psychoanalyse niemals selbstverständlich.
Wenn es vielleicht mehr als nur einen guten Weg gibt, so gibt es doch
sehr viele schlechte, und eine Vergleichung verschiedener Techniken
kann nur aufklärend wirken, auch wenn sie nicht zur Entscheidung für
eine bestimmte Methode führen sollte.Wer von der Traumdeutung her zur analytischen Behandlung
kommt, der wird sein Interesse für den Inhalt der Träume festhalten
und darum jeden Traum, den ihm der Kranke erzählt, zur möglichst
vollständigen Deutung bringen wollen. Er wird aber bald merken können,
dass er sich nun unter ganz andersartigen Verhältnissen befindet, und
dass er mit den nächsten Aufgaben der Therapie in Kollision gerät,
wenn er seinen Vorsatz durchführen will. Erwies sich etwa der erste
Traum des Patienten als vortrefflich brauchbar für die Anknüpfung derS.
110
ersten an den Kranken zu richtenden Aufklärungen, so stellen sich alsbald
Träume ein, die so lang und so dunkel sind, dass ihre Deutung in der
begrenzten Arbeitsstunde eines Tages nicht zu Ende gebracht werden
kann. Setzt der Arzt diese Deutungsarbeit durch die nächsten Tage
fort, so wird ihm unterdes von neuen Träumen berichtet, die zurück-
gestellt werden müssen, bis er den ersten Traum für erledigt halten
kann. Gelegentlich ist die Traumproduktion so reichlich und der Fort-
schritt des Kranken im Verständnis der Träume dabei so zögernd, dass
der Analytiker sich der Idee nicht erwehren kann, diese Art der
Darreichung des Materials sei nur eine Äusserung des Widerstandes,
welcher sich der Erfahrung bedient, dass die Kur den ihr so gebotenen
Stoff nicht bewältigen kann. Unterdes ist die Kur aber ein ganzes
Stück hinter der Gegenwart zurückgeblieben und hat den Kontakt mit der
Aktualität eingebüsst. Einer solchen Technik muss man die Regel ent-
gegenhalten, dass es für die Behandlung von grösster Bedeutung ist,
die jeweilige psychische Oberfläche des Kranken zu kennen, darüber
orientiert zu sein, welche Komplexe und welche Widerstände derzeit
bei ihm rege gemacht sind, und welche bewusste Reaktion dagegen sein
Benehmen leiten wird. Dieses therapeutische Ziel darf kaum jemals
zu Gunsten des Interesses an der Traumdeutung hintangesetzt werden.Wie soll man es also mit der Traumdeutung in der Analyse halten,
wenn man jener Regel eingedenk bleiben will? Etwa so: Man begnüge
sich jedesmal mit dem Ergebnis an Deutung, welches in einer Stunde
zu gewinnen ist, und halte es nicht für einen Verlust, dass man den
Inhalt des Traumes nicht vollständig erkannt hat. Am nächsten Tage
setze man die Deutungsarbeit nicht wie selbstverständlich fort, sondern
erst dann, wenn man merkt, dass inzwischen nichts anderes sich beim
Kranken in den Vordergrund gedrängt hat. Man mache also von der
Regel, immer das zu nehmen, was dem Kranken zunächst in den Sinn
kommt, zu Gunsten einer unterbrochenen Traumdeutung keine Ausnahme.
Haben sich neue Träume eingestellt, ehe man die früheren zu Ende
gebracht, so wende man sich diesen rezenteren Produktionen zu und
mache sich aus der Vernachlässigung der älteren keinen Vorwurf. Sind
die Träume gar zu umfänglich und weitschweifig geworden, so verzichte
man bei sich von vornherein auf eine vollständige Lösung. Man hüte sich
im allgemeinen davor, ein ganz besonderes Interesse für die Deutung der
Träume an den Tag zu legen oder im Kranken die Meinung zu erwecken,
dass die Arbeit stille stehen müsse, wenn er keine Träume bringe. Man
läuft sonst Gefahr, den Widerstand auf die Traumproduktion zu lenken
und ein Versiegen der Träume hervorzurufen. Der Analysierte muss
vielmehr zur Überzeugung erzogen werden, dass die Analyse in jedem
Falle Material zu ihrer Fortsetzung findet, gleichgültig ob er Träume
beibringt oder nicht, und in welchem Ausmasse man sich mit ihnen be-
schäftigt.Man wird nun fragen: Verzichtet man nicht auf zuviel wertvolles
Material zur Aufdeckung des Unbewussten, wenn man die Traumdeutung
nur unter solchen methodischen Einschränkungen ausübt? Darauf ist
folgendes zu erwidern: Der Verlust ist keineswegs so gross, wie es bei
geringer Vertiefung in den Sachverhalt erscheinen wird. Man mache
sich einerseits klar, dass irgend ausführliche Traumproduktionen bei
schweren Fällen von Neurosen nach allen Voraussetzungen als prinzipiellS.
111
nicht vollständig lösbar beurteilt werden müssen. Ein solcher Traum
baut sich oft über dem gesamten pathogenen Material des Falles auf,
welches Arzt und Patient noch nicht kennen (sogenannte Programmträume,
biographische Träume); er ist gelegentlich einer Übersetzung des ganzen
Inhalts der Neurose in die Traumsprache gleichzustellen. Beim Versuch,
einen solchen Traum zu deuten, werden alle noch unangetastet vor-
handenen Widerstände zur Wirkung kommen und der Einsicht bald eine
Grenze setzen. Die vollständige Deutung eines solchen Traumes fällt
eben zusammen mit der Ausführung der ganzen Analyse. Hat man ihn zu
Beginn der Analyse notiert, so kann man ihn etwa am Ende derselben,
nach vielen Monaten, verstehen. Es ist derselbe Fall wie beim Ver-
ständnis eines einzelnen Symptoms (des Hauptsymptoms etwa). Die
ganze Analyse dient der Aufklärung desselben; während der Behandlung
muss man der Reihe nach bald dies bald jenes Stück der Symptom-
bedeutung zu erfassen suchen, bis man all diese Stücke zusammensetzen
kann. Mehr darf man also auch von einem zu Anfang der Analyse
vorfallenden Traume nicht verlangen; man muss sich zufrieden geben,
wenn man aus dem Deutungsversuch zunächst eine einzelne pathogene
Wunschregung errät.Man verzichtet also auf nichts Erreichbares, wenn man die Ab-
sicht einer vollständigen Traumdeutung aufgibt. Man verliert aber auch
in der Regel nichts, wenn man die Deutung eines älteren Traumes ab-
bricht, um sich einem rezenteren zuzuwenden. Wir haben aus schönen
Beispielen voll gedeuteter Träume erfahren, dass mehrere aufeinander-
folgende Szenen desselben Traumes den nämlichen Inhalt haben können,
der sich in ihnen etwa mit steigender Deutlichkeit durchsetzt. Wir
haben ebenso gelernt, dass mehrere in derselben Nacht vorfallende
Träume nichts anderes zu sein brauchen als Versuche, denselben Inhalt
in verschiedener Ausdrucksweise darzustellen. Wir können ganz all-
gemein versichert sein, dass jede Wunschregung, die sich heute einen
Traum schafft, in einem anderen Traume wiederkehren wird, solange sie
nicht verstanden und der Herrschaft des Unbewussten entzogen ist. So
wird auch oft der beste Weg, um die Deutung eines Traumes zu ver-
vollständigen, darin bestehen, dass man ihn verlässt, um sich dem neuen
Traum zu widmen, der das nämliche Material in vielleicht zugänglicherer
Form wieder aufnimmt. Ich weiss, dass es nicht nur für den Analysierten,
sondern auch für den Arzt eine starke Zumutung ist, die bewussten
Zielvorstellungen bei der Behandlung aufzugeben und sich ganz einer
Leitung zu überlassen, die uns doch immer wieder als „zufällig“ er-
scheint. Aber ich kann versichern, es lohnt sich jedesmal, wenn man
sich entschliesst, seinen eigenen theoretischen Behauptungen Glauben
zu schenken, und sich dazu überwindet, die Herstellung des Zusammen-
hanges der Führung des Unbewussten nicht streitig zu machen.Ich plädiere also dafür, dass die Traumdeutung in der analyti-
schen Behandlung nicht als Kunst um ihrer selbst willen betrieben
werden soll, sondern dass ihre Handhabung jenen technischen Regeln
unterworfen werde, welche die Ausführung der Kur überhaupt beherrschen.
Natürlich kann man es gelegentlich auch anders machen und seinem
theoretischen Interesse ein Stück weit nachgehen. Man muss dabei
aber immer wissen, was man tut. Ein anderer Fall ist noch in Betracht
zu ziehen, der sich ergeben hat, seitdem wir zu unserem VerständnisS.
112
der Traumsymbolik grösseres Zutrauen haben und uns von den Einfällen
der Patienten unabhängiger wissen. Ein besonders geschickter Traum-
deuter kann sich etwa in der Lage befinden, dass er jeden Traum des
Patienten durchschaut, ohne diesen zur mühsamen und zeitraubenden
Bearbeitung des Traumes anhalten zu müssen. Für einen solchen Analytiker
entfallen also alle Konflikte zwischen den Anforderungen der Traum-
deutung und jenen der Therapie. Er wird sich auch versucht fühlen,
die Traumdeutung jedesmal voll auszunützen und dem Patienten alles
mitzuteilen, was er aus seinen Träumen erraten hat. Dabei hat er
aber eine Methodik der Behandlung eingeschlagen, die von der regulären
nicht unerheblich abweicht, wie ich in anderem Zusammenhange dartun
werde. Dem Anfänger in der psychoanalytischen Behandlung ist jeden-
falls zu widerraten, dass er sich diesen aussergewöhnlichen Fall zum
Vorbild nehme.Gegen die allerersten Träume, die ein Patient in der analytischen
Behandlung mitteilt, so lange er selbst noch nichts von der Technik der
Traumübersetzung gelernt hat, verhält sich jeder Analytiker wie jener
von uns angenommene überlegene Traumdeuter. Diese initialen Träume
sind sozusagen naiv, sie verraten dem Zuhörer sehr viel, ähnlich wie
die Träume sogenannt gesunder Menschen. Es entsteht nun die Frage,
soll der Arzt auch sofort dem Kranken alles übersetzen, was er selbst
aus dem Traume herausgelesen hat. Diese Frage soll aber hier nicht
beantwortet werden, denn sie ist offenbar der umfassenderen Frage
untergeordnet, in welchen Phasen der Behandlung und in welchem Tempo
der Kranke in die Kenntnis des ihm seelisch Verhüllten vom Arzte ein-
geführt werden soll. Je mehr dann der Patient von der Übung der
Traumdeutung erlernt hat, desto dunkler werden in der Regel seine
späteren Träume. Alles erworbene Wissen um den Traum dient auch
der Traumbildung als Warnung.In den „wissenschaftlichen“ Arbeiten über den Traum, die trotz
der Ablehnung der Traumdeutung durch die Psychoanalyse einen neuen
Impuls empfangen haben, findet man immer wieder eine recht über-
flüssige Sorgfalt auf die getreue Erhaltung des Traumtextes verlegt, der
angeblich vor den Entstellungen und Usuren der nächsten Tagesstunden
bewahrt werden muss. Auch manche Psychoanalytiker scheinen sich
ihrer Einsicht in die Bedingungen der Traumbildung nicht konsequent
genug zu bedienen, wenn sie dem Behandelten den Auftrag geben, jeden
Traum unmittelbar nach dem Erwachen schriftlich zu fixieren. Diese
Massregel ist in der Therapie überflüssig; auch bedienen sich die Kranken
der Vorschrift gern, um sich im Schlafe zu stören und einen grossen
Eifer dort anzubringen, wo er nicht von Nutzen sein kann. Hat man
nämlich auf solche Weise mühselig einen Traumtext gerettet, der sonst
vom Vergessen verzehrt worden wäre, so kann man sich doch leicht
überzeugen, dass für den Kranken damit nichts erreicht ist. Zu dem
Text stellen sich die Einfälle nicht ein, und der Effekt ist der nämliche,
als ob der Traum nicht erhalten geblieben wäre. Der Arzt hat aller-
dings in dem einen Falle etwas erfahren, was ihm im anderen entgangen
wäre. Aber es ist nicht dasselbe, ob der Arzt oder ob der Patient
etwas weiss; die Bedeutung dieses Unterschiedes für die Technik der
Psychoanalyse soll ein anderes Mal von uns gewürdigt werden.S.
113
Ich will endlich noch einen besonderen Typus von Träumen er-
wähnen, die ihren Bedingungen nach nur in einer psychoanalytischen
Kur vorkommen können, und die den Anfänger befremden oder irre-
führen mögen. Es sind dies die sog. nachhinkenden oder bestätigenden
Träume, die der Deutung leicht zugänglich sind und als Übersetzung
nichts anderes ergeben, als was die Kur in den letzten Tagen aus dem
Material der Tageseinfälle erschlossen hatte. Es sieht dann so aus, als
hätte der Patient die Liebenswürdigkeit gehabt, gerade das in Traum-
form zu bringen, was man ihm unmittelbar vorher „suggeriert“ hat.
Der geübtere Analytiker hat allerdings Schwierigkeiten, seinem Patienten
solche Liebenswürdigkeiten zuzumuten; er greift solche Träume als er-
wünschte Bestätigungen auf und konstatiert, dass sie nur unter be-
stimmten Bedingungen der Beeinflussung durch die Kur beobachtet
werden. Die weitaus zahlreichsten Träume eilen ja der Kur voran, so
dass sich aus ihnen nach Abzug von allem bereits Bekannten und Ver-
ständlichen ein mehr oder minder deutlicher Hinweis auf etwas, was
bisher verborgen war, ergibt.S.
109
–113