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ZUR TECHNIK DER
PSYCHOANALYSEDIE HANDHABUNG
DER TRAUMDEUTUNG IN DER
PSYCHOANALYSE(1912)
Das „Zentralblatt für Psychoanalyse“ hat sich nicht nur
die eine Aufgabe gesetzt, über die Fortschritte der Psycho-
analyse zu orientieren und selbst kleinere Beiträge zur Ver-
öffentlichung zu bringen, sondern möchte auch den anderen
Aufgaben genügen, das bereits Erkannte in klarer Fassung
dem Lernenden vorzulegen und dem Anfänger in der analy-
tischen Behandlung durch geeignete Anweisungen Aufwand
an Zeit und Mühe zu ersparen. Es werden darum in dieser
Zeitschrift von nun an auch Aufsätze didaktischer Natur
und technischen Inhaltes erscheinen, an denen es nicht
wesentlich ist, ob sie auch etwas Neues mitteilen.Die Frage, die ich heute zu behandeln gedenke, ist nicht
die nach der Technik der Traumdeutung. Es soll nicht er-
örtert werden, wie man Träume zu deuten und deren Deutung
zu verwerten habe, sondern nur, welchen Gebrauch man bei
der psychoanalytischen Behandlung von Kranken von der
Kunst der Traumdeutung machen solle. Man kann dabei
gewiß in verschiedener Weise vorgehen, aber die Antwort
auf technische Fragen ist in der Psychoanalyse niemals selbstverständlich.S.
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Wenn es vielleicht mehr als nur einen guten
Weg gibt, so gibt es doch sehr viele schlechte, und eine Ver-
gleichung verschiedener Techniken kann nur aufklärend
wirken, auch wenn sie nicht zur Entscheidung für eine be-
stimmte Methode führen sollte.Wer von der Traumdeutung her zur analytischen Be-
handlung kommt, der wird sein Interesse für den Inhalt der
Träume festhalten und darum jeden Traum, den ihm der
Kranke erzählt, zur möglichst vollständigen Deutung bringen
wollen. Er wird aber bald merken können, daß er sich nun
unter ganz andersartigen Verhältnissen befindet, und daß er
mit den nächsten Aufgaben der Therapie in Kollision gerät,
wenn er seinen Vorsatz durchführen will. Erwies sich etwa
der erste Traum des Patienten als vortrefflich brauchbar für
die Anknüpfung der ersten an den Kranken zu richtenden
Aufklärungen, so stellen sich alsbald Träume ein, die so
lang und so dunkel sind, daß ihre Deutung in der begrenzten
Arbeitsstunde eines Tages nicht zu Ende gebracht werden
kann. Setzt der Arzt diese Deutungsarbeit durch die nächsten
Tage fort, so wird ihm unterdes von neuen Träumen be-
richtet, die zurückgestellt werden müssen, bis er den ersten
Traum für erledigt halten kann. Gelegentlich ist die Traum-
produktion so reichlich und der Fortschritt des Kranken im
Verständnis der Träume dabei so zögernd, daß der Analytiker
sich der Idee nicht erwehren kann, diese Art der Darreichung
des Materials sei nur eine Äußerung des Widerstandes,
welcher sich der Erfahrung bedient, daß die Kur den ihr so
gebotenen Stoff nicht bewältigen kann. Unterdes ist die Kur
aber ein ganzes Stück hinter der Gegenwart zurückgeblieben
und hat den Kontakt mit der Aktualität eingebüßt. Einer
solchen Technik muß man die Regel entgegenhalten, daß es
für die Behandlung von größter Bedeutung ist, die jeweilige
psychische Oberfläche des Kranken zu kennen, darüberS.
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orientiert zu sein, welche Komplexe und welche Widerstände
derzeit bei ihm rege gemacht sind, und welche bewußte
Reaktion dagegen sein Benehmen leiten wird. Dieses thera-
peutische Ziel darf kaum jemals zu Gunsten des Interesses an
der Traumdeutung hintangesetzt werden.Wie soll man es also mit der Traumdeutung in der Analyse
halten, wenn man jener Regel eingedenk bleiben will? Etwa
so: Man begnüge sich jedesmal mit dem Ergebnis an Deutung,
welches in einer Stunde zu gewinnen ist, und halte es nicht
für einen Verlust, daß man den Inhalt des Traumes nicht
vollständig erkannt hat. Am nächsten Tage setze man die
Deutungsarbeit nicht wie selbstverständlich fort, sondern erst
dann, wenn man merkt, daß inzwischen nichts anderes sich
beim Kranken in den Vordergrund gedrängt hat. Man mache
also von der Regel, immer das zu nehmen, was dem Kranken
zunächst in den Sinn kommt, zu Gunsten einer unter-
brochenen Traumdeutung keine Ausnahme. Haben sich neue
Träume eingestellt, ehe man die früheren zu Ende gebracht,
so wende man sich diesen rezenteren Produktionen zu und
mache sich aus der Vernachlässigung der älteren keinen
Vorwurf. Sind die Träume gar zu umfänglich und weit-
schweifig geworden, so verzichte man bei sich von vornherein
auf eine vollständige Lösung. Man hüte sich im allgemeinen
davor, ein ganz besonderes Interesse für die Deutung der
Träume an den Tag zu legen oder im Kranken die Meinung
zu erwecken, daß die Arbeit stille stehen müsse, wenn er
keine Träume bringe. Man läuft sonst Gefahr, den Wider-
stand auf die Traumproduktion zu lenken und ein Versiegen
der Träume hervorzurufen. Der Analysierte muß vielmehr
zur Überzeugung erzogen werden, daß die Analyse in jedem
Falle Material zu ihrer Fortsetzung findet, gleichgültig ob
er Träume beibringt oder nicht, und in welchem Ausmaße
man sich mit ihnen beschäftigt.S.
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Man wird nun fragen: Verzichtet man nicht auf zuviel
wertvolles Material zur Aufdeckung des Unbewußten, wenn
man die Traumdeutung nur unter solchen methodischen Ein-
schränkungen ausübt? Darauf ist folgendes zu erwidern: Der
Verlust ist keineswegs so groß, wie es bei geringer Vertiefung
in den Sachverhalt erscheinen wird. Man mache sich einer-
seits klar, daß irgend ausführliche Traumproduktionen bei
schweren Fällen von Neurosen nach allen Voraussetzungen
als prinzipiell nicht vollständig lösbar beurteilt werden
müssen. Ein solcher Traum baut sich oft über dem gesamten
pathogenen Material des Falles auf, welches Arzt und Patient
noch nicht kennen (sogenannte Programmträume, biographi-
sche Träume); er ist gelegentlich einer Übersetzung des ganzen
Inhalts der Neurose in die Traumsprache gleichzustellen.
Beim Versuch einen solchen Traum zu deuten, werden alle
noch unangetastet vorhandenen Widerstände zur Wirkung
kommen und der Einsicht bald eine Grenze setzen. Die voll-
ständige Deutung eines solchen Traumes fällt eben zusammen
mit der Ausführung der ganzen Analyse. Hat man ihn zu
Beginn der Analyse notiert, so kann man ihn etwa am Ende
derselben, nach vielen Monaten, verstehen. Es ist derselbe
Fall wie beim Verständnis eines einzelnen Symptoms (des
Hauptsymptoms etwa). Die ganze Analyse dient der Auf-
klärung desselben; während der Behandlung muß man der
Reihe nach bald dies bald jenes Stück der Symptom-
bedeutung zu erfassen suchen, bis man all diese Stücke
zusammensetzen kann. Mehr darf man also auch von einem
zu Anfang der Analyse vorfallenden Traume nicht ver-
langen; man muß sich zufrieden geben, wenn man aus dem
Deutungsversuch zunächst eine einzelne pathogene Wunsch-
regung errät.Man verzichtet also auf nichts Erreichbares, wenn man die
Absicht einer vollständigen Traumdeutung aufgibt. Man verliertS.
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aber auch in der Regel nichts, wenn man die Deutung
eines älteren Traumes abbricht, um sich einem rezenteren zu-
zuwenden. Wir haben aus schönen Beispielen voll gedeuteter
Träume erfahren, daß mehrere aufeinanderfolgende Szenen
desselben Traumes den nämlichen Inhalt haben können, der
sich in ihnen etwa mit steigender Deutlichkeit durchsetzt. Wir
haben ebenso gelernt, daß mehrere in derselben Nacht vor-
fallende Träume nichts anderes zu sein brauchen als Ver-
suche, denselben Inhalt in verschiedener Ausdrucksweise dar-
zustellen. Wir können ganz allgemein versichert sein, daß
jede Wunschregung, die sich heute einen Traum schafft, in
einem anderen Traume wiederkehren wird, solange sie nicht
verstanden und der Herrschaft des Unbewußten entzogen
ist. So wird auch oft der beste Weg, um die Deutung eines
Traumes zu vervollständigen, darin bestehen, daß man ihn
verläßt, um sich dem neuen Traume zu widmen, der das
nämliche Material in vielleicht zugänglicherer Form wieder
aufnimmt. Ich weiß, daß es nicht nur für den Analysierten,
sondern auch für den Arzt eine starke Zumutung ist, die
bewußten Zielvorstellungen bei der Behandlung aufzugeben
und sich ganz einer Leitung zu überlassen, die uns doch
immer wieder als „zufällig“ erscheint. Aber ich kann ver-
sichern, es lohnt sich jedesmal, wenn man sich entschließt,
seinen eigenen theoretischen Behauptungen Glauben zu
schenken, und sich dazu überwindet, die Herstellung des
Zusammenhanges der Führung des Unbewußten nicht streitig
zu machen.Ich plädiere also dafür, daß die Traumdeutung in der
analytischen Behandlung nicht als Kunst um ihrer selbst
willen betrieben werden soll, sondern daß ihre Handhabung
jenen technischen Regeln unterworfen werde, welche die
Ausführung der Kur überhaupt beherrschen. Natürlich kann
man es gelegentlich auch anders machen und seinem theoretischenS.
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Interesse ein Stück weit nachgehen. Man muß dabei
aber immer wissen, was man tut. Ein anderer Fall ist noch
in Betracht zu ziehen, der sich ergeben hat, seitdem wir zu
unserem Verständnis der Traumsymbolik größeres Zutrauen
haben und uns von den Einfällen der Patienten unabhängiger
wissen. Ein besonders geschickter Traumdeuter kann sich
etwa in der Lage befinden, daß er jeden Traum des Patienten
durchschaut, ohne diesen zur mühsamen und zeitraubenden
Bearbeitung des Traumes anhalten zu müssen. Für einen
solchen Analytiker entfallen also alle Konflikte zwischen
den Anforderungen der Traumdeutung und jenen der
Therapie. Er wird sich auch versucht fühlen, die Traum-
deutung jedesmal voll auszunützen und dem Patienten alles
mitzuteilen, was er aus seinen Träumen erraten hat. Dabei
hat er aber eine Methodik der Behandlung eingeschlagen, die
von der regulären nicht unerheblich abweicht, wie ich in
anderem Zusammenhange dartun werde. Dem Anfänger in
der psychoanalytischen Behandlung ist jedenfalls zu wider-
raten, daß er sich diesen außergewöhnlichen Fall zum Vor-
bild nehme.Gegen die allerersten Träume, die ein Patient in der ana-
lytischen Behandlung mitteilt, so lange er selbst noch nichts
von der Technik der Traumübersetzung gelernt hat, verhält
sich jeder Analytiker wie jener von uns angenommene über-
legene Traumdeuter. Diese initialen Träume sind sozusagen
naiv, sie verraten dem Zuhörer sehr viel, ähnlich wie die
Träume sogenannt gesunder Menschen. Es entsteht nun die
Frage, soll der Arzt auch sofort dem Kranken alles über-
setzen, was er selbst aus dem Traume herausgelesen hat.
Diese Frage soll aber hier nicht beantwortet werden, denn
sie ist offenbar der umfassenderen Frage untergeordnet, in
welchen Phasen der Behandlung und in welchem Tempo der
Kranke in die Kenntnis des ihm seelisch Verhüllten vomS.
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Arzte eingeführt werden soll. Je mehr dann der Patient von
der Übung der Traumdeutung erlernt hat, desto dunkler
werden in der Regel seine späteren Träume. Alles erworbene
Wissen um den Traum dient auch der Traumbildung als
Warnung.In den „wissenschaftlichen“ Arbeiten über den Traum, die
trotz der Ablehnung der Traumdeutung einen neuen Impuls
durch die Psychoanalyse empfangen haben, findet man
immer wieder eine recht überflüssige Sorgfalt auf die getreue
Erhaltung des Traumtextes verlegt, der angeblich vor den
Entstellungen und Usuren der nächsten Tagesstunden be-
wahrt werden muß. Auch manche Psychoanalytiker scheinen
sich ihrer Einsicht in die Bedingungen der Traumbildung
nicht konsequent genug zu bedienen, wenn sie dem Behandel-
ten den Auftrag geben, jeden Traum unmittelbar nach dem
Erwachen schriftlich zu fixieren. Diese Maßregel ist in der
Therapie überflüssig; auch bedienen sich die Kranken der
Vorschrift gern, um sich im Schlafe zu stören und einen
großen Eifer dort anzubringen, wo er nicht von Nutzen sein
kann. Hat man nämlich auf solche Weise mühselig einen
Traumtext gerettet, der sonst vom Vergessen verzehrt wor-
den wäre, so kann man sich doch leicht überzeugen, daß für
den Kranken damit nichts erreicht ist. Zu dem Text stellen
sich die Einfälle nicht ein, und der Effekt ist der nämliche,
als ob der Traum nicht erhalten geblieben wäre. Der Arzt
hat allerdings in dem einen Falle etwas erfahren, was ihm
im anderen entgangen wäre. Aber es ist nicht dasselbe, ob
der Arzt oder ob der Patient etwas weiß; die Bedeutung
dieses Unterschiedes für die Technik der Psychoanalyse soll
ein anderes Mal von uns gewürdigt werden.Ich will endlich noch einen besonderen Typus von
Träumen erwähnen, die ihren Bedingungen nach nur in einer
psychoanalytischen Kur vorkommen können, und die denS.
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Anfänger befremden oder irreführen mögen. Es sind dies die
sogenannten nachhinkenden oder bestätigenden Träume, die
der Deutung leicht zugänglich sind und als Übersetzung
nichts anderes ergeben, als was die Kur in den letzten Tagen
aus dem Material der Tageseinfälle erschlossen hatte. Es
sieht dann so aus, als hätte der Patient die Liebenswürdig-
keit gehabt, gerade das in Traumform zu bringen, was man
ihm unmittelbar vorher „suggeriert“ hat. Der geübtere
Analytiker hat allerdings Schwierigkeiten, seinem Patienten
solche Liebenswürdigkeiten zuzumuten; er greift solche
Träume als erwünschte Bestätigungen auf und konstatiert,
daß sie nur unter bestimmten Bedingungen der Beeinflussung
durch die Kur beobachtet werden. Die weitaus zahlreichsten
Träume eilen ja der Kur voran, so daß sich aus ihnen nach
Abzug von allem bereits Bekannten und Verständlichen ein
mehr oder minder deutlicher Hinweis auf etwas, was bisher
verborgen war, ergibt.
freud-1931-neurosenlehre
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