Die Handhabung der Traumdeutung in der Psychoanalyse 1911-004/1925
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    DIE HANDHABUNG DER TRAUMDEUTUNG
    IN DER PSYCHOANALYSE

    Erschien zuerst im „Zentralblatt für Psycho-
    analyse“, II (1912), dann in der Vierten Folge der 
    „Sammlung kleiner Schriften zur Neurosenlehre“.

    Das „Zentralblatt für Psychoanalyse“ hat sich nicht nur die eine
    Aufgabe gesetzt, über die Fortschritte der Psychoanalyse zu
    orientieren und selbst kleinere Beiträge zur Veröffentlichung zu
    bringen, sondern möchte auch den anderen Aufgaben genügen,
    das bereits Erkannte in klarer Fassung dem Lernenden vorzu-
    legen und dem Anfänger in der analytischen Behandlung durch
    geeignete Anweisungen Aufwand an Zeit und Mühe zu ersparen.
    Es werden darum in dieser Zeitschrift von nun an auch Aufsätze
    didaktischer Natur und technischen Inhaltes erscheinen, an
    denen es nicht wesentlich ist, ob sie auch etwas Neues mit-
    teilen.

    Die Frage, die ich heute zu behandeln gedenke, ist nicht
    die nach der Technik der Traumdeutung. Es soll nicht erörtert
    werden, wie man Träume zu deuten und deren Deutung zu
    verwerten habe, sondern nur, welchen Gebrauch man bei der
    psychoanalytischen Behandlung von Kranken von der Kunst der
    Traumdeutung machen solle. Man kann dabei gewiß in ver-
    schiedener Weise vorgehen, aber die Antwort auf technische
    Fragen ist in der Psychoanalyse niemals selbstverständlich. Wenn
    es vielleicht mehr als nur einen guten Weg gibt, so gibt es
    doch sehr viele schlechte, und eine Vergleichung verschiedener 

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    Techniken kann nur aufklärend wirken, auch wenn sie
    nicht zur Entscheidung für eine bestimmte Methode führen
    sollte.

    Wer von der Traumdeutung her zur analytischen Behandlung
    kommt, der wird sein Interesse für den Inhalt der Träume
    festhalten und darum jeden Traum, den ihm der Kranke
    erzählt, zur möglichst vollständigen Deutung bringen wollen.
    Er wird aber bald merken können, daß er sich nun unter ganz
    andersartigen Verhältnissen befindet, und daß er mit den nächsten
    Aufgaben der Therapie in Kollision gerät, wenn er seinen Vor-
    satz durchführen will. Erwies sich etwa der erste Traum des
    Patienten als vortrefflich brauchbar für die Anknüpfung der
    ersten an den Kranken zu richtenden Aufklärungen, so stellen
    sich alsbald Träume ein, die so lang und so dunkel sind, daß
    ihre Deutung in der begrenzten Arbeitsstunde eines Tages nicht
    zu Ende gebracht werden kann. Setzt der Arzt diese Deutungs-
    arbeit durch die nächsten Tage fort, so wird ihm unterdes von
    neuen Träumen berichtet, die zurückgestellt werden müssen, bis
    er den ersten Traum für erledigt halten kann. Gelegentlich ist
    die Traumproduktion so reichlich und der Fortschritt des Kranken
    im Verständnis der Träume dabei so zögernd, daß der Analytiker
    sich der Idee nicht erwehren kann, diese Art der Darreichung
    des Materials sei nur eine Äußerung des Widerstandes, welcher
    sich der Erfahrung bedient, daß die Kur den ihr so gebotenen
    Stoff nicht bewältigen kann. Unterdes ist die Kur aber ein
    ganzes Stück hinter der Gegenwart zurückgeblieben und hat den
    Kontakt mit der Aktualität eingebüßt. Einer solchen Technik muß
    man die Regel entgegenhalten, daß es für die Behandlung von
    größter Bedeutung ist, die jeweilige psychische Oberfläche des
    Kranken zu kennen, darüber orientiert zu sein, welche Kom-
    plexe und welche Widerstände derzeit bei ihm rege gemacht
    sind, und welche bewußte Reaktion dagegen sein Benehmen
    leiten wird. Dieses therapeutische Ziel darf kaum jemals zu 

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    Gunsten des Interesses an der Traumdeutung hintangesetzt
    werden.

    Wie soll man es also mit der Traumdeutung in der Analyse
    halten, wenn man jener Regel eingedenk bleiben will? Etwa
    so: Man begnüge sich jedesmal mit dem Ergebnis an Deutung,
    welches in einer Stunde zu gewinnen ist, und halte es nicht für
    einen Verlust, daß man den Inhalt des Traumes nicht voll-
    ständig erkannt hat. Am nächsten Tage setze man die Deutungs-
    arbeit nicht wie selbstverständlich fort, sondern erst dann, wenn
    man merkt, daß inzwischen nichts anderes sich beim Kranken
    in den Vordergrund gedrängt hat. Man mache also von der
    Regel, immer das zu nehmen, was dem Kranken zunächst in
    den Sinn kommt, zu Gunsten einer unterbrochenen Traum-
    deutung keine Ausnahme. Haben sich neue Träume eingestellt,
    ehe man die früheren zu Ende gebracht, so wende man sich
    diesen rezenteren Produktionen zu und mache sich aus der
    Vernachlässigung der älteren keinen Vorwurf. Sind die Träume
    gar zu umfänglich und weitschweifig geworden, so verzichte man
    bei sich von vornherein auf eine vollständige Lösung. Man hüte
    sich im allgemeinen davor, ein ganz besonderes Interesse für die
    Deutung der Träume an den Tag zu legen oder im Kranken
    die Meinung zu erwecken, daß die Arbeit stille stehen müsse,
    wenn er keine Träume bringe. Man läuft sonst Gefahr, den
    Widerstand auf die Traumproduktion zu lenken und ein Ver-
    siegen der Träume hervorzurufen. Der Analysierte muß vielmehr
    zur Überzeugung erzogen werden, daß die Analyse in jedem
    Falle Material zu ihrer Fortsetzung findet, gleichgültig ob er
    Träume beibringt oder nicht, und in welchem Ausmaße man
    sich mit ihnen beschäftigt.

    Man wird nun fragen: Verzichtet man nicht auf zuviel wert-
    volles Material zur Aufdeckung des Unbewußten, wenn man die
    Traumdeutung nur unter solchen methodischen Einschränkungen
    ausübt? Darauf ist folgendes zu erwidern: Der Verlust ist keineswegs 

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    so groß, wie es bei geringer Vertiefung in den Sachver-
    halt erscheinen wird. Man mache sich einerseits klar, daß irgend
    ausführliche Traumproduktionen bei schweren Fällen von Neu-
    rosen nach allen Voraussetzungen als prinzipiell nicht vollständig
    lösbar beurteilt werden müssen. Ein solcher Traum baut sich oft
    über dem gesamten pathogenen Material des Falles auf, welches
    Arzt und Patient noch nicht kennen (sogenannte Programmträume,
    biographische Träume); er ist gelegentlich einer Übersetzung des
    ganzen Inhalts der Neurose in die Traumsprache gleichzustellen.
    Beim Versuch einen solchen Traum zu deuten, werden alle noch
    unangetastet vorhandenen Widerstände zur Wirkung kommen
    und der Einsicht bald eine Grenze setzen. Die vollständige
    Deutung eines solchen Traumes fällt eben zusammen mit der
    Ausführung der ganzen Analyse. Hat man ihn zu Beginn der
    Analyse notiert, so kann man ihn etwa am Ende derselben,
    nach vielen Monaten, verstehen. Es ist derselbe Fall wie beim
    Verständnis eines einzelnen Symptoms (des Hauptsymptoms etwa).
    Die ganze Analyse dient der Aufklärung desselben; während der
    Behandlung muß man der Reihe nach bald dies bald jenes Stück
    der Symptombedeutung zu erfassen suchen, bis man all diese
    Stücke zusammensetzen kann. Mehr darf man also auch von
    einem zu Anfang der Analyse vorfallenden Traume nicht ver-
    langen; man muß sich zufrieden geben, wenn man aus dem
    Deutungsversuch zunächst eine einzelne pathogene Wunschregung
    errät.

    Man verzichtet also auf nichts Erreichbares, wenn man die
    Absicht einer vollständigen Traumdeutung aufgibt. Man verliert
    aber auch in der Regel nichts, wenn man die Deutung eines
    älteren Traumes abbricht, um sich einem rezenteren zuzuwenden.
    Wir haben aus schönen Beispielen voll gedeuteter Träume
    erfahren, daß mehrere aufeinanderfolgende Szenen desselben
    Traumes den nämlichen Inhalt haben können, der sich in ihnen
    etwa mit steigender Deutlichkeit durchsetzt. Wir haben ebenso 

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    gelernt, daß mehrere in derselben Nacht vorfallende Träume
    nichts anderes zu sein brauchen als Versuche, denselben Inhalt
    in verschiedener Ausdrucksweise darzustellen. Wir können ganz
    allgemein versichert sein, daß jede Wunschregung, die sich heute
    einen Traum schafft, in einem anderen Traume wiederkehren
    wird, solange sie nicht verstanden und der Herrschaft des Unbe-
    wußten entzogen ist. So wird auch oft der beste Weg, um die
    Deutung eines Traumes zu vervollständigen, darin bestehen, daß
    man ihn verläßt, um sich dem neuen Traume zu widmen, der
    das nämliche Material in vielleicht zugänglicherer Form wieder
    aufnimmt. Ich weiß, daß es nicht nur für den Analysierten,
    sondern auch für den Arzt eine starke Zumutung ist, die bewußten
    Zielvorstellungen bei der Behandlung aufzugeben und sich ganz
    einer Leitung zu überlassen, die uns doch immer wieder als
    „zufällig“ erscheint. Aber ich kann versichern, es lohnt sich
    jedesmal, wenn man sich entschließt, seinen eigenen theoretischen
    Behauptungen Glauben zu schenken, und sich dazu überwindet,
    die Herstellung des Zusammenhanges der Führung des Un-
    bewußten nicht streitig zu machen.

    Ich plädiere also dafür, daß die Traumdeutung in der analy-
    tischen Behandlung nicht als Kunst um ihrer selbst willen
    betrieben werden soll, sondern daß ihre Handhabung jenen tech-
    nischen Regeln unterworfen werde, welche die Ausführung der
    Kur überhaupt beherrschen. Natürlich kann man es gelegentlich
    auch anders machen und seinem theoretischen Interesse ein
    Stück weit nachgehen. Man muß dabei aber immer wissen, was
    man tut. Ein anderer Fall ist noch in Betracht zu ziehen, der sich
    ergeben hat, seitdem wir zu unserem Verständnis der Traum-
    symbolik größeres Zutrauen haben und uns von den Einfällen
    der Patienten unabhängiger wissen. Ein besonders geschickter
    Traumdeuter kann sich etwa in der Lage befinden, daß er jeden
    Traum des Patienten durchschaut, ohne diesen zur mühsamen
    und zeitraubenden Bearbeitung des Traumes anhalten zu müssen.

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    Für einen solchen Analytiker entfallen also alle Konflikte
    zwischen den Anforderungen der Traumdeutung und jenen
    der Therapie. Er wird sich auch versucht fühlen, die Traum-
    deutung jedesmal voll auszunützen und dem Patienten alles
    mitzuteilen, was er aus seinen Träumen erraten hat. Dabei
    hat er aber eine Methodik der Behandlung eingeschlagen, die
    von der regulären nicht unerheblich abweicht, wie ich in
    anderem Zusammenhange dartun werde. Dem Anfänger in der
    psychoanalytischen Behandlung ist jedenfalls zu widerraten,
    daß er sich diesen außergewöhnlichen Fall zum Vorbild
    nehme.

    Gegen die allerersten Träume, die ein Patient in der ana-
    lytischen Behandlung mitteilt, so lange er selbst noch nichts von
    der Technik der Traumübersetzung gelernt hat, verhält sich jeder
    Analytiker wie jener von uns angenommene überlegene Traum-
    deuter. Diese initialen Träume sind sozusagen naiv, sie verraten
    dem Zuhörer sehr viel, ähnlich wie die Träume sogenannt
    gesunder Menschen. Es entsteht nun die Frage, soll der Arzt
    auch sofort dem Kranken alles übersetzen, was er selbst aus dem
    Traume herausgelesen hat. Diese Frage soll aber hier nicht
    beantwortet werden, denn sie ist offenbar der umfassenderen
    Frage untergeordnet, in welchen Phasen der Behandlung und in
    welchem Tempo der Kranke in die Kenntnis des ihm seelisch
    Verhüllten vom Arzte eingeführt werden soll. Je mehr dann der
    Patient von der Übung der Traumdeutung erlernt hat, desto
    dunkler werden in der Regel seine späteren Träume. Alles
    erworbene Wissen um den Traum dient auch der Traumbildung
    als Warnung.

    In den „wissenschaftlichen“ Arbeiten über den Traum, die
    trotz der Ablehnung der Traumdeutung einen neuen Impuls
    durch die Psychoanalyse empfangen haben, findet man immer
    wieder eine recht überflüssige Sorgfalt auf die getreue Erhaltung
    des Traumtextes verlegt, der angeblich vor den Entstellungen 

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    und Usuren der nächsten Tagesstunden bewahrt werden muß.
    Auch manche Psychoanalytiker scheinen sich ihrer Einsicht in
    die Bedingungen der Traumbildung nicht konsequent genug zu
    bedienen, wenn sie dem Behandelten den Auftrag geben, jeden
    Traum unmittelbar nach dem Erwachen schriftlich zu fixieren.
    Diese Maßregel ist in der Therapie überflüssig; auch bedienen
    sich die Kranken der Vorschrift gern, um sich im Schlafe zu
    stören und einen großen Eifer dort anzubringen, wo er nicht
    von Nutzen sein kann. Hat man nämlich auf solche Weise müh-
    selig einen Traumtext gerettet, der sonst vom Vergessen verzehrt
    worden wäre, so kann man sich doch leicht überzeugen, daß für
    den Kranken damit nichts erreicht ist. Zu dem Text stellen sich
    die Einfälle nicht ein, und der Effekt ist der nämliche, als ob
    der Traum nicht erhalten geblieben wäre. Der Arzt hat aller-
    dings in dem einen Falle etwas erfahren, was ihm im anderen
    entgangen wäre. Aber es ist nicht dasselbe, ob der Arzt oder ob
    der Patient etwas weiß; die Bedeutung dieses Unterschiedes für
    die Technik der Psychoanalyse soll ein anderes Mal von uns
    gewürdigt werden.

    Ich will endlich noch einen besonderen Typus von Träumen
    erwähnen, die ihren Bedingungen nach nur in einer psycho-
    analytischen Kur vorkommen können, und die den Anfänger
    befremden oder irreführen mögen. Es sind dies die sogenannten
    nachhinkenden oder bestätigenden Träume, die der Deutung
    leicht zugänglich sind und als Übersetzung nichts anderes ergeben,
    als was die Kur in den letzten Tagen aus dem Material der
    Tageseinfälle erschlossen hatte. Es sieht dann so aus, als hätte
    der Patient die Liebenswürdigkeit gehabt, gerade das in Traum-
    form zu bringen, was man ihm unmittelbar vorher „suggeriert“
    hat. Der geübtere Analytiker hat allerdings Schwierigkeiten,
    seinem Patienten solche Liebenswürdigkeiten zuzumuten; er greift
    solche Träume als erwünschte Bestätigungen auf und konstatiert,
    daß sie nur unter bestimmten Bedingungen der Beeinflussung 

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    durch die Kur beobachtet werden. Die weitaus zahlreichsten
    Träume eilen ja der Kur voran, so daß sich aus ihnen nach
    Abzug von allem bereits Bekannten und Verständlichen ein mehr
    oder minder deutlicher Hinweis auf etwas, was bisher verborgen
    war, ergibt.