Die Sexualität in der Aetiologie der Neurosen (Fortsetzung) 1898-001/1898.2
  • S.

    Nr. 4

    - - — - —— —

    in Form der fiinf- bis zehnpercentigen Salbe zu. In letzter
    Zeit (August 1897) veröffentlichte Goldberg einen Bericht
    uber seine Methode der Guajakolapplication bei Epididymitis
    mit 30percentiger Lanolinresorcinsalbe und hält dieselbe ent-
    schieden fiir einen Fortschritt in der Therapie. Ueber die
    veröffentlichten Erfolge der Behandlung, welche die an-
    geführten Autoren mit Guajakol bei Epididymitis erzielten,
    konnte ich nur in spärlichen Referaten Kenntniss erlangen,
    da mir die Originalarbeiten nicht zugänglich waren.

    Bevor wir den Bericht iiber die Resultate .der Be-
    handlung mit Guajakol folgen lassen, die wir bei einer grossen
    Reihe von Fällen auf der Abtheilung des Herrn Prof. Dr.
    Janovsky durchgeführt haben, möge die Methode der An-
    wendung kurz erwähnt werden, bei welcher wir auf Grund
    unserer Erfahrungen verblieben.
    | Zuerst bedienten wir uns des finfpercentigen Guajakols
    in Form einer Salbe mit Vaselin, später verblieben wir bei
    der stärkeren zehnpercentigen Concentration, deren Vor-
    schrift lautet.

    | Rp. Guajacoli pur. 40
    Vasel. flav. 400

    M. f. ungu. DS. Aeusserlich.

    Die schwächere finfpercentige Concentration ist nur bei
    sehr empfindlicher Haut angezeigt oder wenn die Serotalhaut
    in Folge früher beniitzter Medicamente gereizt ist. Bei den
    ersten Fällen versuchten wir entweder das Guajakol rein
    oder in Form einer fiinfpercentigen Emulsion einzureiben.
    Diese Methode wurde wegen des heftigen Brennens, über
    welches sich die Kranken beklagten, verlassen. Die Salben-
    application wurde so vorgenommen: Mit der zehnpercentigen
    Guajakolsalbe wird eine starke Watteschichte oder besser
    eine Hydrophilschichte. welche mit Watte unterlegt wird,
    mássig bestrichen und auf die Haut der erkrankten Scrotum-
    hålfte applicirt. Dann kommt noch ein Stiick Billrothbattist
    darüber... Dieser Modus hat den Vortheil, dass das Medicament
    gleichmšssiger wirkt, als beim blossen Bestreiehen mit remem
    Guajakol. Mit der Watteschichte wird auf der Haut eine be-
    ständige, måssige, feuchte Wärme erhalten, welche bekannt-
    lich eine analgetische und resorbirende Wirkung besitzt. Das
    Guajakol verdunstet in Folge der Wårme gleichmåssig und
    dringt in die Haut leichter ein. Der Watteverband wirkt
    ausserdem mechanisch wie ein Suspensorium und immobi-
    lisirt den Hodensack in erhohter Lage. Der Verband wird
    durch ein unterlegtes Handtuch, welches entweder zu-
    sammengelegt oder iiber den Trochanteren zusammengebunden
    ist oder durch ein Brettchen, das mit einem Ausschnitte ver-
    sehen ist, in seiner Lage fixirt. Der Kranke soll womöglich
    das Bett hüten. Vor der Salbenapplication ist es rathsam,
    die Genitalgegend mit Seife zu reinigen uud zu waschen und
    auch, wenn es nothwendig ist, mit Aether den Schweiss zu
    beseitigen, weil er das Guajakol an der Resorption verhindert.
    Die Haut zu rasiren ist nicht nôthig. Die Salbe wird auf
    den entziindeten Theil der Hodensackhaut oder längs 8
    Samenstranges applicirt, wenn sich der Kranke über Schmerzen
    in dieser Gegend beklagt. Die Application wird zweimal
    täglich, Früh und Abends vorgenommen, so lange die starken
    acuten Symptome: Fieber, Schmerzen und Hodensackschwellung
    in den Vordergrund treten. Ausser dieser localen Therapie
    nimmt der Kranke täglich drei Pulver Salol à 1 gr Früh,
    Nachmittags und Abends. Leidet der Kranke gleichzeitig an
    Obstipation, so ist ein mässiges Laxans anzuordnen. Die
    Guajakolsalbe wird ausgesetzt, sobald das Fieber sinkt, die
    Schwellung zurückgeht, die Schmerzen entweder ganz ver-
    schwinden oder wenn das zurückgebliebene verkleinerte Neben-
    hodeninfiltrat nur noch bei Druck mässig empfindlich ist. In
    diesem subacutem Stadium, wo die Resorption der zurück-
    gebliebenen Verhärtung zu unterstützen ist, scheint das
    Guajakol einen so vorzüglichen Einfluss wie im acuten Sta-
    dium nicht auszuüben. Hier wurde die Guajakolsalbe durch die
    bekannte Zeissl'sche Salbe ersetzt. Der Kranke wurde dann

    Wiener klinische Rundschau 1898. 55

    —-

    als bedeutend gebessert oder geheilt entlassen oder eventuell
    die weitere Behandlung ambulatorisch mit Suspensorium und
    Zeissl's Salbe fortgesetzt. Die Salbe wird folgendermaassen
    verschrieben :
    Rp. Extr. Belladonae. 0:50—1:0
    Ung. Diachyli
    Ung. simpl. aa 20'0
    M. f. ungu. DS. Aeusserlich.

    Auf solche Weise wurden auf der Abtheilung vom

    1. October 1896 bis zum 1. August 1897 im Ganzen 52 Kranke

    mit Nebenhodenentzündung behandelt. Bei 50 Fällen war die

    Krankheit gonorrhoischen, bei zwei nicht specifischen Ur-

    sprunges. Zwei mit tuberculóser Epididymitis behaftete

    Kranke wurden gleich vom Anfang an nur chirurgisch behandelt.
    (Fortsetzung folgt.)

    Die Sexualität in der Aetiologie der Neurosen.
    Von Dr. Sigm. Freud.

    (Fortsetzung.*)

    Der Arzt hat gewohnlich ein sehr geringes Interesse an
    manchen der Fragen, welche unter den Neuropathologen in
    Betreff der Neurosen discutirt werden, etwa ob man Hysterie
    und Neurasthenie strenge zu sondern berechtigt ist, ob man
    eine Hystero-Neurasthenie daneben unterscheiden darf, ob man
    das Zwangsvorstellen zur Neurasthenie rechnen oder als be-
    sondere Neurose anerkennen soll u. dgl. mehr. Wirklich
    dürfen auch solche Distinctionen dem Arzte gleichgiltig sein,
    so lange sich an die getroffene Entscheidung weiter nichts
    knüpft, keine tiefere Einsicht und kein Fingerzeig für die
    Therapie, so lange der Kranke in allen Fällen in die Wasser-
    heilanstalt geschickt wird, oder zu hóren bekommt — dass ihm
    nichts fehlt. Anders aber, wenn man unsere Gesichtspunkte
    über die ursáchlichen Beziehungen zwischen der Sexualität
    und den Neurosen annimmt. Dann erwacht ein neues Interesse
    für die Symptomatologie der einzelnen neurotischen Fülle, und
    es gelangt zur praktischen Wichtigkeit, dass man das com-
    plieirte Bild richtig in seine Componenten zu zerlegen und
    diese richtig zu benennen verstehe. Die Morphologie der
    Neurosen ist nämlich mit geringer Mühe in Aetiologie zu
    übersetzen, und aus der Erkenntniss dieser leiten sich, wie
    selbstverståndlich, neue therapeutische Anweisungen ab.

    Die bedeutsame Entscheidung nun, die jedesmal durch
    sorgfältige Würdigung der Symptome sicher getroffen werden
    kann, geht dahin, ob der Fall die Charaktere einer Neurasthenie
    oder einer Psychoneurose (Hysterie, Zwangsvorstellen) an
    sich trägt. (Es kommen ungemein häufig Mischfålle vor, in
    denen Zeichen der Neurasthenie mit denen einer Psycho-
    neurose vereinigt sind; wir wollen aber deren Würdigung
    für später aufsparen. Nur bei den Neurasthenien hat das
    Examen der Kranken den Erfolg, die átiologischen Momente
    aus dem Sexualleben aufzudecken ; dieselben sind dem Kranken,
    wie natürlich, bekannt und gehóren der Gegenwart, richtiger
    der Lebenszeit seit der Geschlechtsreife an (wenngleich auch
    diese Abgrenzung nicht alle Fälle einzuschliessen gestattet).
    Bei den Psychoneurosen leistet ein solches Examen wenig;
    es verschafft uns etwa die Kenntniss von Momenten, die man
    als Veranlassungen anerkennen muss, und die mit dem Sexual-
    leben zusammenhängen oder auch nicht; im ersteren Falle
    zeigen sie sich dann nicht von anderer Art als die åtiologischen
    Momente der Neurasthenie, lassen also eine specifische Be-
    ziehung zur Verursachung der Psychoneurose durchaus ver-
    missen. Und doch liegt auch die Aetiologie der Psychoneurosen
    in jedem Falle wiederum im Sexuellen. Auf einem merk-
    würdigen Umwege, von dem später die Rede sein wird, kann
    man zur Kenntniss dieser Aetiologie gelangen und begreiflich
    finden, dass der Kranke uns von ihr nichts zu sagen wusste.

    *) Siehe , Wiener klinische Rundschau* 1898 Nr. 2.

  • S.

    = = סקז —

    wi

    56 Wiener ROGA Rundachau 1898.

    . — ‏ה‎ = ーーーー ==

    Nr. 4

    = = —

    Die Ereignisse und Hinwirkungen nämlich, welche 16:27
    Psychoneurose zugrunde liegen, gehören nicht der Actualität
    an, sondern einer längst vergangenen, sozusagen prähistorischen,
    Lebensepoche, der frühen Kindheit, und darum sind sie auch
    dem Kranken nicht bekannt. Er hat sie — in einem bestimmten
    Sinne nur -— vergessen.

    Sexuelle Aetiologie also in allen Fällen von Neurose ;
    aber bei den Neurasthenien solche von actueller Art, bel den
    Psychoneurosen Momente infantiler Natur; dies ist der erste
    grosse Gegensatz in der Aetiologie der Neurosen. Kin zweiter
    ergibt sich, wenn man einem Unterschiede in der Symptomatik
    der Neurasthenie selbst Rechnung trägt. Hier finden sich
    einerseits Fälle, in denen sich gewisse für die Neu-
    rasthenie charakteristische Beschwerden in den Vordergrund
    drängen: Der Koptdruck, die Eimüdbarkeit, die Dyspepsie,
    die Stuhlverstopfung, die Spinalirritation u. s. f. In anderen
    Fällen treten diese Zeichen zurück, und das Krankheitsbild
    setzt sich aus anderen Symptomen zusammen, die sämmtlich
    eine Beziehung zum Kernsymptom, der „Angst“, erkennen

    lassen (freie Aengstlichkeit, Unruhe, Erwartungsangst, com-
    plete, rudimentáre und supplementåre Angstanfälle, loco-

    motorischer Schwindel, Agoraphobie, Schlaflosigkeit, Selmerz-
    steigerung, u. $. w.) Ich habe dem ersten Typus von Neu-
    rasthenie seinen. Namen belassen, den zweiten aber als
    „Angstneurose“ ausgezeichnet, und diese Scheidung an anderem
    Orte begründet, woselbst auch der Thatsache des in der
    Regel gemeinsamen Vorkommens beider Neurosen Rechnung
    getragen wird. Für unsere Zwecke genügt die Her vorhebung,
    dass der symptomatischen Verschiedenheit beider Formen ein
    Unterschied der Aetiologie parallel geht. Die Neurasthenie
    lässt sich jedesmal auf einen Zustand des Nervensystems
    zurückführen, wie er durch excessive Masturbation er worben
    wird oder durch gehäufte Pollutionen spontan entsteht: bei
    der Angstneurose findet man regelmässig sexuelle Einflüsse,
    denen das Moment der Zurüc khaltung oder der unvoll-
    kommenen Befriedigung gemeinsam ist, wie: Coitus inter-
    ruptus, Abstinenz bei lebliafter Libido, sogenannte frustrane
    Erregung u. del. In dem kleinen Aufsatze, welcher die Angst-
    neurose einzuführen bemüht war, habe ich die Formel aus-
    gesprochen, die Angst sel überhaupt eine von ihrer Ver-
    wendung abgelenkte Libido.

    Wo in einem Kalle Symptome der Neurasthenie und der
    Angstneurose vereinigt sind, also ein Mischfall vorliegt, da
    hált man sich an den empirisch gefundenen Satz, dass einer
    Vermengung von Neurosen ein Zusammenwirken von mehreren
    Atiologischen Momenten entspricht, und wird seine Erwartung
    jedesmal bestätigt finden. Wie oft diese åtiologischen Momente
    durch den Zusammenhang der sexuellen Vorgänge organisch
    miteinander verknüpft sind, z. B. Coitus interruptus oder un-
    genügende Potenz des Mannes mit der Masturbation, dies
    wäre emer Ausführung im Kinzelnen wohl würdig.

    Wenn man den vorliegenden Fall von neurasthenischer
    Neurose sicher diagnosticirt und dessen Symptome richtig
    oruppirt hat, so darf man sich die Symptomatik in Aetiologie
    übersetzen und dann von den Kranken dreist die Be-
    kräftigung seiner Vermuthungen verlangen. Anfänglicher
    Widerspruch darf einen nicht irre machen; man besteht fest
    auf dem, was man erschlossen hat, und besiegt endlich jeden
    Widerstand .dadurch, dass man die Unerschiitterlichkeit
    seiner Ueberzeugung betont. Man eıfährt dabei allerlei aus
    dem Sexualleben der Menschen, womit sich ein nützliches
    und lehrreiches Buch füllen liesse, lernt es auch nach jeder

    Richtung hin bedauern, dass die Sexualwissenschaft heutzu-
    tage noch als unehrlich gilt. Da kleinere Abweichungen von

    einer normalen vita sexualis viel zu häufig sind, als dass man
    ihrer Auffindung Werth beilegen dürfte, wird man bei seinen
    neurotisch Kranken nur schwere und lange Zeit fortgesetzte
    Abnormität des Sexuallebens als Aufklärung gelten lassen;
    dass man aber durch sein Drängen einen
    psychisch normal ist, veranlassen könnte, sich selbst fälsch-

    jeder anderen zu substituiren,

    Kranken, der

    lich sexueller Vergehen zu bezichtigen, das darf man ALL
    als eine imaginåre Gefahr vernachlässigen. |

    Verfihrt man in dieser Weise mit seinen Kranken, so
    erwirbt man sich auch die Ueberzeugung, dass es für die
    Lehre von der sexuellen Aetiologie der Neurasthenie negative
    Fille nicht gibt. Bei mir wenigstens ist diese Ueberzeugung
    so sicher geworden, dass ich auch den negativen Ausfall des
    Examens diagnostisch verwerthet habe. nämlich um mir 2
    sagen, dass solche Fälle keine Neurasthenie sein können. So
    kam ich mehrmals dazu, eine progressive Paralyse anstatt einer
    Neurasthenie anzunehmen, weil es mir nicht gelungen war,
    die nach meiner Lehre erforderliche, ausgiebige Masturbation
    nachzuweisen, und der Verlauf dieser Fälle gab mir nachtråg-
    lich Recht. Ein andermal, wo der Kranke, bei Abwesenheit
    deutlicher organischer Veränderungen, über Koptdruck, Kopf-
    schmerzen und Dyspepsie klagte und meinen sexuellen Ver-
    dächtigungen mit Aufrichtigkeit und überlegener Sicherheit
    begegnete, fiel es mir ein, eine latente Eiterung in einer der
    Nebenhóhlen der Nase zu vermuthen, und ein specialistiseh .
    oeschulter College bestätigte diesen aus dem sexuell negativen.
    Examen gezogenen Schluss, indem er den Kranken durch Ent-
    leerung von foetidem Eiter aus einer Highmorshóhle von seinen
    Beschwerden befreite.

    Der Anschein, als ob es dennoch „negative Fälle“ gäbe,
    kann auch auf andere Weise entstehen. Das Examen weist
    mitunter ein normales Sexualleben bei Personen nach, deren
    Neurose einer Neurasthenie oder einer Angstneurose für ober-
    flächliche Beobachtung wirklich genug ähnlich sieht. Tiefer
    eindringende Untersuchung deckt aber dann regelmässig den
    wahren Sachverhalt auf. Hinter solchen Fällen, die man für
    Neurasthenie gehalten hat, steckt eine Psychoneurose, eine
    Hysterie oder Zwaugsneurose. Die Hysterie insbesondere, die
    so viele organische Affectionen nachahmt, kann mit Leichtigkeit
    eine der actuellen Neurosen vortüuschen, indem sie deren |
    Symptome zu hysterischen erhebt. Solche Hysterien in der
    Form der Neurasthenie sind nicht einmal sehr selten. Es ist
    aber keine wohlfeile Auskunft, wenn man für die Neurast-
    henien mit sexuell negativer Auskunft auf die Psychoneurosen
    recurrirt; man kann den Nachweis hiefür führen auf jenem
    Wege, der allein eine Hysterie untriiglich entlarvt, auf dem
    Wege der später zu erwühnenden Psychoanalyse.

    Vielleicht wird nun Mancher, der gerne bereit ist, der
    sexuellen Aetiologie bei seinen neurasthenisch Kranken
    Rechnung zu tragen, es doch als eine Einseitigkeit rügen,
    wenn er nicht aufgefordert wird, auch den anderen Momenten,
    die als Ursachen der Neurasthenie bei den Autoren allgemein
    erwähnt sind, seine Aufmerksamkeit zu schenken. Es fällt
    mir nun nieht ein, die sexuelle Aetiologie bei den Neurosen
    so dass ich deren Wirksamkeit
    für aufgehoben erklären würde. Das wäre ein Missverstándniss.
    Ich mein evielmehr, zu al den bekannten und wahrscheinlich
    mit Recht anerkannten, åtiologischen Momenten der Autoren
    für die Entstehung der Neurasthenie, kommen die sexuellen,
    die bisher nicht hinreichend gewürdigt worden sind, noch
    hinzu. Diese verdienen aber, nachm einer Schätzung, dass man
    ihnen in der åtiologischen Reihe eine besondere Stellung an-

    weise. Denn sle allein werden in keinem Falle von Neurast-
    henie vermisst, sie allein vermögen es die Neurose ohne

    weitere Beihilfe zu erzeugen, so dass diese anderen Momente
    zur Rolle einer Hilfs- und Supplementåråtiologie herabgedrückt
    scheinen; sie allein gestatten dem Arzte, sichere Beziehungen
    zwischen ihrer Manigfaltigkeit und der Vielheit der Krank-
    heitsbilder zu erkennen. Wenn ich dagegen die Fälle zu-
    sammenstelle, die angeblich durch Ueberarbeitung, Gemüths-
    aufregung, nach einem Typhus u. del. neurasthenisch ge-
    worden sind, so zeigen sie mir in den Symptomen nichts
    Gemeinsames, ich wüsste aus der Art der Aetiologie keine
    Erwartung in Betreff der Symptome zu bilden, wie umgekehrt
    aus dem Krankheitsbilde nicht auf die einwirkende Aetiologie
    zu schliessen.

  • S.

    Nr. 4

    ~~ Die sexuellen Ursachen sind auch Jene, welche dem
    Arzte am ehesten einen Anhalt fiir sein therapeutisches
    Wirken bieten. Die Hereditüt ist unzweifelhaft ein bedeut-
    samer Factor, wo sie sich findet; sie gestattet, dass ein
    grosser krankheitseffect zustande kommt, wo sich sonst
    nur ein sehr geringer ergeben hätte. Allein die Heredität ist
    der Beeinflussung des Arztes unzugiinglich; ein Jeder bringt
    seine hereditären Krankheitsneigungen mit sich; wir können
    nichts mehr daran ändern. Auch dürfen wir nicht vergessen,
    ‚dass wir gerade in der Aetiologie der Neurasthenien der
    Heredität den ersten Rang nothwendig versagen müssen.
    Die Neurasthenie (in beiden Formen) gehört zu. den Affec-
    tionen, die jeder erblich Unbelastete bequem erwerben kann.
    Wäre es anders, so wäre ja die riesige Zunahme der Neu-
    rasthenie undenkbar, über welche alle Autoren klagen. . Was
    die Civilisation betrifft, zu deren Sündenregister man oft die
    Verursachung der Neurasthenie zu schreiben pflegt, so mögen
    auch hierin. die Autoren Recht haben (wiewohl wahrscheinlich
    anf ganz anderen Wegen, als sie vermeinen); aber der Zu-
    stand unserer Civilisation ist gleichfalls für den Einzelnen
    etwas Unabinderliches : übrigens erklärt dieses Moment bei
    seiner Allgemeingiltigkeit für die Mitglieder derselben Ge-
    sellschaft niemals die 'Thatsache der Auswahl bei der Er-
    krankung. Der nicht neurasthenische Arzt steht ja unter
    demselben 'Einflusse der angeblich unheilvollen Civilisation
    wie der neurasthenische Kranke, den er behandeln soll. — Die
    Bedeutung erschöpfender Einflüsse bleibt mit der oben ge-
    gebenen Kinschränkung bestehen. Aber mit dem Momente
    der ,,Ueberarbeitung" das die Aerzte so gerne ihren Patienten
    als Ursache ihrer Neurose gelten lassen, wird übermässig viel
    Missbrauch getrieben. Es ist ganz richtig, dass Jeder, der
    sich durch sexuelle Schädlichkeiten zur Neurasthenie dis-
    ponirt hat, die intellectuelle Arbeit und. die psychischen
    Mühen des Lebens schlecht verträgt, aber niemals wird
    Jemandı durch Arbeit oder durch Aufregung allein neurotisch.
    Geistige Arbeit ist eher ein Schutzmittel gegen neu-
    rasthenische Erkrankung, gerade die ausdaueindsten intelec-
    tuellen Arbeiter bleiben von der Neurasthenie verschont, und
    was die Neurastheniker als ,krankmachende Ueberar beitung*
    anklagen, das verdient in der Regel weder der Qualität noch
    dem Ausmaasse nach als „geistige Arbeit“ anerkannt zu
    werden. Die Aerzte werden sich wohl gewóhnen miissen, dem
    Beamten, der sich in seinem Bureau ,iiberangestrengt“, oder
    der Hausfrau, der ihr Hauswesen zu schwer geworden ist, die
    Aufklärung zu geben, dass sie nicht erkrankt sind, weil sie ver-
    sucht haben. ihre fiir ein civilisirtes Gehirn eigentlich leichten
    Pflichten zu erfüllen, sondern weil sie während dessen ihr Sexual-
    leben gróblich vernachlässigt und verdorben haben.
    | (Fortsetzung folgt.)

    Feuilleton.

    Die tiltesten Pesttractate der Wiener Schule.
    Von Dr. Leopold Senfelder in Wien.

    (Schluss.*)

    : II.

    Ex regimine magistri Jacobi | Aus den Verordnungen, welche
    de stokstal doctoris in medi- | Magister Jacobus de Stokstal,
    (11118 Alme | universitatis studii | Doctor der Medicin an der
    wienensis, quod dedit monasterio | hohen Schule zu Wien dem
    Mellicensi. | Kloster Melk überreichte.

    Cod. mss. Mellicensis 342 |
    (G. 2) fol. 35b. |

    Modus preservandi se ab in- Die Art des Schutzes vor

    cursu epidemie sew pestileneie | dem Einbruche der Seuche oder
    consistit in infra notandis. Pestilenz besteht in den unten

    , anzuführenden Punkten.

    *) Siehe ,Wiener klinische Rundschau* 1898 Nr. 1 und 2.

    Wiener klinische Rundschau 1898.

    Primo enim quilibet quantum
    potest non communicet nec
    coassistat infectis actu, propter
    hoe, quia talis morbus est con-

    tagiosus qua propter unus in-
    ficitur ab alio, que est una
    causa principalis. propter quam
    in eadem domo omnes fere
    moriuntur sepe.

    Item secundo vitanda sunt

    loca, in quibus pestilencia regnat,
    propter infeetionem et corrup-
    tionem aeris. |
    Item tercio eciam disposicio
    aeris cst eciam causa infectionis
    quia actu activornm.61) Et cor-
    pora autem disposita sunt ntencia
    plurima balneacione sew coytu
    et habencin poros latos?) et
    corpora cacochimica et“3) re-
    pleta malis humoribus, ex quo
    liquet, quod talia sunt purganda.

    Item volens ergo se preser-
    vare, rectificet aerem, in quo
    habitat cum fumigationibus factis
    ex lignis juniperi cum granis
    ejus, eum mirra et ligno aloes.
    Tale fiat in comodo de nocte
    clausis fenestris ; tempore frigido
    addat thus, masticem, — lauda-
    num 64) et aspergat pavimentum
    et parietes cum aceto vini
    odoriferi et aqua rosata. Portetur
    quoque spongia intineta aceto
    ante nares. Item mane recipiat
    nucem romanam, rutam,. juni-
    perum eum ruta in aceto positum.
    Multum confert. Item abstinen-
    dum est a fructibus et esu
    eorundem, quoniam malos ac
    putridos generant humores.

    Item expediret ut suaviter se
    purgaret eum medicina laxativa ;
    si habundaret coleam cum elec:
    tuario de sueco rosarum ant
    dyaprunis 95) laxativi, aut pil-
    lulis de rewbarbaro; si vero
    fleema eum dyaturbit drachmis
    tribus vel eum pillulis dya-
    rodon 66) septem aut dyafinicon 97)

    81) Kine schwer wörtlich

    Philosophie.

    übersetzbare Phrase

    57

    Erstens verkehre man so viel
    als möglich nicht mit den
    Kranken, noch stehe man ihnen
    thätig bei, weil diese Krankheit
    ansteckend ist und von Einem
    auf den Anderen übertragen
    wird. Dies ist die eine Haupt-
    ursache, warum in einem Hause
    oft nahezu alle Inwohner sterben.

    Zweitens meide man Pestorte
    wegen der Verseuchung .und
    Verderbniss der Luft.

    Drittens ist auch die Luft-
    beschaffenheit eine Ursache der
    Ansteckung und zwar durch die
    Bewegung thätiger Kräfte. Ferner
    sind auch die Körper dazu ver-
    anlagt, welche sehr viel baden
    oder des Beischlafes pflegen
    und weite Hautporen besitzen,
    die cacochymischen, das sind
    mit schlechten Säften angefiillte
    Körper. Natiirlich muss man
    diese ausreinigen.

    Wer daher sich schiitzen will,
    verbessere die Luft des Wohn-
    raumes durch Räucherungen mit
    Wachholderholz, = Wachholder-
    beeren mit Myrrhe und Aloe-
    holz. Dies thue man im Zimmer
    bei geschlossenen Fenstern in
    der Naclit; in der kalten Jahres-
    zeit gebe man Weihrauch,
    Mastix und Ladanum hinzu und
    besprenge Fussboden und Wiinde
    mit wolhlriechendem
    und Rosenwasser. Ferner trage
    man unter der Nase ein in
    Essig getauchtes Schwimmchen.

    Weinessig

    Desgleichen nehme man des
    Morgens eine römische (wiill-

    sche ?) Nuss, Raute, Wachholder
    mit Raute in Da Ist sehr

    zuträglich. Man enthalte sich
    auch von Früchten und dem
    Genusse derselben, weil sie

    schlechte faulige Säfte erzeugen.
    Gut wäre auch eine leichte
    Purganz mit einem Abführmittel

    und zwar bei Gallenüberfluss
    mit dem Latwerge von Rosen-
    saft oder dem Abführlatwerge

    von Pflaumen oder mit Rhabarber-
    pillen ; bei Sehleimüberfluss mit
    Turbitlatwerg 13-125 oder
    mit 7 Pillen vom Rosenlatwerg

    der scholastischen

    62) Weil das Gift leichter eindringen kann.
    63) Soll wohl i. — id est. heissen.

    64) Das Harz von Cistus ladaniferus L. Nach dem Arzneibuche 8

    Galeazzo à Sancta Sophia (Cod.

    5396

    fol. 83a, k. k. Wiener Hof-

    bibliothek) wird das Harz dadurch gewonnen, dass man Ziegen unter den
    Sträuchern weiden lässt und das an den Haaren haften gebliebene Harz

    auskåmmt.

    65) Die Zusammensetzung vergl. bei Nicolaus Praepositus a. a. O.

    p. 170.

    66) Joh. Mesue op. om. Venet. ap. Junt. 1623, p. 96.

    97) Item pag. 115.