Die Sexualität in der Aetiologie der Neurosen (Schluss.) 1898-001/1898.4
  • S.

    Nr. 7

    Wiener klinische Rundschau 1898.

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    -

    der Versuche, andererseits der problematische Erfolg empfiehlt
    grosse Vorsicht. Wenn ein oder zwei günstige Fälle massgebend
    sein sollen, so sollte man es auch bei Lungentuberculose an-
    wenden, weil Hoggard einen Phthisiker, bei dem Hämoptoe
    bestand, zur Ader liess und sich der Zustand wesentlich
    besserte! (Sic!)

    Ich kann nicht genug zur grössten Vorsicht mahnen, da-
    mit einige Misserfolge uns nicht den Muth benehmen, und wir
    dadurch zum Aderlass besonders geeignete Fälle vernachlässigen.

    Wie soll die Venaesection geschehen? Im heutigen Zeit-
    alter, wo die Jünger Aesculap’s auf den Kliniken kaum Ge-
    legenheit haben, diesen Eingriff kennen zu lernen, halte ich
    es nicht für überflüssig, die Technik kurz zu schildern.

    Wolzendorff beschreibt in Kürze das Verfahren, wie
    folgt: Um Ohnmachtsanfällen vorzubeugen, legen wir den Patien-
    ten nieder. Nach antiseptischer Waschung der zu operirenden
    Flächen legen wir 2—3 cm oberhalb des Ellenbogens eine
    Compressionsbinde an, nicht mit Knoten, sondern mit Schleife
    gebunden, um erforderlichenfalls selbe mit einem Zuge zu
    lösen. Die Binde muss so fest liegen, dass die oberflichlichen
    Venen, nicht aber die grösseren Arterien comprimirt werden,
    und Radialpuls daher fühlbar sei. Das Schwellen der Venen
    rascher zu ermöglichen, sind Muskelbewegungen oft nützlich.
    Nun wählt man die passende Vene, Vena cephalica oder
    basilica, setzt den Daumen der linken Hand 2 cm unter-
    halb der Einstichstelle auf die Vene, um dieselbe zu fixiren.
    umfasst mit den übrigen Fingern der Hand den Arm und
    spannt denselben gleichmässig an. Die rechte Hand auf den
    Arm des Patienten stützend, schiebt man die Lancettenspitze
    in die Vene ein. (Ich gebrauche lieber den Aderlassschnapper,
    da ein Verschieben der Haut bei diesem unmöglich ist, der
    Einsehnitt exacter und gleichmässiger ist.) Der Schnitt soll
    womöglich schräg zur Längsachse der Vene stehen, um Rund-
    und Långsfasern in gleicher Weise zu trennen. Nach Weg-
    nahme des Daumens muss das Blut sofort in weitem Bogen
    hervorspringen. Lässt das Fliessen nach, so kann man das-
    selbe dadurch fördern, dass man dem Kranken die Hand
    öffnen und schliessen lässt, um durch Muskelcontractionen das
    Blut in die oberflächlichen Venen zu treiben. Ist die ge-
    wünschte Menge gelassen, so wird die Compressionsbinde ge-
    löst, der Daumen peripher dicht unter die Wunde gesetzt,
    um so den Venenstrom zu unterbrechen, dann ein antisep-
    tischer Verband, nicht zu fest angelegt, der Arm in eine
    Mitella gelegt. Am vierten Tage kann der Verband entfernt
    werden.

    Ich kann heute meine
    Aeusserungen nur wiederholen :

    Der Aderlass ist, wenn wir die verschiedenen Cautelen
    vor Augen halten, ein sehr wichtiges Hilfsmittel unserer
    Therapie und es wäre unverantwortlich, wenn wir den Scep-
    ticismus so weit treiben würden, dass wir ihn aus der Therapie
    ausschliessen. Wenden wir ihn dort an, wo wir, medicinisch
    folgernd, etwas von der wohlthuenden Wirkung des Aderlasses
    zu hoffen haben und wo dieser uns mit Zuhilfenahme der
    übrigen therapeutischen Mittel beim Patienten helfen kann!
    Doch sei er nicht das Ultimum refugium, denn der voraus-
    sichtliche Misserfolg würde ihn alsbald discreditiren.

    „Mag auch mancher schwere Fall nicht glücken —
    sagt der unermüdliche Schubert — die Quintessenz meiner
    Beobachtungen ist die, dass die Blutentziehung, respective
    der Aderlass ein so hervorragendes Heilmittel ist, wie kein
    zweites in der gesammten Therapie und dass der Arzt, der
    einmal Verständniss dafür erlangt hat, nie wieder von ihm
    abgehen wird.“

    vor vier Jahren gemachten

    Die Sexualität in der Aetiologie der Neurosen.
    Von Dr. Sigm. Freud.

    (Schluss, *)

    Der Werth einer richtigen diagnostischen Scheidung der
    Psychoneurosen von der Neurasthenie bezeigt sich auch darin,
    dass die ersteren eine andere praktische Würdigung und be-
    sondere therapeutische Maassnahmen erfordern. Die Psycho-
    neurosen treten unter zweierlei Bedingungen auf, entweder
    selbstständig oder im Gefolge der Actualneurosen (Neurasthenie
    und Angstneurose). Im letzteren Falle hat man es mit einem
    neuen, übrigens sehr häufigen, Typus von gemischten Neu-
    rosen zu thun. Die Aetiologie der Actualneurose 1st zur
    Hilfsåtiologie der Psychoneurose geworden; es ergibt sich
    ein Krankheitsbild, in dem etwa die Angstneurose vorherrscht,
    das aber sonst Ziige der echten Neurasthenie, der Hysterie
    und der Zwangsneurose enthält. Man thut nicht gut, ange-
    sichts einer solchen Vermengung etwa auf eine Sonderung
    der einzelnen neurotischen Krankheitsbilder zu verzichten, da
    es doch nicht schwer ist, sich den Fall in folgender Weise
    zurechtzulegen: Wie die vorwiegende Ausbildung der Angst-
    neurose beweist, ist hier die Erkrankung unter dem åtiolo-
    gischen Kinflusse einer actuellen sexuellen Schádlichkeit ent-
    standen. Das betreffende Individuum war aber ausserdem zu
    einer oder mehreren Psychoneurosen durch eine besondere
    Aetiologie disponirt und wire irgend. einmal spontan oder bei
    Hinzutritt eines anderen schwáchenden Momentes an Psycho-
    neurose erkrankt. Nun ist die noch fehlende Hilfsåtiologie
    fiir die Psychoneurose durch die actuelle Aetiologie der Angst-
    neurose hinzugefügt worden. |

    Für solche Fälle hat sich mit Recht die therapeutische
    Uebung eingebürgert, von der psychoneurotischen Componente
    im Krankheitsbilde abzusehen und ausschliesslich die Actual-
    neurose zu behandeln. Es gelingt in sehr vielen Fällen, auch
    der mitgerissenen Neurose Herr zu werden, wenn man der
    Neurasthenie zweckmåssig entgegentritt. Eine andere Beur-
    theilung erfordern aber jene Fälle von Psychoneurose, die,
    sel es spontan auftreten oder nach dem Ablaufe einer aus
    Neurasthenie und Psychoneurose gemengten Erkrankung als
    selbstständig übrig bleiben. Wenn ich von ,spoutanem* Auf-
    treten einer Psychoneurose gesprochen habe, so meine ich
    damit nicht etwa, dass man bei anamnestischer Nachforschune
    jedes ätiologische Moment vermisst. Dies kann wohl der Fall
    sein, man kann aber auch auf ein indifferentes Moment, eine
    Gemiithsbewegung, Schwächung durch somatische Erkrankung
    u. dergl. hingewiesen werden. Doch muss man für alle diese Fille
    festhalten, dass die eigentliche Aetiologie der Psychoneurosen
    nicht in diesen Veranlassungen liegt, sondern der gewöhnlichen
    Weise anamnestischer Erhebung unfassbar bleibt.

    Wie bekannt, ist es diese Lücke, welche man versucht
    hat, durch die Annahme einer besonderen neuropathischen
    Disposition auszufüllen, deren Existenz einer Therapie solcher
    Krankheitszustände freilich nicht viel Aussicht auf Erfolg
    übrig liesse. Die neuropathische Disposition selbst wird als
    Zeichen einer allgemeinen Degeneration aufgefasst, und somit
    gelangt dieses bequeme Kunstwort zu einer überreichlichen
    Verwendung gegen die armen Kranken, denen zu helfen die
    Aerzte recht ohnmächtig sind. Zum Glück steht es anders.
    Die neuropathische Disposition existirt wohl, aber ich muss
    bestreiten, dass sie zur Erzeugung der Psychoneurose hin-
    reicht. Ich muss ferner bestreiten, dass das Zusammentreffen
    von neuropathischer Disposition und veranlassenden Ursachen
    des späteren Lebens eine ausreichende Aetiologie der Psycho-
    neurosen darstellt. Man ist in der Zurückführung der Krank-
    heitsschicksale des Einzelnen auf die Erlebnisse seiner Ahnen
    zu welt gegangen und hat daran vergessen, dass zwischen der
    Empfängniss und der Reife des Individuums ein langer und
    bedeutsamer Lebensabschnitt liegt, die Kindheit, in welcher

    + *) Siehe „Wiener klinische Rundschau“ 1898, Nr. 2, 4 und 5.

  • S.

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    — —

    _ ක්‌ > TJ

    die Keime zu späterer Erkrankung erworben werden können. | reiche,

    So ist es thatsächlich bei der Psychoneurose. Ihre wirkliche
    Aetiologie ist zu finden in Erlebnissen der Kindheit, und zwar
    wiederum — und ausschliesslich 一 in Kindrücken, die das
    sexuelle Leben betreffen. Man thut Unrecht daran, das Sexual-
    leben der Kinder völlig zu vernachlässigen; sie sind, so viel
    ich erfahren habe, aller psychischen und vieler somatischen
    Sexualleistungen fähig. So wenig die äusseren Genitalien und
    die beiden Keimdrüsen den ganzen Geschlechtsapparat des
    Menschen darstellen, ebensowenig beginnt sein Geschlechts-
    leben erst mit der Pubertät, wie es der groben Beobachtung
    erscheinen mag. Ks ist aber richtig, dass die Organi-
    sation und Entwicklung der Species Mensch eine ausgiebigere
    sexuelle Bethåtigung im Kindesalter zu vermeiden strebt; es
    Scheint, dass die sexuellen Triebkräfte beim Menschen aufge-
    speichert werden sollen, um dann bel ihrer Entfesselung zur
    Zeit der Pubertät grossen culturellen Zwecken zu dienen,
    (Wilh. Fliess. Aus einem derartigen Zusammenhange lässt
    sich etwa verstehen, warum sexuelle Erlebnisse des Kindes-
    alters pathogen wirken müssen. Sie entfalten ihre Wirkung
    aber nur zum geringsten Maasse zur Zeit, da sie vorfallen;
    weit bedeutsamer ist ihre nachtrågliche Wirkung, die
    erst in späteren Perioden der Reifung eintreten kann. Diese
    nachträgliche Wirkung geht, wie nicht anders möglich, von
    den psychischen Spuren aus, welche die infantilen Sexual-
    erlebnisse zurückgelassen haben. In dem Intervall zwischen
    dem Erleben dieser Eindrücke und deren Reproduction (viel-
    mehr dem Erstarken der von ihnen ausgehenden libidinôsen
    Impulse) hat nicht nur der somatische Sexualapparat, sondern
    auch der psychische Apparat eine bedeutsame Ausgestaltung
    erfahren, und darum erfolgt auf die Einwirkung jener frühen
    sexuellen Erlebnisse nun eine abnorme psychische Reaction,
    es entstehen psychopathologische Bildungen.

    In diesen Anleitungen konnte ich nur die Hauptmomente
    anführen, auf welche sich die Theorie der Psychoneurosen
    stützt: Die Nachträglichkeit, den infantilen Zustand des Ge-
    schlechtsapparates und des Seeleninstrumentes. Um ein wirk-
    liches Verständniss des Entstehungmechanismus der Psycho-
    neurosen zu erzielen, brauchte es breiterer Ausführungen ;
    vor Allem wäre es unvermeidlich, gewisse Annahmen über die
    Zusammensetzung und die Arbeitsweise des psychischen Ap-
    parates, die mir neu scheinen, als glaubwürdig hinzustellen.
    In einem Buche. über „Traumdeutung *, das ich gegenwärtig
    vor bereite, werde ich die Gelegenheit finden, jene Fundamente
    einer Neurosenpsychologie zu berühren. Der Traum gehört
    nämlich in dieselbe Reihe psychopathologischer Bildungen,
    wie die hysterische fixe Idee, die Zwangsvorstellung und die
    Walnidee.

    Da die Erscheinungen der Psychoneurosen vermittelst
    der Nachträglichkeit von unbewussten psychischen Spuren aus
    entstehen, werden sie der Psychotherapie zugänglich, die
    allerdmgs hier andere Wege einschlagen muss als den bis
    jetzt einzig begangenen der Suggestion mit oder ohne Hypnose.
    Auf der von J. Breuer angegebenen ,kathartischen* Me-
    thode fussend, habe ich in den letzten Jahren ein therapeutisches
    Verfahren nahezu ausgearbeitet, welches ich das , psychoana-
    Jytische“ heissen will, und dem ich zahlreiche Erfolge verdanke,
    während ich hoffen darf, seine Wirksamkeit noch erheblich
    zu steigern. In den 1895 veröffentlichten Studien über
    Hysterie (mit J. Breuer) sind die ersten Mittheilungen
    über "Technik und Tragweite der Methode gegeben worden.
    Seither hat sich Manches, wie ich behaupten darf, zum
    Besseren daran geändert. Während wir damals bescheiden
    aussagten, dass wir nur die Beseitigung von hysterischen

    Symptomen, nicht die Heilung der Hysterie selbst in Angriff

    nehmen könnten, hat sich mir seither diese Unterscheidung
    als inhaltslos herausgestellt, also die Aussicht auf wirkliche
    Heilung der Hysterie und Zwangsvorstellungen ergeben. Ks
    hat mich darum recht lebhaft interessirt, in den Publicationen
    von Fachgenossen zu lesen: In diesem Falle habe das sinn-

    Pi — 一

    von Breuer und Freud ersonnene Verfahren ver:
    sagt, oder: Die Methode habe nicht gehalten, was sie zu ver- =
    sprechen schien. Ich hatte dabei etwa die Empfindungen eines —
    Menschen, der in der Zeitung seine Todesanzeige findet, sich |
    aber dabei in seinem Besserwissen ber uhigt fühlen darf. Das Ver-
    fahren ist nämlich so schwierig, dass es durchaus ius ad :
    werden muss, und ich kann mich nicht besinnen, dass es einer —
    meiner Kritiker von mir hätte erlernen wollen, glaube auch |
    nicht, dass sie sich, ähnlich wie ich, genug intensiv damit |
    beschäftigt haben, um es selbstständig auffinden zu können. Die
    Bemer kungen in den Studien über Hysterie sind vollkommen _
    unzureichend, um einem Leser die Beherrschung dieser Tonk |
    ZU ermöglichen, streben solche yollständige Unterweisung auch -
    keineswegs an.

    Die psychoanalytische Therapie ist derzeit nicht ап
    gemein anwendbar; ich kenne fir sie folgende Einschrän- |
    kungen: Sie erfordert ein gewisses Maass von Reife und —
    Einsicht beim Kranken, taugt daher nicht für kindliche Per- _
    sonen oder für erwachsene Schwachsinnige und Rg |
    Sie scheitert bei allzu betagten Personen daran, dass sie bei
    ihnen, dem angehäuften Materiale entsprechend, allzuviel Zeit —
    in Anspruch nehmen würde, so dass man bis zur Den
    der Cur in einen Lebensabschnitt gerathen würde, für welchen —
    auf nervóse Gesundheit nieht mehr Werth gelegt wird. End-
    lich ist sie nur dann moglich, wenn der Kranke einen psychi-
    schen Normalzustand hat, von dem aus sich das pathologische
    Material bewältigen lässt. Während einer hysterischen Ver- |
    worrenheit, einer eingeschalteten Manie oder Melancholie ist —

    m

    mit den Mitteln der Psychoanalyse nichts zu leisten. Man -
    kann solche Fille dem Verfahren noch unterziehen, nach- |

    dem man mit den gewöhnlichen Maassregeln die 61100 නා 0 |
    der stürmischen Erscheinungen herbeigeführt hat. In der -
    Praxis werden überhaupt die chronischen Fille von Psycho-
    neurosen besser der Methode Stand halten, als die Fille mit
    acuten Krisen, bei denen das Hauptgewicht naturgemäss df 3
    die Raschheit der Erledigung fällt. Daher geben auch die —
    hysterischen Phobien und die verschiedenen Formen der
    ZWangsneurose das günstigste Arbeitsgebiet fiir diese neue
    Therapie. JA

    Dass die Methode in diese Schranken gebannt ist, er-
    klärt sich zum guten Theile aus den Verhältnissen, unter _
    denen ich sie ausarbeiten musste. Mein Material sind eben
    chronisch Nervöse der gebildeteren Stände. Ich halte es fir
    sehr wohl möglich, dass sich ergänzende Verfahren für kind-
    liche Personen und für das Publicum, welches in den Spitälern _
    Hilfe sucht, ausbilden lassen. Ich muss auch anführen, dass y
    ich meine Therapie bisher ausschliesslich an schweren Fällen |
    von Hysterie und Zwangsneurose erprobt habe; wie es sich
    bel jenen leichten Erkrankungsfällen gestalten würde, die man _
    bei einer indifferenten Behandlung von wenigen Monaten in -
    wenigstens scheinbare Genesung ausgehen sieht, weiss ich —
    nieht anzugeben. Wie begreiflich, durfte eine neue Therapie.
    die vielfaehe Opfer erfordert, nur auf solche Kranke rechnen, )
    die bereits die anerkannten Heilmethoden ohne Erfolg ver _
    sucht hatten, oder deren Zustände den Schluss berechtigten, _
    sie hätten von diesen angeblich bequemeren und kürzeren |
    Heilverfahren nichts zu erwarten. So musste ich mit einem |
    unvollkommenen Instrumente sogleich die schwersten Auf- |
    gaben in Angriff nehmen; die Probe ist um so beweiskráftiger
    ausgefallen. i

    Die wesentlichen Schwierigkeiten, die sich jetzt noch |
    der psychoanalytischen Heilmethode entgegensetzen, liegen _
    nicht an ihr selbst, sondern in dem Mangel an Verständniss |
    für das Wesen der Psychoneurosen bel Aerzten und Laien. |
    Es ist nur das nothwendige Correlat zu dieser vollen |
    Unwissenheit, wenn sich die Aerzte für berechtigt halten,
    den Kranken durch die unzutreffendsten Versicherungen zu
    trösten oder zu therapeutischen Maassnahmen zu veranlassen.
    „Kommen Sie für sechs Wochen in meine Anstalt und Sie _
    werden Ihre Symptome (Reiseangst, Zwangsvorstellungen etc.)

  • S.

    ‎Tr‏ ₪ .ו

    ‎. w

    ‎Nr. 7 | Wiener klinisehe Rundschau 1898. 105

    ‎verloren haben.“ Thatsächlich ist die Anstalt unentbehrlich
    für die Beruhigung acuter Zufálle im Verlaufe einer Psycho-
    neurose durch Ablenkung, Pflege und Schonung: zur Be-
    seitigung chronischer Zustände leistet sie — nichts und zwar
    die vornehmen, angeblich wissenschaftlich geleiteten, Sana-
    torien ebensowenig wie die gemeinen Wasserheilanstalten.

    ‎Es wire würdiger und dem Kranken, der sich doch
    schliesslich mit seinen Beschwerden abfinden muss, zutrig-
    licher, wenn der Arzt die Wahrheit sprechen würde, wie er
    sie alle Tage kennen lernt: Die Psychoneurosen sind als
    Genus keineswegs leichte Erkrankungen. Wenn eine Hysterie
    anfängt, kann Niemand vorher wissen, wann sie ein Ende
    nehmen wird. Man tróstet sich meist vergeblich mit der
    Prophezeiung: Eines Tages wird sie plötzlich vorüber sein.Die
    Heilung erweist sich háufig genug als em blosses Uebereinkommen
    zur gegenseitigen Duldung zwischen dem Gesunden und dem
    Kranken im Patienten oder erfolet auf dem Wege der Um-

    ‎wandlung eines Symptomes in-eine Phobie. Die mühsam be-

    ‎schwichtigte Hysterie des Mádchens lebt nach kurzer Unter-
    brechung durch das junge Ehegliick in der Hysterie der Ehe-
    frau wieder auf, nur dass jetzt eine andere Person als früher,
    der Ehemann, durch sein Interesse veranlasst wird, über den
    Erkrankungsfall zu schweigen. Wo es nicht zu manifester
    Kxistenzunfåhigkeit in Folge von Krankheit kommt, da fehlt
    doch fast nie die Einbusse an aller freien Entfaltung der
    Seelenkråfte. Zwangsvorstellungen kehren das ganze Leben
    hindurch wieder; Phobien und andere Willenseinseh rànkungen
    sind für jede Therapie bisher unbeeinflussbar gewesen. Das

    ‎Alles wird dem Laien vorenthalten, und darum ist der Vater

    ‎einer hysterischen Tochter entsetzt, wenn er z. B. zu einer
    einjahrigen Behandlung seines Kindes zustimmen soll, wo
    doch die Krankheit etwa erst einige Monate gedauert hat.
    Der Laie ist sozusagen von der Ueberflüssigkeit all' dieser
    Prychoneurosen tief innerlich überzeugt, er bringt darum dem

    ‎Krankheitsverlaufe keine Geduld und. der Therapie keine |

    ‎Opferbereitschaft entgegen. Wenn er sich angesichts eines

    ‎Typhus, der drei W ochen anhält, eines Beinbruches, der zur

    ‎Heilung sechs Monate beansprucht, verstindiger benimmt,
    wenn ihm die Fortsetzung orthopädischer Maassnahmen durch
    mehrere Jahre einsichtlich erscheint, sobald sich die ersten
    Spuren einer Rückgratsverkrümmung bei seinem Kinde zeigen.
    so rührt dieser Unterschied von dem besseren Verständnisse
    der Aerzte her, die ihr Wissen in ehrlicher Mittheilung dem
    Laien übertragen. Die Aufrichtigkeit der Aerzte und die Ge-
    fügigkeit der Laien wird sich auch für die Psychoneurosen
    herstellen, wenn erst die Einsicht in das Wesen dieser Attec-
    tionen ärztliches Gemeingut geworden ist. Die psychothera-
    peutische Radicalbehandlung derselben wird wohl immer eine
    besondere Schulung erfordern und mit der Ausübung anderer
    ärztlicher 'Thåtigkeit unverträglich sein. Dafür winkt dieser,
    in der Zukunft wohl zahlreichen, Classe von Aerzten Gelegen-
    heit zu rühmlichen Leistungen und eine befriedigende Kin-
    sicht in das Seelenleben des Menschen.

    ‎Unsere Aufgaben auf dem Gebiete der Diätetik.
    Von Dr. L. v. Udranszky,

    ‎Professor der Physiologie in Klausenburg.
    (Fortsetzung. *)

    ‎Man könnte daran denken, dass die spontan gewählte
    Kost eines Theiles der Menschen — besonders ihren Eiweiss-
    gehalt betreffend — den „Normalzahlen“ der Theorie viel-
    leicht nur darum nicht entspricht. weil das Körpergewicht
    gerade dieser Menschen kleiner ist, als das Gewicht der-
    jenigen Versuchspersonen, welche den verschiedenen Autoren,
    die solche „Normalzahlen“ vorgeschlagen haben, bei ihren
    Stoffwechselversuchen zu Gebote standen. Der Abstand zwischen
    der Theorie und Praxis wäre daher vielleicht zu überbrücken,

    ‎*) Siehe „Wiener klinische Rundschan® 1898 Nr. 6

    ‎wenn man die „Normalzahlen* nicht in absoluten, sondern in
    relativen, auf die Einheit des Kórpergewichtes bezogenen
    Werthen angeben würde. Vielleicht dürfte man dann die
    .Normalzahlen* in dieser Form nicht nur bequem. sondern
    auch mit Fue und Recht verallgemeinern. Es wäre dann in
    einem gegebenen Falle nichts weiter zu thun, als das Kórper-
    gewicht der betreffenden Person zu bestimmen und die auf
    die Einheit des Kórpergewichtes bezogenen „Normalzahlen”*
    dann um so viel zu multipliciren, wie viel Kilogramm das
    Gewicht der betreffenden Person beträgt. Die Bestimmung
    des Kopergewichtes ist leicht durchzuführen und erfordert
    nicht viel Zeit.

    ‎Die Physiologie des Stoffwechsels lehrt uns aber, dass
    die auf die Einheit des Korpergewichtes bezogenen Stoft-
    wechselwerthe nur bei Individuen von ungefähr gleichem
    Körpergewichte und gleicher Constitution annähernd gleich
    hoch sind. Bei Menschen von grossem Körperbau sind die-
    selben kleiner, bei Leuten von untersetztem \Vuchse dagegen
    grösser. Wir würden daher bei weitem weniger. bieten, als
    es das thatsächliche Bedürfniss erfordert, wenn wir die Kost
    für einen Menschen von weniger als 70 kg Körpergewicht
    in der Weise feststellen wollten, dass wir von den, zu den
    auf die Einheit des Körpergewichtes bezogenen „Normalzahlen“
    angepassten Werthen so viel in Abzug bringen wollten, um
    wie viel das Gewicht der betreffenden Person unterhalb
    70 kg zu stehen kommt. Ebenso würden wir demgegenüber
    die Kost für einen Menschen, dessen Körpergewicht mehr als
    70 kg beträgt, im Verhältniss zum thatsächlichen Bedarf
    viel zu üppig angeben, wollten wir ihm um so viel mehr
    vorschreiben. um wie viel sein Köpergewicht 70 ko
    übertrifft,

    ‎Aus all: dem müssen wir also folgern, dass man die
    .Normalzahlen* selbst dann noch nicht verallgemeinern und
    im gegebenen Falle ohne jede weitere Erwágung anwenden
    darf, ‚wenn man auch noch das Körpergewicht der in Frage
    stehenden Person bestimmt hat. Man muss noch andere Fac-
    toren berücksichtigen, wenn man Jemandem eine wirklich
    entsprechende Kost vorschreiben will.

    ‎Der richtige Weg ist schon eher eingeschlagen, ja man
    kann sogar für praktische Zwecke den Postulaten der Theorie
    genügend entsprechen, wenn man im gegebenen Falle nicht
    nur den Gewichtswerth des Individuums, sondern auch noch
    ein anderes Maass seines Körpers, nämlich die Grösse der
    Körperoberfläche in Betracht zieht. Der auf die Einheit der
    Koperoberfliche bezogene Werth des Gesammistoftwechsels
    ist nämlich bei Menschen von hohem und von niederigerem
    Wuchse annähernd der gleiche. Eben darum ist der auf die
    Einheit des Körpergewichtes bezogene Stoffwechselwerth grösser
    bei kleinen Individuen, als bei solchen von hohem Wuchse,
    weil die Oberfläche im Verhältnisse zur Masse des Körpers
    bei den ersteren einen höheren Werth repräsentirt, als bei
    den letzteren. Der Einfluss der Korperoberfliche auf den
    Stoffwechsel findet seine Erklárung unter Anderem bekannter-
    weise hauptsächlich darin, dass der Organismus eben an der
    Oberfläche den grössten Verlust an Knergie zu tragen
    hat. Je grösser die Oberfläche des Körpers, desto grösser
    wird daher relativ der Kraft- und Stoffwechsel in der Kin-

    ‎| heit des Körpergewichtes. Die Einheit des Körpergewichtes,

    ‎respective die Masse der in ihr enthaltenen activen, erreg-
    baren Substanz steht bei jedem Menschen zu einem gewissen
    Theile der Körperoberfläche für die gegebene Zeit ın einem
    bestimmten Verhältnisse und die Grösse des Kräfteverlustes
    sowie der zu seinem Ersatz nöthige Stoffwechsel sind ge-
    rade von diesem Verhältnisse abhängig. |

    ‎Die ,Normalzahlen" werden also dann zu echten „Nor-
    malzahlen* und man darf dieselben mit Bezugnahme auf Indi-
    viduen annähernd gleichen Alters und gleicher Lebensweise

    ‎unter physiologischen Verhältnissen dann verallgemeinern,

    ‎wenn sie auf die Einheit der Körperoberfläche berechnet zur
    Anwendung kommen. Die hierzu nothwendige Bestimmung der