Die Sexualität in der Ätiologie der Neurosen 1898-001/1906
  • S.

    XI.

    Die Sexualität in der Ätiologie der Neurosen. ‘)

    Durch eingehende Untersuchungen bin ich in den letzten
    Jahren zur Erkenntnis gelangt, daß Momente aus dem Sexual«
    leben die nächsten und praktisch bedeutsamsten Ursachen
    eines jeden Falles von neurotischer Erkrankung darstellen.
    Diese Lehre ist nicht völlig neu; eine gewisse Bedeutung ist
    den sexuellen Momenten in der Ätiologie der Neurosen von
    jeher und von allen Autoren eingeräumt worden; für manche
    Unterströmungen in der Medizin ist die Heilung von „Sexual—
    beschwerden“ und von „Nervenschwäche“ immer in einem
    einzigen Versprechen vereint gewesen. Es wird also nicht
    schwer halten, dieser Lehre die Originalität zu bestreiten,
    wenn man einmal darauf verzichtet haben wird, ihre Triftig—
    keit zu leugnen.

    In einigen kürzeren Aufsätzen, die in den letzten Jahren
    im „Neurologischen Centralblatt“, in der „Revue neurologique“
    und in der „Wiener klinischen Rundschau“ erschienen sind,
    habe ich versucht, das Material und die Gesichtspunkte an—
    zudeuten, welche der Lehre von der „sexuellen Ätiologie der
    Neurosen“ eine wissenschaftliche Stütze bieten. Eine ausführ-
    liche Darstellung steht noch aus, und. zwar Wesentlich darum,
    weil man bei der Bemühung, den als tatsächlich erkannten
    Zusammenhang aufzukliiren, zu immer neuen Problemen ge—
    langt, fiir deren Lösung es anVurarbeiten fehlt. Keineswegs
    verfrü.ht erscheint mir aber der Versuch, das Interesse des
    praktischen Arztes auf die von mir behaupteten Verhältnisse
    zu lenken, damit er sich in Einem von der Richtigkeit dieser
    Behauptungen und von den Vorteilen überzeuge, welche er
    für sein ärztliches Handeln aus ihrer Erkenntnis ableiten kann.

    1) Wiener klinische Rundschau, 1898, Nr, 2, 4, 5 und 7.

  • S.

    182

    Ich weiß, daß es an Bemühungen nicht fehlen wird,
    den Arzt durch ethisch gefärbte Argumente von der Ver-
    folgung dieses Gegenstandes abzuhalten. Wer sich bei seinen
    Kranken überzeugen Will, ob ihre Neurosen wirklich mit ihrem
    Sexualleben Zusammenhängen, der kann es nicht Vermeiden,
    sich bei ihnen nach ihrem Sexuelleben zu erkundigen und
    auf wahrheitsgetreue Aufklärung über dasselbe zu dringen.
    Darin soll aber die Gefahr für den Einzelnen wie fiir die
    Gesellschaft liegen. Der Arzt, höre ich sagen, hat kein Recht,
    sich in die sexuellen Geheimnisse seiner Patienten einzudrängen,
    ihre Schamhaftigkeit — besonders der weiblichen Personen
    ‚ durch solches Examen gröblich zu verletzen. Seine un-
    geschickte Hand kann nur Femiliengliick zerstören, bei jugend—
    lichen Personen die Unschuld beleidigen und der Autorität
    der Eltern vorgreifen; bei Erwachsenen wird er unbequeme
    Mitwisserscheft erwerben und sein eigenes Verhältnis zu seinen
    Kranken zerstören, Es sei also seine ethische Pflicht, der
    ganzen sexuellen Angelegenheit ferne zu bleiben.

    Man darf wohl antworten: Das ist die Äußerung einer
    des Arztes unwü.rdigen Prüderie, die mit schlechtenArgumenten
    ihre Blöße mangelhaft verdeckt. Wenn Momente aus dem
    Sexuelleben wirklich als Krankheitsursachen zu erkennen sind,
    so Fällt die Ermittlung und Besprechung dieser Momente eben
    hiedurch ohne weiteres Bedenken in den Pflichtenln‘eis des
    Arztes. Die Verletzung der Schamheftigkeit‚ die er sich dabei
    zuschulden kommen läßt, ist keine andere und keine ärgere,
    sollte man meinen, als wenn er, um eine örtliche Afl'ektion
    zu heilen, auf der Inspektion der weiblichen Genitelien be—
    steht, zu Welcher Forderung ihn die Schule selbst verpflichtet.
    Von älteren Frauen, die ihre Jugendjahre in der Provinz
    zugebrecht haben, hört man oft noch erzählen, daß sie einst
    durch überrnällige Genitnlblutungen bis zur Erschöpfung
    heruntergekommen waren, weil sie sich nicht entschließen
    konnten, einem Arzte den Anblick ihrer Nacktheit zu gestatten.
    Der erziehliche Einfluß, der von den Ärzten auf das Publikum
    geübt wird, hat es im Laufe einer Generation dahin gebracht,
    dal] bei unseren jungen Frauen solches Sträuben nur höchst
    selten vorkommt, Wo es sich träi'e, würde es als unverständige

  • S.

    183

    Prüderie, als Scham am unrechten Orte verdammt werden.
    Leben wir denn in der Türkei, würde der Ehemann fragen,
    WO die kranke Frau dem Arzte nur den Arm durch ein Loch
    in der Mauer zeigen darf?!

    Es ist nicht richtig, daß das Examen und die Mit-
    wisserschaft in sexuellen Dingen dem fihte eine gefährliche
    Machtfülle gegen seine Patienten verschaflh Derselbe Ein-
    wand konnte sich mit mehr Berechtigung seinerzeit gegen
    die Anwendung der Narkose richten, durch welche der Kranke
    seines Bewußtseins und seiner Willensbestimmung beraubt,
    und es in die Hand des Arztes gelegt wird, ob und wann er
    sie wieder erlangen soll. Doch ist uns heute die Narkose
    unentbehrlich geworden, weil sie dem ärztlichen Bestreben,
    zu helfen, dienlich ist wie nichts anderes, und der Arzt hat
    die Verantwortlichkeit fiir die Narkose unter seine anderen
    ernsten Verpflichtungen aufgenommen,

    Der Arzt kann in allen Fällen Schaden stiften, wenn
    er ungeschickt oder gewissenlos ist, in anderen Fällen nicht
    mehr und nicht minder, als bei der Forschung nach dem
    Sexualleben seiner Patienten. ‚Freilich, wer in einem schätzens«
    werten Ansatz zur Selbsterkenntnis sich nicht das Takt—
    gefühl, den Ernst und die Verschwiegenheit zutraut, deren
    er fiir das Examen der Neurotiker bedarf, wer von sich weiß,
    daß Enthülluugen aus dem Sexualleben lüsternen Kitzel an-
    statt wissenschaftlichen Interesses bei ihm hervorrufen werden,
    der tut recht daran, dem Thema der Ätiologie der Neurosen
    fernzubleiben. Wir- verlangen nur noch, daß er sich auch von
    der Behandlung der Nervösen fernhalte.

    Es ist auch nicht richtig, daß die Kranken einer Er-
    forschung ihres Sexuallebens unüberwindliche Hindernisse ent—
    gegensetzen Erwachsene pflegen sich nach kurzem Zögern
    mit den Worten zurechtznrücken: Ich bin doch beim Arzte;
    dem darf man alles sagen. Zahlreiche Frauen, die an der
    Aufgabe, ihre sexuellen Gefühle zu verbergen, schwer genug
    durchs Leben zu tragen haben, finden sich erleichtert, wenn
    sie beim Arzte merken, daß hier keine andere Rücksicht
    über die ihrer Heilung gesetzt ist, und danken es ihm, daß
    sie sich auch einmal in sexuellen Dingen rein menschlich ge—

  • S.

    184

    berden dürfen, Eine dunkle Kenntnis der vorweltenden Be—
    deutung sexueller Momente für die Entstehung der Nervo—
    sität, wie ich sie für die Wissenschaft neu zu gewinnen
    suche, scheint imBewußtsein der Laien überhaupt nie unter-
    gega.ngen zu sein, Wie oft erlebt man Szenen wie die fol—
    gende: Man hat ein Ehepaar vor sich, von dem ein Teil
    an Neurose leidet, Nach vielen Einleitungen und Entschul—
    digungen, daß es für den Arzt, der in solchen Fällen helfen
    Will, konventionelle Schranken nicht geben darf u, dgl, teilt
    man den Beiden mit, man vermute, der Grund der Krank—
    heit liege in der unnatürlichen und schädlichen Art des
    sexuellen Verkehres, die sie seit der letzten Entbindung der
    Frau gewählt haben dürften. Die Ärzte pflegen sich um diese
    Verhältnisse in der Regel nicht zu kümmern, allein das sei
    nur verwerflieh, wenn auch die Kranken nicht gerne davon
    hören usw. Dann stößt der eine Teil den anderen an und
    sagt: Siehst du, ich habe es dir gleich gesagt, das wird mich
    krank machen. Und der andere antwortet: Ich hab’ mir’s ja.
    auch gedacht, aber was soll man tun?

    Unter gewissen anderen Umständen, etwa bei jungen
    Mädchen, die je systematisch zur Verhehlung ihres Sexual-
    lebens erzogen werden, wird man sich mit einem recht be-
    scheidenen Maße von aufrichtigem Entgegenkomrneu begnügen
    müssen. Es fällt aber hier ins Gewicht, daß der kundige Arzt
    seinen Kranken nicht unvorbereitet entgegentritt und in der
    Regel nicht Aufklänmg, sondern bloß Bestätigung seinerVer—
    mutungen von ihnen zu fordern hat. Wer meinen Anweisungen
    folgen Will, wie man sich die Morphologie der Neurosen zu—
    rechtzulegen und ins Ätiologische zu übersetzen hat, dem
    brauchen die Kranken nur wenig Geständnisee mehr zu
    machen In der nur allzu bereitwillig gegebenen Schilderung
    ihrer Krankheitssymptome haben sie ihm meist die Kenntnis
    der dahinter verborgenen sexuellen Faktoren mit-verraten,

    Es wäre von großem Vorteil, wenn die Kranken besser
    Wiißten, mit welcher Sicherheit dein Arzte die Deutung ihrer
    neurotischen Beschwerden und der Rückschluß von ihnen auf
    die wirksame sexuelle Ätiologie nunmehr möglich ist. Es wäre
    sicherlich ein Antrieb für sie, auf die Heimlichkeit von dem

  • S.

    185

    Augenblicke an zu verzichten, da sie sich entschlossen haben,
    für ihr Leiden um Hilfe zii bitten. Wir haben aber alle ein
    Interesse daran, daß auch in sexuellen Dingen ein höherer
    Grad von Aufiichtigkeit unter den Menschen Pflicht werde,
    als er bis jetzt verlangt wird. Die sexuelle Sittlichkeit kann
    dabei nur gewinnen. Gegenwärtig sind wir in Sachen der
    Sexualität samt und sonders Heuchler, Kranke wie Gesunde.
    Es wird uns nur zugute kommen, wenn im Gefolge der all—
    gemeinen Aufrichtigkeit ein gewisses Maß von Duldung in
    sexuellen Dingen zur Geltung gelangt.

    Der Arzt hat gewöhnlich ein sehr geringes Interesse an
    manchen ‚der Fragen, Welche unter den Neuropathologen in
    betrefl' der Neurosen diskutiert werden, etwa ob man Hysterie
    und Neurasthenie strenge zu sondern berechtigt ist, ob man
    eine Hystero-Neurasthenie daneben unterscheiden darf, ob
    man das Zwangsvorstellen zur Neurasthenie rechnen oder als
    besondere Neurose anerkennen soll u. dgl. m. Wirklich
    dürfen auch solche Distinktionen dern Arzte gleichgiltig sein,
    so lange sich an die getrofl'ene Entscheidung weiter nichts
    knüpft, keine tiefere Einsicht und kein Fingerzeig für die
    Therapie, so lange der Kranke in allen Fällen in die Wasser-
    heilanstalt geschickt wird, oder zu hören bekommt— daß ihm
    nichts fehlt. Anders aber, wenn man unsere Gesichtspunkte
    über die ursä'ßhlichen Beziehungen zwischen der Sexualität
    und den Neurosen annimmt. Dann erwacht ein neues Interesse
    für die Symptomatologie der einzelnen neurotischen Fälle, und
    es gelangt zur praktischen Wichtigkeit, daß man das kom-
    plizierte Bild richtig in seine Komponenten zu zerlegen und
    diese richtig zu benennen verstehe. Die Morphologie der
    Neurosen ist nämlich mit geringer Mühe in Ätiologie zu
    übersetzen, und aus der Erkenntnis dieser leiten sich, wie
    selbstverständlich, neue therapeutische Anweisungen ab.

    Die bedeutsame Entscheidung nun, die jedesmal durch
    sorgfältige Würdigung der Symptome sicher getroffen werden
    kann, geht dahin, ob der Fall die Charaktere einer N euresthenie
    oder einer Psychoneurose (Hysterie, Zwangsvorstellen) an
    sich trägt. (Es kommen ungemein häufig Mischfälle vor, in
    denen Zeichen der Neuregthenie mit denen einer Psycho—

  • S.

    186

    neurase vereinigt sind; wir wollen aber deren Würdigung
    für später aufsparen.) Nur bei den Neurasthenien hat. das
    Examen der Kranken den Erfolg, die ätiologischen Momente
    aus dem Sexualleben aufzudecken; dieselben sind dem Kranken,
    wie natürlich, bekannt und gehören der Gegenwart, richtiger
    der Lebenszeit seit der Geschlechtsreife an (wenngleich auch
    diese Abgrenzung nicht alle Fälle einzuschließen gestattet),
    Bei den Psychoneurosen leistet ein solches Examen wenig;
    es verschafft uns etwa die Kenntnis von Momenten, die man
    als Veranlassungen anerkennen muß, und die mit dem Sexual-
    leben zusammenhängen oder auch nicht; im ersteren Falle
    zeigen sie sich dann nicht von anderer Art als die ätiologischen
    Momente der Neurasthenie, lassen also eine spezifische Be-
    ziehung zur Verursachung der Psychoneurose durchaus ver-
    missen. Und doch liegt auch die Ätiologie der Ps yehoneurosen
    in jedem Falle Wiederum im Sexuellen. Auf einem merk-
    würdigen Umwege, von dem später die Rede sein wird, kann
    man zur Kenntnis dieser Ätiologie gelangen und begreiflioh
    finden, daß der Kranke uns von ihr nichts zu sagen wußte.
    Die Ereignisse und Einwirkungen nämlich, welche jeder
    Psychoneurose zugrunde liegen, gehören nicht der Aktualität
    an, sondern einer längst vergangenen, sozusagen prähistorischen
    Lebensepoehe, der frühen Kindheit, und darum sind sie auch
    dem Kranken nicht bekannt. Er hat sie — in einem bestimmten
    Sinne nur — vergessen.

    SexueLle Ätiologie also in allen Fällen von Neurose;
    aber bei den Neurasthenien solche von aktueller Art, bei den
    Psychoneurosen Momente infantiler Natur; dies ist der erste
    große Gegensatz in der Ätiologie der Neurosen Ein zweiter
    ergibt sich, wenn man einem Unterschiede in der Symptomatik
    der Neurasthenie selbst Rechnung trägt Hier finden sich
    einerseits Fälle, in denen sich gewisse für die Neurasthenie
    charakteristische Beschwerden in den Vordergrund drängen:
    Der Kopfd1'uck, die Erruüdbarkeit, die Dyspepsie, die Stuhl—
    Verstopfung, die Spinalirritation usf. In anderen Fällen treten
    diese Zeichen zurück, und das Krankheitsbild setzt sich aus
    anderen Symptomen zusammen, die sämtlich eine Beziehung
    zum Kernsymptom, der ‚Angst“, erkennen lassen (freie

  • S.

    187

    Ängstlichkeit, Unruhe,Erwartungsangst, komplete, mdimentäre
    und supplementäre Angstanfälle, lchmotoiischer Schwindel,
    Agoraphobie, Schlaflosigkeit, Schmerzsteigerung, usw.) Ich
    habe dem ersten Typus von Neun-asthenie seinen Namen
    belassen, den zweiten aber als „Angstneurose“ ausgezeichnet,
    und diese Scheidung an anderem Orte begründet, woselbst
    auch der Tatsache das in der Regel gemeinsamen Vorkommens
    beider Neurosen Rechnung getragen wird. Für unsere Zwecke
    genügt die Hervorhebung, daß der symptomatischcn Ver-
    schiedenheit beider Formen ein Unterschied der Ätiologie
    parallel geht, Die Nemesthenie läßt sich jedesmal auf einen
    Zustand des Nervensystems zurückfi'ihren, wie er durch
    exzessive Masturbation erworben wird oder durch gehäufte
    Pollutionen spontan entsteht; bei der Angstneurose findet man
    regelmäßig sexuelle Einflüsse, denen das Moment der Zurück-
    haltung oder der unvollkommenen Befriedigung gemeinsam
    ist, wie: Coitus interruptus, Abstinenz bei lebhafter Libido,
    sogenannte frustrane Erregung u. dgl. In dem kleinen Auf—
    setze, welcher die Angstneurose einzuführen bemüht war,
    habe ich die Formel ausgesprochen, die Angst sei überhaupt
    eine von ihrer Verwendung abgelenkte Libido.

    Wo in einem Falle Symptome der Neurasthenie und
    der Angstneurose vereinigt sind, also ein Mischfall vorliegt,
    da. hält man sich an den empirisch gefundenen Satz, daß einer
    Vermengung von Neurosen ein Zusammenwirken von mehreren
    ätiologischen Momenten entspricht, und wird seine Erwartung
    jedesmal bestätigt finden. Wie oft diese ätiologischen Momente
    durch den Zusammenhang der sexuellen Vorgänge organisch
    miteinander verknüpft sind, z. B. Coitus interruptus oder
    ungenügende Potenz des Mannes mit der Masturbation, dies
    wäre einer Ausfiihnmg im einzelnen wohl würdig.

    Wenn man den vorliegenden Fall von neurastheniecher
    Neurose sicher diagnostiziert und dessen Symptome richtig
    gruppiert hat, so darf man sich die Symptomatik in Ätiologie
    übersetzen und denn von den Kranken dreist die Bekräftigung
    seiner Vermutungen verlangen. AnfänglicherWiderspruch darf
    einen nicht irre machen; man besteht fest auf dem, was man
    erschlossen hat, und besiegt endlich jedenWiderstand dadurch,

  • S.

    158

    daß man die Unerschütterlichkeit seiner Überzeugung betont.
    Man erfährt dabei allerlei aus dem Sexualleben der Menschen,
    Womit sich ein nützliches und lehr'reiches Buch füllen ließe,
    lernt es auch nach jeder Richtung hin bedauern, daß die
    Sexualwissenschajt heutzutage noch als unehrlich gilt. Da
    kleinere Abweichungen von einer normalen vita sexuah's viel
    zu häufig sind, als daß man ihrer Auffindung Wert beilegen
    dürfte, wird man bei seinen neurntisch Kranken nur schwere
    und lange Zeit fortgesetzte Abnormitii-t des Sexuallebens als
    Aufklärung gelten lassen; daß man aber durch sein Drängen
    einen Kranken, der psychisch normal ist, veranlassen könnte,
    sich selbst falschlich sexueller Vergehen zu beziehtigen, das
    darf man getrost als eine imaginäre Gefahr vernachlässigen.

    Verführt man in dieser Weise mit seinen Kranken, so
    erwirbt man sich auch die Überzeugung, daß es für die
    Lehre von der sexuellen Ätiologie der Neurasthenie negative
    Fälle nicht gibt. Bei mir wenigstens ist diese Überzeugung
    so sicher geworden, daß ich auch den negativen Ausfall des
    Examens diagnostiseh verwertet habe, nämlich um mir zu
    sagen, daß solche Fälle keine Neurasthenie sein können. So
    kam ich mehrmals dazu, eine progressive Paralyse anstatt einer
    Neurasthenie anzunehmen, weil es mir nicht gelungen war,
    die nach meiner Lehre erforderliche ausgiebige Masturbation
    nachzuweisen, und der Verlauf dieser Fälle gab mir nach-
    trägl.ich Recht. Ein andermal, wo der Kranke, bei Abwesenheit
    deutlicher organischer Veränderungen, über Kopfdruck, Kopf—
    schmerzen und Dyspepsie klagte und meinen sexuellen Ver-
    dächtigungen mit Aufr'ichtigkeit. und überlegener Sicherheit
    begegnete, fiel es mir ein, eine latente Eiterung in einer der
    Nebenhöhlen der Nase zu vermuten, und ein spezielistisch
    geschulter Kollege bestätigte diesen aus dem sexuell negativen
    Examen gezogenen Schluß, indem er den Kranken durch
    Entleerung von foetidem Eiter aus einer Highniorshöhle von
    seinen Beschwerden befreite.

    Der Anschein, als ob es dennoch „negative Fälle“ gäbe,
    kann auch auf andere Weise entstehen. Das Examen weist
    mitunter ein normales Sexualleben bei Personen nach, deren
    Nenr05e einer Neurasthenie oder einer Angstneurose für eher—

  • S.

    189

    fläehliche Beobachtung wirklich genug ähnlich sieht. Tiefer
    eindringende Untersuehung deckt aber dann regelmäßig den
    wahren Sachverhalt auf. Hinter solchen Fällen, die man für
    Nemasthenie gehalten hat, steckt eine Psychoneurose, eine
    Hysterie oder Zwangsneuroee. Die Hysterie insbesondere, die
    so viele organische Afi‘ektionen nachehmt, kann mit Leichtigkeit
    eine der aktuellen Neuro:en vortäuechen‚ indem sie deren
    Symptome zu hysterischen erhebt. Solche Hysterien in der
    Form der Neurasthenie sind nicht einmal sehr selten, Es ist
    aber keine wohlfeile Auskunft, wenn man für die Neurasthenien
    mit sexuell negativer Auskunft auf die Psychoneurosen re-
    kurriert; man kann den Nachweis hiefiir führen auf jenem
    Wege, der allein eine Hysterie untrüglieh entlarvt, auf dem
    Wege der später zu erwähnendeu Psychoanalyse.

    Vielleicht wird nun Mancher, der gerne bereit ist, der
    sexuellen Ätiologie bei seinen neurasthenisch Kranken
    Rechnung zu tragen, es doch als eine Einseitigkeit lügen,
    wenn er nicht aufgefordert wird, auch den anderen Momenten,
    die als Ursachen der Neuasthenie bei den Autoren allgemein
    erwähnt sind, seine Aufmerksamkeit zu schenken, Es fällt
    mir nun nicht ein, die sexuelle Ätiologie bei den Neurosen
    jeder anderen zu substituieren, so daß ich derenWir-ksamkeit
    fiir aufgehoben erklären würde. Das wäre ein Mißverständnis.
    Ich meine vielmehr, zu all den bekannten und wahrscheinlich
    mit Recht anerkannten ätiologischen Momenten der Autoren
    für die Entstehung der Neurasthenie kommen die sexuellen,
    die bisher nicht hinreichend gewürdigt werden sind, noch
    hinzu. Diese verdienen aber, nach meiner Schätzung, daß man
    ihnen in der ätiologiechen Reihe eine besondere Stellung an-
    weise. Denn sie allein werden in keinem Falle von Neu—
    rasthenie vermißt, sie allein vermögen es, die Neurose ohne
    Weitere Beihilfe zu erzeugen, so daß diese anderen Momente
    zur Rolle einer Hilfs— und Supplementiirätiologie herebgedrückt
    scheinen; sie allein gestatten dem Arzte, sichere Beziehungen
    zwischen ihrer Mannigfaltigkeit und der Vielheit der Krank—
    heitsbilder zu erkennen. Wenn ich dagegen die Fälle zu—
    sammenstelle, die angeblich durch Überarbeitung, Gemüte-
    aufregung, nach einem Typhus u. dgl. neurasthenisch ge-

  • S.

    190

    werden sind, so zeigen sie mir in den Symptomen nichts
    Gemeinsames, ich wußte aus der Art der Ätiologie keine
    Erwartung in betrefl“ der Symptome zu bilden, wie umgekehrt
    aus dem Krankheitsbilde nicht auf die einwirkende Ätiolog‘e
    zu schließen.

    Die sexuellen Ursachen sind auch jene, welche dem
    Arzte am ehesten einen Anhalt für sein therapeutisches
    Wirken bieten Die Heredität ist unzweifelhaft ein bedeut—
    samer Faktor, wo sie sich findet; sie gestattet, daß ein großer
    Krmkheitseflekt zustande kommt, wo sich sonst nur ein sehr
    geringer ergeben hätte. Allein die Hereclitä.t ist der Beein-
    flussung des Arztes unaugänglich; ein jeder bringt seine
    hereditären Krankheitsneigungen mit sich; wir können nichts
    mehr daran ändern. Auch dürfen wir nicht vergessen, daß
    wir gerade in der Ätiologie der Neuasthenien der Heredität
    den ersten Rang notwendig Versagen müssen. Die Neurssthenie
    [in beiden Formen) gehört zu den Afi'ektionen, die jeder
    erbh'ch Unbelastete bequem erwerben kann. Wäre es anders,
    so Wäre ja die riesige Zunahme der Neurasthenie undenkbar,
    über welche alle Autoren klagen. Was die Zivilisation betrifi*t‚
    zu deren Sündenregister man oft die Verursachung der Neu-
    rasthenie zu schreiben pflegt, so mögen auch hierin die
    Autoren Recht haben (WieWohl Wahrscheinlich auf ganz anderen
    Wegen, als sie vermeinen); aber der Zustand unserer Zivili-
    sation ist gleichfalls für den Einzelnen etwas Unabänderliches;
    übrigens erklärt dieses Moment bei seiner Allgemeingiltigkeit
    für die Mitglieder derselben Gesellschaft niemals die Tatsache
    der Auswahl bei der Erkrankung. Der nicht neurasthenische
    Arzt steht ja unter demselben Einflusse der angeblich unheil-
    vollen Zivilisation wie der neurasthenische Kranke, den er
    behandeln soll. —— Die Bedeutung erschöpfender Einflüsse
    bleibt mit der oben gegebenen Einschränkung bestehen Aber
    mit dem Momente der „Überarbeitung“, das die Ärzte so
    gerne ihren Patienten als Ursache ihrer Neurose gelten lassen,
    wird übermäßig viel Mißbrauch getrieben. Es ist ganz richtig,
    daß jeder, der sich durch sexuelle Schädlichkeiten zur Neu-
    rasthenie disponiert hat, die intellektuelle Arbeit und die
    psychischen Mühen des Lebens schlecht verträgt, aber niemals

  • S.

    191

    wird jemand durch Arbeit oder durch Aufregung allein
    neurotilch. Geistige Arbeit ist eher ein Schutzmittel gegen
    neurasthenische Erkrankung; gerade die ausdauemdsten
    intellektuellen Arbeiter bleiben von der Neurasthenie ver-
    schont, und was die Neurastheni.ker als „krankmachende
    Überarbeitung“ anklagen, das verdient in der Regel Weder
    der Qualität noch dem Ausmaße nach als „geistige Arbeit“
    anerkannt zu werden. Die Ärzte werden sich wohl gewöhnen
    miissen, dem Beamten, der sich in seinem Bureau „über—
    angesant“, oder der Hausfrau, der ihr Hauswesen zu schwer
    geworden ist, die Aufklärung zu geben, daß sie nicht erkrankt
    sind, weil sie versucht haben, ihre für ein zivilisiertes Gehirn
    eigentlich leichten Pflichten zu erfüllen, sondern weil sie
    während dessen ihr Sexualleben gröblich vernachlässigt und
    verderben haben.

    Nur die sexuelle Ätiologie ermöglicht uns ferner das
    Verständnis aller Einzelheiten der Krankengeschichten bei
    Neurasthenikern, der rätselhaften Besserungen mitten im
    Krankheitsverlaufe und der ebenso unbegreiflichen Verschlim-
    merungen, die von Ärzten und Kranken dann gewöhnlich mit
    der eingeschlagenen Therapie in Beziehung gebracht werden.
    In meiner mehr als 200 Fälle umfassenden Sammlung ist
    z. B. die Geschichte eines Mannes verzeichnet, der, nachdem
    ihm die hausärztliche Behandlung nichts genützt hatte, zu
    Pfarrer Kneipp ging und von dieser Kur an ein Jahr von
    außerordentlicher Besserung mitten in seinen Leiden zu ver—
    zeichnen hatte. Als aber ein Jahr später die Beschwerden
    sich Wieder verstärkten und er neuerdings Hilfe in Wöris-
    hofen suchte, blieb der Erfolg dieser zweiten Kur aus. Ein
    Blick in die Familienchronik dieses Patienten löst das zwei—
    fache Rätsel auf : 61/2 Monate nach der ersten Rückkehr aus
    Wörishofen wurde dem Kranken von seiner Frau ein Kind
    geboren; er hatte sie also zu Beginn einer noch anerkannten
    Gravidität verlassen und durfte nach seiner Wiederknnft natür-
    lichen Verkehr mit ihr pflegen. Als nach Ablauf dieser für ihn
    heilsamen Zeit seine Neurose durch neuerlichen Coitus inter—
    ruptus wieder angefacht war, mußte sich die zweite Kur erfolglos
    erweisen, da jene oben erwähnte Gravidität die letzte blieb.

  • S.

    102

    Ein ähnlicher Fall, in dem gleichfalls eine unerwartete
    Einwirkung der Therapie zu erklären war, gestaltete sich noch
    lehrteicher, indem er eine rätsell1afte Abwechslung in den
    Symptomen der Neurose enthielt. Ein jugendlicher Nervöser
    war von seinem Arzte in eine wohlgeleitete Wasserheilanstalt
    wegen typischer Neurasthenie geschickt werden. Dort besserte
    sich sein Zustand anfänglich immer mehr, so daß alle Aussicht
    vorhanden war, den Patienten als dankbaren Anhänger der
    Hydrotherapie zu entlassen. Da. trat in der sechsten Woche
    ein Umschlag ein; der Kranke „vertrug das Wasser nicht
    mehr“, wurde immer nervöser und verließ endlich nach zwei
    weiteren Wochen ungeheilt und unzufrieden die Anstalt. Als
    er sich bei mir über diesen Trug der Therapie beklagte, er-
    kundigte ich mich ein Wenig nach den Symptomen, die ihn
    mitten in der Kur befallen hatten. Merkwürdigerweise hatte
    sich darin ein Wandel vollzogen. Er war mit Kopfdruck,
    Müdigkeit und Dyspepsie in die Anstalt gegangen; was ihn
    in der Behandlung gestört hatte, Waren: Aufgeregtheit, An-
    fälle von Beklemmung, Schwindel im Gehen und Schlaf-
    störung gewesen, Nun konnte ich den Kranken sagen: „Sie
    tun der Hydrotherapie Unrecht, Sie sind, wie Sie selbst sehr
    wohl gewnßt haben, infolge von lange fortgesetzter Mastur-
    bation erkrankt. In der Anstalt haben Sie die Art der Be-
    friedigung aufgegeben und sich darum rasch erholt. Als Sie
    sich aber Wohl fühlten, haben Sie unklugerweise Beziehungen
    zu einer Dame, nehmen wir an, einer Mitpatientin, gesucht,
    die nur zur Aufi'egung ohne normale Befriedigung führen
    konnten. Die schönen Spaziergänge in der Nähe der Anstalt
    gaben Ihnen gute Gelegenheit dazu. An diesem Verhältnisse
    sind Sie von neuem erkrankt, nicht an einer plötzlich auf-
    getretenen Intoleranz gegen die Hydrotherapie. Aus Ihrem
    gegenwärtigen Befinden schließe ich übrigens, daß Sie das—
    selbe Verhältnis auch in der Stadt fortsetzen.“ Ich kann ver«
    sichern, daß der Kranke mich dann Punkt für Punkt be«
    stätigt hat.

    Die gegenwärtige Therapie der Neurasthenie, wie sie
    Wohl am günstigsten in den Wasserheilanstalten geübt wird,
    setzt sich das Ziel, die Besserung des nervöseu Zustandes

  • S.

    193

    durch zwei Momente: Schonung und Stärkung des Patienten
    zu erreichen. Ich Wüßte nichts anderes gegen diese Therapie
    vorzubringen, als daß sie den sexuellen Bedingungen des
    Falles keine Rechnung trägt. Nach meiner Erfahrung ist es
    höchst wünschenswert, daß die ärztlichen Leiter solcher
    Anstalten sich genügend klar machen, daß sie es nicht mit
    Opfern der Zivilisation oder der Heredität, sondern —« sit
    venia verbo —— mit Sexualitätskrüppeln zu tun haben. Sie
    würden sich dann einerseits ihre Erfolge wie ihre Mißerfol.ge
    leichter erklären, andererseits aber neue Erfolge erzielen, die
    bis jetzt dem Zufalle oder dem unbeeinfiußten Verhalten des
    Kranken anheimgegeben sind. Wenn man eine lingstlich—
    neurasthenische Frau von ihrem Hause weg in die Wasser-
    heilaustalt schickt, sie dort, aller Pflichten ledig, baden,
    turnen und sich reichlich ernähren läßt, so wird man gewiß
    geneigt sein, die oft glänzende Besserung, die so in einigen
    Wochen oder Monaten erreicht wird, auf Rechnung der Ruhe,
    Welche die Kranke genossen hat, und der Stärkung, die ihr
    die Hydrotherapie gebracht hat, zu setzen. Das mag so sein;
    man übersieht aber dabei, daß mit der Entfernung vom Hause
    für die Patientin auch eine Unterbrechung des ehelichen
    Verkehres gegeben ist, und daß erst diese zeitweilige Aus—
    schaltung der krankmachenden Ursache ihr die Möglichkeit
    gibt, sich bei zweckmäßiger Therapie zu erholen. Die Ver-
    nachlässigung dieses ätiologischen Gesichtspunktes rächt sich
    nachträglich, indem der scheinbar so befriedigende Heilerfolg
    sich als sehr flüchtig erweist, Kurze Zeit, nachdem der Patient
    in seine Lebensverhältnisse zurückgekehrt ist, stellen sich
    die Symptome des Leidens wieder ein und nötigen ihn, ent-
    weder immer von Zeit zu Zeit einen Teil seiner Existenz
    unproduktiv in solchen Anstalten zu verbringen, oder ver-
    anlassen ihn, seine Hofnungen auf Heilung anderswohin zu
    richten. Es ist also klar, daß die therapeutischen Aufgaben
    bei der Neurasthenie nicht in den Wasserheilanstalten, sondern
    innerhalb der Lebensverhältnisse der Kranken in Angriff zu
    nehmen sind.

    Bei anderen Fällen kann unsere ätiologische Lehre dem
    Anstaltsarzte Aufklärung über die Quelle von Mißerfolgen

    Fre 11 a, Nuunscnlehre. 13

  • S.

    194

    geben, die sich noch in der Anstalt selbst ereignen, und ihm
    nahe legen, wie solche zu vermeiden sind. Die Masturbation
    ist bei erwachsenen Mädchen und reifen Männern weit häu-
    figer, als man anzunehmen pflegt, und wirkt als Schädlichkeit
    nicht nur durch die Erzeugung der neurasthenisehen Symptome,
    sondern auch, indem sie die Kranken unter dem Drucke eines
    als schändlich empfundenen Geheimnisses erhält. Der Arzt, der
    nicht gewohnt ist, Neurasthenie in Masturbation zu übersetzen,
    gibt sich für den Krankheitszustand Rechenschaft, indem er
    sich auf ein Schlagwort, wie Anämie‚ Unterernährung, Über-
    arbeitung etc. bezieht, und erwartet nun bei Anwendung der
    dagegen ausgearbeiteten Therapie die Heilung seines Kranken.
    Zu seinem Erstaunen wechseln aber beim Kranken Zeiten von
    Besserung mit anderen ab, in denen unter schwerer Ver»
    stimmung alle Symptome sich versehlimlnern. Der Ausgang
    einer solchen Behandlung ist im allgemeinen zweifelhaft.
    \Vüßte der Arzt, daß der Kranke die ganze Zeit über mit
    seiner sexuellen Angewöhnung kämpft, daß er in Verzweif-
    lung verfallen ist, Weil er ihr wieder einmal unterliegen
    mußte, verstüude er‚ dem Kranken sein Geheimnis abzu-
    nehmen, dessen Schwere in seinen Augen zu entwerten, und
    ihn bei seinem Abgewöhnungskampf'e zu unterstützen, so
    würde der Erfolg der therapeutischen Bemühung hieclurch
    wohl gesichert.

    Die Abgewöhnung der Masturbation ist nur eine der
    neuen therapeutischen Aufgaben, welche dem Arzte aus der
    Berücksichtigung der sexuellen Ätiologie erwachsen, und diese
    Aufgabe gerade scheint wie jede andere Abgewöhnung nur
    in einer Krankenanstalt und unter beständiger Aufsicht des
    Arztes lösbar. Sich selbst überlassen, pflegt der Masturbant
    bei jeder verstimmenden Einwirkung auf die ihm bequeme
    Befriedigung zurückzugreifen. Die ärztliche Behandlung kann
    sich hier kein anderes Ziel stecken7 als den Wieder gekr' '-
    tigten Neurastheniker dem normalen Geschlechtsverkehre zu-
    zuführen, denn das einmal geweckte und durch eine geraume
    Zeit befriedigte Sexualbedürfnis läßt sich nicht mehr zum
    Schweigen bringen, sondern bloß auf ein anderes Objekt ver-
    schieben. Eine ganz analoge Bemerkung gilt übrigens auch

  • S.

    195

    für alle anderen Abstinenzkuren, die so lange nur scheinbar
    gelingen werden, so lange sich der Arzt; damit begnügt‚ dem
    Kranken das narkotische Mittel zu entziehen, ohne sich um
    die Quelle zu kümmern, aus welcher das imperstive Bedürfnis
    nach einem solchen entspringt. „Gewöhnung“ ist eine bloße
    Redensart, ohne aufklärendenWert; nicht jedermann, der eine
    Zeitlang Morphin, Kokain, Chloralhydrat u. dgl. zu nehmen
    Gelegenheit hat, erwirbt hiedurch die „Sucht“ nach diesen
    Dingen. Genauere Untersuchung weist in der Regel nach,
    daß diese Narcotica zum Ersatze —-— direkt oder auf Um-
    wegen —— des mangelnden Sexualgenusses bestimmt sind, und
    Wo sich normales Sexuelleben nicht mehr herstellen läßt, da
    darf man den Rückfall des Entwöhnten mit Sicherheit erwarten.

    Die andere Aufgabe wird dem Arzte durch die Ätiologie
    der Angstneurose gestellt und besteht darin, den Kranken
    zum Verlassen aller schädlichen Arten des Sexualverkehres
    und zur Aufnahme normaler sexueller Beziehungen zu ver-
    anlassen. Wie begreiflich, fällt diese Pflicht vor allem dem
    ärztlichen Vertreuensman.ue des Kranken, dem Hausarzte,
    zu, der seine Klienten schwer schädigt, wenn er sich zu
    vornehm hält, um in diese Sphäre einzugreifen.

    Da es sich hiebei zumeist um Ehepaare handelt, stößt
    das Bemühen des Arztes alsbald mit den malthusia.nischen
    Tendenzen, die Anzahl der Konzeptionen in der Ehe einzu—
    schränken, zusammen. Es scheint mir unzweifelhaft, daß
    diese Vorsä.tze in unserem Mittelstande immer mehr an Aus-
    breitung gewinnen; ich hin Ehepaaren begegnet, die schon
    nach dem ersten Kinde die Verhütung der Konzeption durch—
    zuführen begannen, und anderen, deren sexueller Verkehr
    von der Hochzeitsnncht an diesem Vorsatze Rechnung tragen
    wollte. Das Problem des Malthusianismus ist weitläufig und
    kompliziert; ich habe nicht die Absicht, es hier erschöpfend
    zu behandeln, wie es fiir die Therapie der Neurosen eigent-
    lich erforderlich wäre. Ich gedenke nur zu erörtern, welche
    Stellung der Arzt, der die sexuelle Ätiologie der Neurosen
    anerkennt, zu diesem Problem am besten einnehmen kann.

    Das Verkehrteste ist es offenbar, wenn er desselhe —
    unter Welchen Vorwänden immer —— ignorieren Will. Was

    l3*

  • S.

    196

    notwendig ist, kann nicht unter meiner ärztlichen Würde
    sein, und es ist notwendig, einem Ehepaare, das an die Ein-
    schränkung der Kinderzeugung denkt, mit ärztlichem Rate
    beizustehen, wenn man nicht einen Teil oder Beide der
    Neurose aussetzen Will. Es läßt sich nicht bestreiten, daß
    malthusianischeVorkehrungen irgend einmal in einer Ehe zur
    Notwendigkeit werden, und theoretisch Wäre es einer der
    größten Triumphe der Menschheit, eine der fühlbs.rsten Be—
    freiungen vom Naturzwenge, dem unser Geschlecht unter-
    worfen ist, wenn es gelänge, den verantwortlichen Akt der
    Kindererzeugung zu einer willkürlichen und beabsichtigten
    Handlung zu erheben, und ihn von der Verqu.ickung mit der
    notwendigen Befriedigung eines natürlichen Bedürfnisses los-
    zulösen.

    Der einsichtsvolle Arzt wird es also auf sich nehmen,
    zu entscheiden, unter welchen Verhältnissen die Anwendung
    von Meßregeln zur Verhütung der Konzeption gerecht«
    fertigt ist, und wird die schädlichen unter diesen Hilfsmitteln
    von den harmlosen zu sondern haben. Schädlich ist alles,
    was das Zustandekommen der Befriedigung hindert; bekannt-
    lich besitzen wir aber derzeit kein Schutzmittel gegen die
    Konzeption, welches allen berechtigten Anforderungen genügen
    würde, d. 11. sicher, bequem ist, der Lustempfindung beim
    Koitus nicht Eintrag tut und des Feingefühl der Freu nicht
    verletzt. Hier ist den Ärzten eine praktische Aufgabe gestellt,
    an deren Lösung sie ihre Kräfte dankbringend setzen können.
    Wer jene Lücke in unserer ärztlichen Technik ausfällt, der
    hat Unzähligen den Lebensgenuß erhalten und die Gesund-
    heit bewahrt, freilich dabei auch eine tief einschneidende Ver-
    änderung in unseren gesellschaftlichen Zuständen angebahnt.
    ' Hieinit sind die Anregungen nicht erschöpft, die aus der
    Erkenntnis einer sexuellen Ätiologie der Neurosen fließen.
    Die Hauptleistuug, die uns zugunsten der Neurastheniker
    möglich ist, fällt in die Prophylaxis. Wenn die Masturbation
    die Ursache der Nemesthenie in der Jugend ist und späterhin
    durch die von ihr geschafl'ene Verminderung der Potenz auch
    zur ätiologischen Bedeutung für die Angstneurose gelangt,
    so ist die Verhütung der Masturbation bei beiden Geschlechtern

  • S.

    197

    eine Aufgabe, die mehr Beachtung verdient, als sie bis jetzt
    gefunden hat. Ü'berdenkt man alle die feineren und gröberen
    Schädigungen, die von der angeblich immer mehr um sich
    greifenden Nemasthenie ausgehen, so erkennt man geradezu ein
    Volksinteresse darin, daß die Männer mit voller Potenz
    in den Sexualverkehr eintreten. In Sachen der Prov-
    phyla.xis aber ist der einzelne ziemlich ohnmächtig. Die Ge-
    samtheit muß ein Interesse an dem Gegenstände gewinnen
    und ihre Zustimmung zur Schöpfung von gomeingiltigen Ein—
    richtungen geben. Vorläufig sind wir von einem solchen Zu-
    stande, der Abhilfe versprechen würde, noch weit entfernt,
    und darum kann man mit Recht auch unsere— Zivi]isetion für
    die Verbreitung der Neurasthenie verantwortlich machen. Es
    müßte sich vieles ändern. Der Widerstand einer Generation
    von Ärzten muß gebrochen werden, die sich nicht mehr an ihre
    eigene Jugend erinnern können; der Hoohnmt der Väter ist zu
    überwinden, die vor ihren Kindern nicht gerne auf das Niveau
    der Menschlichkeit herabsteigen Wollen, die unverständige
    Verschämtheit der Mütter zu bekämpfen, denen es jetzt
    regelmäßig als unerforschliche, aber unverdiente Schicksale
    fügung erscheint, daß „gerade ihre Kinder nervös geworden
    sind“. Vor allem aber muß in der öfi'entlichen Meinung Raum
    geschaffen werden fiir die Diskussion der Probleme des Sexual-
    lebens; man muß von diesen reden können, ohne für einen
    Ruhestörer oder für einen Spekulanten auf niedrige Instin.kte
    erklärt zu werden. Und somit verbliebe auch hier genügend
    Arbeit für ein nächstes Jahrhundert, in dem unsere Zivili-
    sation es verstehen soll, sich mit den Ansprüchen unserer
    Sexualität zu vertragen!

    Der Wert einer richtigen diagnostischen Scheidung der
    Psychoneurosen von der Neurasthenie hezeigt sich auch darin,
    daß die ersteren eine andere praktische Würdigumg und be-
    sondere therapeutische Maßnahmen erfordern. Die Psycho-
    neurosen treten unter zweierlei Bedingungen auf, entweder
    selbständig oder im Gefolge der Aktuslneurusen (Neuresthenie
    und Angstneurose). Im letzteren Falle hat man es mit einem
    neuen, übrigens sehr häufigen Typus von gemischten Neurosen
    zu tun. Die Ätiologie der Aktuelneurose ist zur Hilfsätiologie

  • S.

    198

    der Psychoneurose geworden; es ergibt sich ein Krankheitsbild,
    in dem etwa die Angstneurose vorhen'scht, das aber sonst
    Züge der echten Neurasthenie, der Hysterie und der Zwangs-
    neu.rose enthält, Man tut nicht gut, angesichts einer solchen
    Vermengung etwa auf eine Sonderuug der einzelnen neuro-
    tischen Krankheitsbilder zu verzichten, da es doch nicht
    schwer ist, sich den Fall in folgender ‘Veise zurechtzulegen:
    Wie die vorwiegende Ausbildung der Angstneurose beweist,
    ist hier die Erkrankung unter dem ätiologischen Einflusse
    einer aktuellen sexuellen Schädliehkeit entstanden. Das be—
    treffende Individuum war aber außerdem zu einer oder
    mehreren Psychoneurosen durch eine besondere Ätiologie
    disponiert und Wäre irgend einmal spontan oder bei Hinzu—
    tritt eines anderen schwäcbenden Momentes an Psychoneu.rose
    erkrankt. Nun ist die noch fehlende Hilfsätiologie für die
    Psychoneurose durch die aktuelle Ätiologie der Angstneurose
    hinzugefügt werden

    Für solche Fälle hat sich mit Recht die therapeutische
    Übung eingebürgert, von der psychoneurotischen Komponente
    im Krankheitsbilde abzusehen und ausscbießlieh die Aktual-
    neu.rose zu behandeln. Es gelingt in sehr vielen Fällen, auch
    der mitgerissenen Neurose Herr zu werden, wenn man der
    Neurasthenie zweckmäßig entgegentritt. Eine andere Be«
    urteilung erfordern aber jene Fälle von Psychoneurose, die,
    sei es spontan auftreten, oder nach dem Ablaufe einer aus
    Neurasthenie und Psyclioneurose gemengten Erkrankung als
    selbständig übrig bleiben. Wenn ich von ,.spontanem“ Auf-
    treten einer Psyehoneurose gesprochen habe, so meine ich
    damit nicht etwa, daß man bei anamnestischer Naohforscliung
    jedes ätiologischa Moment vermißt. Dies kann wohl der Fall
    sein, man kann aber auch auf ein indifl'erentes Moment, eine
    Gemütsbewegung, Schwächung durch Somatische Erkrankung
    u. dgl. hingewiesen werden. Doch muß man für alle diese
    Fälle festhalten, daß die eigentliche Ätiologie der Psycho-
    neuxosen nicht in diesen Veranlassungen liegt, sondern der
    gewöhnlichen Weise anamnestischer Erhebung unfaßbar bleibt.

    Wie bekannt, ist es diese Lücke, welche man versucht
    hat, durch die Annahme einer besonderen nouropathisehen

  • S.

    199

    Disposition auszufüllen, deren Existenz einer Therapie solcher
    Krankheitszustinde freilich nicht viel Aussicht auf Erfolg
    übrig ließe, Die'neuropathische Disposition selbst wird als
    Zeichen einer allgemeinen Degeneration aufgefaßt, und somit
    gelangt dieses bequeme Kunstwort zu einer überreichlichen
    Yerwendung gegen die armen Kranken, denen zu helfen die
    Ärzte recht ohnmächtig sind Zum Glück steht es anders.
    Die neuropathische Disposition existiert wohl, aber ich muß
    bestreiten, daß sie zur Erzeugung der Psychoneurose hin-
    reicht, Ich muß ferner bestreiten, daß das Zusammentreffen
    von neuropathischer Disposition und veranlassenden Ursachen
    des späteren Lebens eine ausreichende Ätiologie der Psyche-
    neurosen darstellt. Man ist in der Zurückfü.hrung der Krank—
    heitsschicksale des Einzelnen auf die Erlebnisse seiner Ahnen
    zu weit gegangen und hat daran vergessen, daß zwischen der
    Empfängnis und der Reife des Individuums ein langer und
    bedeutsamer Lebensabschnitt liegt, die Kindheit, in Welcher
    die Keime zu späterer Erkrankung erworben werden können.
    So ist es tatsächlich bei der Psychoneurose. Era wirkliche
    Ätiologie ist zu finden in Erlebnissen der Kindheit, und zwar
    wiederum ‚ und ausscldießlich —— in Eindrücken, die das
    sexuelle Leben betreffen. Man tut Unrecht daran, das Sexual—
    leben der Kinder völlig zu vernachlässigen; sie sind, so viel
    ich erfahren habe, aller psychischen und vieler somatischen
    Sexualleistnngen fähig. So wenig die äußeren Genitalien und
    die beiden Keimdriisen den ganzen Gesehlechtsapparat des
    Menschen darstellen, ebensowenig beginnt sein Geschlechts-
    leben erst mit der Pubertät, wie es der groben Beobachtung
    erscheinen mag. Es ist aber richtig, daß die Organisation
    und Entwicklung der Spezies Mensch eine ausgiebigere
    sexuelle Betätigung im Kindesalter zu vermeiden strebt; es
    scheint, daß die sexuellen Triebkräfte beim Menschen aufge-
    speichert werden sollen, um dann bei ihrer Entfesselung zur
    Zeit der Pubertät großen kulturellen Zwecken zu dienen.
    (Wilh. Fließ.) Aus einem derartigen Zusammenhange läßt
    sich etwa verstehen, warum sexuelle Erlebnisse des Kindes-
    alters pathogeu Wirken müssen. Sie entfalten ihre Wirkung
    aber nur zum geringsten Maße zur Zeit, da sie verfallen;

  • S.

    200

    weit bedeutsamer ist ihre nachträgliche Wirkung, die
    erst in späteren Perioden der Reifung eintreten kann. Diese
    nachträgliche Wirkung geht, wie nicht anders möglich, von
    den psychischen Spuren aus, Welche die infantilen Sexual-
    erlebnisse zuriickgelassen haben. In dem Intervall zwischen
    dem Erleben dieser Eindrücke und deren Reproduktion (viel-
    mehr dem Ersterken der von ihnen ausgehenden libidinösen
    Impulse) hat nicht nur der eometische Sexualapperat, sondern
    auch der psychische Apparat eine bedeutsame Ausgestaltung
    erfahren, und darum erfolgt auf die Einwirkung jener frühen
    sexuellen Erlebnisse nun eine ebnorrne psychische Reaktion,
    es entstehen psychopathologische Bildungen.

    In diesen Anleitungen konnte ich nur die Hauptmomente
    einführen, auf welche sich die Theorie der Psychoneurosen
    stützt: die Nachträglichkeit, den infantilen Zustand des Ge-
    schlechtsapperates und des Seeleninstrumentes. Um ein Wirk-
    liches Verständnis des Entstehungemechanisrnus der Psycho—
    neurosen zu erzielen, brauchte es breiterer Ausführungen;
    vor allem Wäre es unveimeidlich,gewisse Annahmen über (lie
    Zusammensetzung und die Arbeitsweise des psychischen
    Apperetes, die mir neu scheinen, als glaubwürdig hinzustellen.
    In einem Buche über „Treurndeutung“, das ich gegenwärtig
    vorbereite, werde ich die Gelegenheit finden, jene Fundamente
    einer Neurosenpsychologie zu berühren, Der Traum gehört
    nämlich in dieselbe Reihe psychcpathologischer Bildungen,
    Wie die hysterische fixe Idee, die Zwangsvorstellung und die
    Wahnidee.

    Da die Erscheinungen der Psychoneurosen vermittelst
    der Nachträglichkeit von unbewußteu psychischen Spuren aus
    entstehen, werden sie der Psychotherapie zugänglich, die
    allerdings hier andere Wege einschlagen muß als den bis
    jetzt einzig begangenen der Suggestion mit oder ohne Hypnose
    Auf der von I Breuer angegebenen „kathertischen“ Me-
    thode fußend, habe ich in den letzten Jahren ein therapeutisches
    Verfahren nahezu ausgearbeitet, welches ich das „psychosne—
    lytische“ heißen Will, und dem ich zahlreiche Erfolge verdanke,
    Während ich hoffen darf, seine Wirksamkeit noch erheblich
    zu steigern. In den 1895 veröffentlichten Studien üb er

  • S.

    201

    Hysterie (mit J. Breuer) sind die ersten Mitteilungen
    über Technik und Tragweite der Methode gegeben werden.
    Seither hat sich Manches, wie ich behaupten darf, zum
    Besseren daran geändert, Während wir damals bescheiden
    aussagten, daß wir nur die Beseitigung von hysterischen
    Symptomen, nicht die Heilung der Hysterie selbst in Angriff
    nehmen könnten, hat sich mir seither diese Unterscheidung
    als inhaltslos herausgestellt, also die Aussicht auf wirkliche
    Heilung der Hysterie und Zwangsvorstellungen ergeben. Es
    hat mich darum recht lebhaft interessiert, in den Publikationen
    von Fachgenossen zu lesen: In diesem Falle habe das sinn-
    reiche, von BreuerundFreud ersonnene Verfahren versagt,
    oder: Die Methode habe nicht gehalten, Was sie zu Ver-
    sprechen schien. Ich hatte dabei etwa die Empfindungen eines
    Menschen, der in der Zeitung seine Todesanzeige findet, sich
    aber dabei in seinem Besser-wissen beruhigt fühlen darf. Das
    Verfahren ist nämlich so schwierig, daß es durchaus erlernt
    werden muß, und ich kann mich nicht beginnen, daß es einer
    meiner Kritiker von mir hätte erlernen wollen, glaube auch
    nicht, daß sie sich, ähnlich wie ich, genug intensiv damit
    beschäftigt haben, um es selbständig auffinden zu können.
    Die Bemerkungen in den Studien über Hysterie sind Voll—
    kommen unzureichend, um einem Leser die Beherrschung
    dieser Technik zu ermöglichen, streben solche vollständige
    Unterweisung auch keineswegs an.

    Die psychoanalytische Therapie ist derzeit nicht all-
    gemein anwendbar; ich kenne für sie folgende Einschrän«
    kungen: Sie erfordert ein gewisses Maß von Reife und Ein-
    sicht beim Kranken, taugt daher nicht für ländliche Personen
    oder für erwachsene Schwachsinnige und Ungebildete. Sie
    scheitert bei allzu betegten Personen daran, daß sie bei ihnen,
    dem angehäuften Materiale entsprechend, allzuviel Zeit in
    Anspruch nehmen Würde, so daß man bis zur Beendigung der
    Kur in einen Lebensabschnitt geraten wurde, für welchen
    auf nervöse Gesundheit nicht mehr Wert gelegt wird. End-
    lich ist sie nur dann möglich, wenn der Kranke einen psychi-
    schen Normalzustand hat, von dem aus sich das pathologische
    Material bewältigen läßt. Während einer hysterischsn Ver-

  • S.

    202

    worrenheit, einer eingeschalteten Manie oder Melancholie ist
    mit den Mitteln der Psychoanalyse nichts zu leisten. Man
    kann solche Fälle dem Verfahren noch unterziehen, nachdem
    man mit den gewöhnlichen Maßregeln die Beruhigung der
    stürmischen Erscheinungen herbeigeführt hat. In der Praxis
    werden überhaupt die chronischen Fälle von Psychoneurosen
    besser der Methode Stand halten, als die Fälle mit akuten
    Krisen, bei denen das Hauptgewicht naturgemäß auf die
    Raschheit der Erledigung fällt. Daher geben auch die hyste-
    rischen Phobien und die verschiedenen Formen der Zwangs-
    neu.rose das günstigste Arbeitsgebiet fiir diese neue Therapie.

    Daß die Methode in diese Schranken gebannt ist, erklärt
    sich zum guten Teile aus den Verhältnissen, unter denen ich
    sie ausarbeiten mußte. Mein Material sind eben chronisch
    Nervöse der gebildeteren Stände. Ich halte es für sehr wohl
    möglich, daß sich ergänzende Verfahren für kindliche Personen
    und für das Publikum, welches in den Spitälem Hilfe sucht,
    ausbilden lassen. Ich muß auch anführen, daß ich meine
    Therapie bisher ausschließlich an schweren Fällen von Hysterie
    und Zwangsnenrose erprobt habe; wie es sich bei jenen
    leichten Erkrankungsfälleu gestalten Würde, die man bei
    einer indifi‘erenten Behandlung von wenigen Monaten in
    Wenigstens scheinbare Genesung ausgehen sieht, Weiß ich
    nicht anzugeben. Wie begreiflich, durfte eine neue Therapie,
    die vielfache Opfer erfordert, nur auf solche Kranke rechnen,
    die bereits die anerkannten Heilmethoden ohne Erfolg ver-
    sucht hatten, oder deren Zustände den Schluß berechtigten,
    sie hätten von diesen angeblich bequemeren und kürzeren
    Heilverfahren nichts zu erwarten. So mußte ich mit einem
    unvollkmnmenen Instrumente sogleich die schwersten Auf-
    gaben in Angriff nehmen; die Probeth um so beweiskräftiger
    ausgefallen.

    Die Wesentlichen Schwierigkeiten, die sich jetzt noch
    der psychoanalytischcn Heilmethode entgegcnsetzen, liegen
    nicht an ihr selbst, sondern in dem Mangel an Verständnis
    für das Wesen der Psychonevn‘csen bei Ärzten und Laien.
    Es ist nur das notwendige Korrelat zu dieser vollen
    Unw ssenheit, wenn sich die Ärzte für berechtigt halten,

  • S.

    203

    den Kranken durch die unzutrefl'endsten Versicherungen zu
    trösten oder zu therapeutischen Maßnahmen zu veranlassen,
    „Kommen Sie für sechs Wochen in meine Anstalt und Sie
    werden Ihre Symptome (Reiseangst, Zwangsvorstellungen etc.)
    verloren haben,“ Tatsächlich ist die Anstalt unentbehrlich
    für die Beruhigung akuter Zufälle iinVerleufe einer Psycho—
    neu.rose durch Ablenkung, Pflege und Schonung; zur Be—
    seitigung chronischer Zustände leistet sie — nichts, und zwar
    die vornehmen, angeblich wissenschaftlich geleiteten Sanatoxien
    ebensowenig wie die gemeinen Wasserheilanstalten.

    Es wäre würdiger und dem Kranken, der sich doch
    schließlich mit seinen Beschwerden abfinden muß, zuträg—
    licher, wenn der Arzt die Wahrheit sprechen Würde, wie er
    sie alle Tage kennen lernt: Die Psychoneurosen sind als
    Genus keineswegs leichte Erkrankungen. Wenn eine Hysterie
    anfängt, kann niemand vorher wissen, Wann sie ein Ende
    nehmen wird. Man tröstet sich meist vergeblich init der Pro-
    phezeiung: Eines Tages wird sie plötzlich vorüber sein. Die
    Heilung erweist sich häufig genug als ein bloßes Übereinkommen
    zur gegenseitigen Duldung zwischen dem Gesunden und dem
    Kranken im Patienten oder erfolgt auf dem Wege der Um—
    wandlung eines Symptomes in eine Phobie. Die mühsam be—
    schwichtigte Hysterie des Mädchens lebt nach kurzer Unter-
    brechung durch das junge Eheglück in der Hysterie der Ehe—
    frau wieder auf, nur daß jetzt eine andere Person als früher,
    der Ehemann, durch sein Interesse veranlaßt wird, über den
    Erkrankungsfall zu schweigen. Wo es nicht zu manifester
    Existenszä.higkeit infolge von Krankheit kommt, da fehlt
    doch fast nie die Einbufie an aller freien Entfaltung der
    Seelenkräfte. Zwangsvorstellungen kehren das ganze Leben
    hindurch wieder; Phobien und andere Willenseinsehränkungen
    sind für jede Therapie bisher unbeeinflußbar gewesen. Das
    alles wird dem Laien vorenthalten, und darum ist der Vater
    einer hysterischen Tochter entsetzt, wenn er z B. einer
    einjährigen Behandlung seines Kindes zustimmen soll, Wo
    doch die Krankheit etwa erst einige Monate gedauert hat.
    Der Laie ist sozusagen von der Überfiüssigkeit all dieser
    Psychoneurosen tief innerlich überzeugt, er bringt darum dem

  • S.

    ‚„
    :

    204

    Krankheitsverlaufe keine Geduld und der Therapie keine
    Opferbereitsehaft entgegen. Wenn er sich angesichts eines
    Typhus, der drei Wochen anhält, eines Beinbruches‚ der zur
    Heilung sechs Monate beansprucht, verständiger benimmt,
    wenn ihm die Fortsetzung orthopädischer Maßnahmen durch
    mehrere Jahre einsichtlicb erscheint, sobald sich die ersten
    Spuren einer Rückgratsverkrümmung bei seinem Kinde zeigen,
    so rührt dieser Unterschied von dem besseren Verständnisse
    der Ärzte her, die ihr Wissen in ehrlicher Mitteilung dem
    Laien übertragen. Die Aufiichtigkeit der Ärzte und die Ge-
    fügigkeit der Laien wird sich auch fiir die Psychoneurosen
    herstellen, wenn erst die Einsicht in das Wesen dieser Afi'ek—
    tionen ärztliches Gemeingut geworden ist. Die psychothera—
    peutische Radikalbehandlung derselben wird wohl immer eine
    besondere Schulung erfordern und rnit der Ausübung anderer
    ärztlicher Tätigkeit unverträglich sein, Dafür winkt dieser,
    in der Zukunft wohl zahlreichen Klasse von Ärzten Ge»
    legenheit zu rühml.ichen Leistungen und eine befriedigende
    Einsicht in des Seelenleben der Menschen.

    &
    l
    n