Ein religiöses Erlebnis 1928-001/1928
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    Ein religiöses Erlebnis
    Von
    Sigm. Freud

    Im Herbst 1927 veröffentlichte ein deutschamerikanischer Journalist,
    den ich gern bei mir gesehen hatte (G. S. Viereck), eine Unterhaltung
    mit mir, in der auch mein Mangel an religiöser Gläubigkeit und meine Gleich-
    gültigkeit gegen eine Fortdauer nach dem Tode berichtet wurde. Dies so-
    genannte Interview wurde viel gelesen und brachte mir unter anderem
    nachstehende Zuschrift eines amerikanischen Arztes ein:

    „... Am meisten Eindruck machte mir Ihre Antwort auf die Frage, ob
    Sie an eine Fortdauer der Persönlichkeit nach dem Tode glauben. Sie sollen
    geantwortet haben: Darauf mach’ ich mir gar nichts.

    Ich schreibe Ihnen heute, um Ihnen ein Erlebnis mitzuteilen, das ich in
    dem Jahr hatte, als ich meine medizinischen Studien an der Universität in X.
    vollendete. Eines Nachmittags hielt ich mich auch gerade im Seziersaal auf, als die
    Leiche einer alten Frau hereingetragen und auf einen Seziertisch gelegt wurde.
    Diese Frau hatte ein so liebes, entzückendes Gesicht (**this sweet faced woman**),
    daß es mir einen großen Eindruck machte. Der Gedanke blitzte in mir auf:
    Nein, es gibt keinen Gott; wenn es einen Gott gäbe, würde er nie gestattet
    haben, daß eine so liebe alte Frau (**this dear old woman**) in den Seziersaal
    kommt.

    Als ich an diesem Nachmittage nach Hause kam, hatte ich unter dem
    Eindruck des Anblicks im Seziersaal bei mir beschlossen, nicht wieder in
    eine Kirche zu gehen. Die Lehren des Christentums waren mir auch vorher
    schon ein Gegenstand des Zweifels gewesen.

    Aber während ich noch darüber nachsann, sprach eine Stimme in meiner
    Seele, ich sollte mir doch meinen Entschluß noch reiflich überlegen. Mein
    Geist antwortete dieser inneren Stimme: Wenn ich die Gewißheit bekomme,
    daß die christliche Lehre wahr und die Bibel das Wort Gottes ist, dann werde
    ich es annehmen.

    Im Verlauf der nächsten Tage machte Gott es meiner Seele klar, daß die
    Bibel Gottes Wort ist, daß alles, was über Jesus Christus gelehrt wird, wahr

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    ist und daß Jesus unsere einzige Hoffnung ist. Nach dieser so klaren Offen-
    barung nahm ich die Bibel als das Wort Gottes und Jesus Christus als den
    Erlöser meiner selbst an. Seither hat Gott sich mir noch durch viele un-
    trügliche Zeichen geoffenbart.

    Als ein wohlwollender Kollege (**brother physician**) bitte ich Sie, Ihre Ge-
    danken auf diesen wichtigen Gegenstand zu richten und versichere Ihnen,
    wenn Sie sich offenen Sinnes damit beschäftigen, wird Gott auch Ihrer Seele
    die Wahrheit offenbaren, wie mir und so vielen anderen ...“

    Ich antwortete höflich, daß ich mich freue zu hören, es sei ihm
    durch ein solches Erlebnis möglich geworden, seinen Glauben zu bewahren.
    Für mich habe Gott nicht so viel getan, er habe mich nie eine solche innere
    Stimme hören lassen und wenn er sich — mit Rücksicht auf mein
    Alter — nicht sehr beeile, werde es nicht meine Schuld sein, wenn ich
    bis zum Ende bleibe, was ich jetzt sei — an infidel jew.

    Die liebenswürdige Entgegnung des Kollegen enthielt die Versicherung,
    daß das Judentum kein Hindernis auf dem Wege zur Rechtgläubigkeit
    sei und erwies dies an mehreren Beispielen. Sie gipfelte in der Mitteilung,
    daß eifrig für mich zu Gott gebetet werde, er möge mir faith to believe,
    den rechten Glauben, schenken.

    Der Erfolg dieser Fürbitte steht noch aus. Unterdes gibt das religiöse
    Erlebnis des Kollegen zu denken. Ich möchte sagen, es fordert den Versuch
    einer Deutung aus affektiven Motiven heraus, denn es ist an sich befremdend
    und besonders schlecht logisch begründet. Wie bekannt, läßt Gott noch
    ganz andere Greuel geschehen, als daß die Leiche einer alten Frau mit
    sympathischen Gesichtszügen auf den Seziertisch gelegt wird. Dies war zu
    allen Zeiten so und kann zur Zeit, als der amerikanische Kollege seine
    Studien absolvierte, nicht anders gewesen sein. Als angehender Arzt kann er
    auch nicht so weltfremd gewesen sein, von all dem Unheil nichts zu
    wissen. Warum mußte also seine Empörung gegen Gott gerade bei jenem
    Eindruck im Seziersaal losbrechen?

    Die Erklärung liegt für den, der gewohnt ist, die inneren Erlebnisse
    und Handlungen der Menschen analytisch zu betrachten, sehr nahe, so
    nahe, daß sie sich in meiner Erinnerung direkt in den Sachverhalt ein-
    schlich. Als ich einmal in einer Diskussion den Brief des frommen Kollegen
    erwähnte, erzählte ich, er habe geschrieben, daß ihn das Gesicht der Frauen-
    leiche an seine eigene Mutter erinnert habe. Nun, das stand nicht in dem
    Brief, — die nächste Erwägung sagt auch, das kann unmöglich darin
    gestanden sein, — aber das ist die Erklärung, die sich unter dem Eindruck
    der zärtlichen Worte, mit denen die alte Frau bedacht wird (**sweet faced

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    Ein religiöses Erlebnis

    dear old woman) unabweisbar aufdrängt. Durch die Erinnerung an
    die Mutter geweckten Affekt darf man dann für die Urteilsschwäche des
    jungen Arztes verantwortlich machen. Kann man sich von der Unart der
    Psychoanalyse nicht frei machen, Kleinigkeiten als Beweismaterial heranzu-
    ziehen, die auch eine andere, weniger tiefgreifende Erklärung zulassen, so
    wird man auch daran denken, daß der Kollege mich später als **brother
    physician** anspricht, was ich in der Übersetzung nur unvollkommen wieder-
    geben konnte.

    Man darf sich also den Hergang in folgender Art vorstellen: Der An-
    blick des nackten (oder zur Entblößung bestimmten) Leibes einer Frau,
    die den Jüngling an seine Mutter erinnert, weckt in ihm die aus dem
    Ödipuskomplex stammende Mutters sehnsucht, die sich auch sofort durch die
    Empörung gegen den Vater vervollständigt. Vater und Gott sind bei ihm
    noch nicht weit auseinandergerückt, der Wille zur Vernichtung des Vaters
    kann als Zweifel an der Existenz Gottes bewußt werden und sich als Ent-
    rüstung über die Mißhandlung des Mutterobjekts vor der Vernunft legiti-
    mieren wollen. Dem Kind gilt doch in typischer Weise als Mißhandlung,
    was der Vater im Sexualverkehr der Mutter antut. Die neue, auf das reli-
    giöse Gebiet verschobene Regung ist nur eine Wiederholung der Ödipus-
    situation und erfährt darum nach kurzer Zeit dasselbe Schicksal. Sie erliegt
    einer mächtigen Gegenströmung. Während des Konflikts wird das Ver-
    schiebungsniveau nicht eingehalten, von Argumenten zur Rechtfertigung
    Gottes ist nicht die Rede, es wird auch nicht gesagt, durch welche un-
    trügliche Zeichen Gott dem Zweifler seine Existenz erwiesen hat. Der
    Konflikt scheint sich in der Form einer halluzinatorischen Psychose abge-
    spielt zu haben, innere Stimmen werden laut, um vom Widerstand gegen
    Gott abzumahnen. Der Ausgang des Kampfes zeigt sich wiederum auf
    religiösem Gebiet: er ist der durch das Schicksal des Ödipuskomplexes
    vorbestimmte: völlige Unterwerfung unter den Willen Gott-Vaters, der
    junge Mann ist gläubig geworden, er hat alles angenommen, was man ihn seit
    der Kindheit über Gott und Jesus Christus gelehrt wurde. Er hat ein reli-
    giöses Erlebnis gehabt, eine Bekehrung erfahren.

    Das ist alles so einfach und so durchsichtig, daß man die Frage nicht
    abweisen kann, ob durch das Verständnis dieses Falles etwas für die
    Psychologie der religiösen Bekehrung überhaupt gewonnen ist. Ich verweise
    auf ein treffliches Werk von Sante de Sanctis (**La conversione religiosa**,
    Bologna 1924), welches auch alle Funde der Psychoanalyse verwertet. Man
    findet durch diese Lektüre die Erwartung bestätigt, daß keineswegs alle Fälle

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    Freud: Ein religiöses Erlebnis

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    von Bekehrung sich so leicht durchschauen lassen, wie der hier erzählte,
    daß aber unser Fall in keinem Punkte den Meinungen widerspricht, die
    sich die moderne Forschung über diesen Gegenstand gebildet hat. Was
    unsere Beobachtung auszeichnet, ist die Anknüpfung an einen besonderen
    Anlaß, der die Ungläubigkeit noch einmal aufflackern läßt, ehe sie für
    dies Individuum endgültig überwunden wird.