Eine Kindheitserinnerung aus Dichtung und Wahrheit 1917-004/1924.2
  • S.

    EINE KINDHEITSERINNERUNG
    AUS »DICHTUNG UND WAHRHEIT«

    Zuerst erschienen in „Imago“, Bd. V (1917),
    dava in der Pierien Folge der „Sammlung Kleiner
    Schriften zur Neurosenlehre*,

    „Wenn man sich erinnern will, was uns in der frühesten
    Zeit der Kindheit begegnet ist, so kommt man oft in den Fall,
    dasjenige, was wir von anderen gehört, mit dem zu verwechseln,
    was wir wirklich aus eigener anschauender Erfahrung besitzen.“
    Diese Bemerkung macht Goethe -auf einem der ersten Blåtter
    der Lebensbeschreibung, die er im Alter von sechzig Jahren auf-
    zuzeichnen begann. Vor ihr stehen nur einige Mitteilungen iiber
    seine ,am 28, August 1749, mittags mit dem Glockenschlag
    zwölf“ erfolgte Geburt. Die Konstellation der Gestirne war ihm
    günstig und mag wohl Ursache seiner Erhaltung gewesen sein,
    denn er kam „für tot“ auf die Welt, und nur durch vielfache
    Bemühungen brachte man es dahin, daß er das Licht erblickte.
    Nach dieser Bemerkung folgt eine kurze Schilderung des Hauses
    und der Råumlichkeit, in welcher sich die Kinder — er und
    seine jüngere Schwester — am liebsten aufhielten. Dann aber
    erzählt Goethe eigentlich nur eine einzige Begebenheit, die man
    in die „früheste Zeit der Kindheit“ (in die Jahre bis vier?) ver-
    setzen kann, und an welche er eine eigene Erinnerung bewahrt
    zu haben scheint.

  • S.

    358 Zur Anwendung der Psychoanalyse

    Der Bericht hierüber lautet: „und mich gewannen drei gegen-
    über wohnende Brüder von Ochsenstein, hinterlassene Söhne des
    verstorbenen Schultheißen, gar lieb, und beschäftigten und neckten
    sich mit mir auf mancherlei Weise.“

    „Die Meinigen erzählten gern allerlei Eulenspiegeleien, zu denen
    mich jene sonst ernsten und einsamen Männer angereizt. Ich
    führe nur einen von diesen Streichen an. Es war eben Topfmarkt
    gewesen und man hatte nicht allein die Küche für die nächste
    Zeit mit solchen Waren versorgt, sondern auch uns Kindern der-
    gleichen Geschirr im kleinen zu spielender Beschäftigung einge-
    kauft. An einem schönen Nachmittag, da alles ruhig im Hause
    war, trieb ich im Geräms (der erwähnten gegen die Straße ge-
    richteten Örtlichkeit) mit meinen Schüsseln und Töpfen mein
    Wesen und da weiter nichts dabei herauskommen wollte, warf
    ich ein Geschirr auf die Straße und freute mich, daß es so lustig
    zerbrach. Die von Ochsenstein, welche sahen, wie ich mich daran
    ergötzte, daß ich so gar fröhlich in die Händchen patschte, riefen:
    Noch mehr! Ich säumte nicht, sogleich einen Topf und auf immer
    fortwährendes Rufen: Noch mehr! nach und nach sämtliche Schüssel-
    chen, Tiegelchen, Kännchen gegen das Pflaster zu schleudern.
    Meine Nachbarn fuhren fort, ihren Beifall zu bezeigen und ich
    war höchlich froh, ihnen Vergnügen zu machen.. Mein Vorrat
    aber war aufgezehrt, und sie riefen immer: Noch mehr! Ich eilte
    daher stracks in die Küche und holte die irdenen Teller, welche
    nun freilich im Zerbrechen ein noch lustigeres Schauspiel gaben;
    und so lief ich hin und wieder, brachte einen Teller nach dem
    anderen, wie ich sie auf dem Topfbrett der Reihe nach erreichen
    konnte, und weil sich jene gar nicht zufrieden gaben, so stürzte
    ich alles, was ich von Geschirr erschleppen konnte, in gleiches Ver-
    derben. Nur später erschien jemand zu hindern und zu wehren. Das
    Unglück war geschehen, und man hatte für so viel zerbrochene
    Tôpferware wenigstens eine lustige Geschichte, an der sich be-
    sonders die schalkischen Urheber bis an ihr Lebensende ergätzten.“

  • S.

    Eine Kindheitserinnerung aus „Dichtung und Wahrheit“ 359

    Dies konnte man in voranalytischen Zeiten ohne AnlaB zum
    Verweilen und ohne Anstoß lesen; aber später wurde das analy-
    tische Gewissen rege. Man hatte sich ja über Erinnerungen aus der
    frithesten Kindheit bestimmte Meinungen und Erwartungen gebildet,
    für die man gerne allgemeine Gültigkeit in Anspruch nahm. Es
    sollte nicht gleichgültig oder bedeutungslos sein, welche Einzelheit
    des Kindheitslebens sich dem allgemeinen Vergessen der Kindheit
    entzogen hatte. Vielmehr durfte man vermuten, daß dies im Ge-
    dächtnis Erhaltene auch das Bedeutsamste des ganzen Lebens-
    abschnittes sei, und zwar entweder so, daß es solche Wichtigkeit
    schon zu seiner Zeit besessen oder anders, daB es sie durch den
    Einfluß späterer Erlebnisse nachträglich erworben habe. *

    Allerdings war die hohe Wertigkeit solcher Kindheitserinne-
    rungen nur in seltenen Fällen offensichtlich. Meist erschienen sie
    gleichgültig, ja nichtig, und es blieb zunächst unverstanden, daß
    es gerade ihnen gelungen war, der Amnesie zu trotzen; auch
    wußte derjenige, der sie als sein eigenes Erinnerungsgut seit
    langen Jahren bewahrt hatte, sie so wenig zu würdigen wie der
    Fremde, dem er sie erzählte. Um sie in ihrer Bedeutsamkeit zu
    erkennen, bedurfte es einer gewissen Deutungsarbeit, die entweder
    nachwies, wie ihr Inhalt durch einen anderen zu ersetzen sei,
    oder ihre Beziehung zu anderen, unverkennbar wichtigen Erleb-
    nissen aufzeigte, für welche sie als sogenannte Deckerinnerungen
    eingetreten waren.

    In jeder psychoanalytischen Bearbeitung einer Lebensgeschichte
    gelingt es, die Bedeutung der frühesten Kindheitserinnerungen in
    solcher Weise aufzuklären. Ja, es ergibt sich in der Regel, daß
    gerade diejenige Erinnerung, die der Analysierte voranstellt, die
    er zuerst erzählt, mit der er seine Lebensbeichte einleitet, sich
    als die wichtigste erweist, als diejenige, welche die Schlüssel zu
    den Geheimfächern seines Seelenlebens in sich birgt. Aber im
    Falle jener kleinen Kinderbegebenheit, die in „Dichtung und
    Wahrheit“ erzählt wird, kommt unseren Erwartungen zu wenig

  • S.

    360 Zur Anwendung der Psychoanalyse

    entgegen. Die Mittel und Wege, die bel unseren Patienten zur
    Deutung führen, sind uns hier natürlich unzugånglich; der Vorfall
    an sich scheint einer aufspürbaren Beziehung zu wichtigen Lebens-
    eindrücken späterer Zeit nicht fähig zu sein. Ein Schabernack
    zum Schaden der häuslichen Wirtschaft, unter fremdem Einfluß
    verübt, ist sicherlich keine passende Vignette für all das, was
    Goethe aus seinem reichen Leben mitzuteilen hat. Der Eindruck
    der vollen Harmlosigkeit und Beziehungslosigkeit will sich für
    diese Kindererinnerung behaupten, und wir mógen die Mahnung
    mitnehmen, die Anforderungen der Psychoanalyse nicht zu über-
    spannen oder am ungeeigneten Orte vorzubringen.

    So hatte ich denn das kleine Problem längst aus meinen Ge-
    danken fallen lassen, als mir der Zufall einen Patienten zuführte,
    bei dem sich eine ähnliche Kindheitserinnerung in durchsichti-
    gerem Zusammenhange ergab. Es war ein siebenundzwanzigjähriger,
    hochgebildeter und begabter Mann, dessen Gegenwart durch einen
    Konflikt mit seiner Mutter ausgefüllt war, der sich so ziemlich
    auf alle Interessen des Lebens erstreckte, unter dessen Wirkung
    die Entwicklung seiner Liebesfühigkeit und seiner selbständigen
    Lebensführung schwer gelitten hatte. Dieser Konflikt ging weit
    in die Kindheit zurück; man kann wohl sagen, bis in sein viertes
    Lebensjahr. Vorher war er ein sehr schwáchliches, immer krån-
    kelndes Kind gewesen, und doch hatten seine Erinnerungen diese
    üble Zeit zum Paradies verklürt, denn damals besaß er die un-
    eingeschränkte, mit niemandem geteilte Zärtlichkeit der Mutter.
    Als er noch nicht vier Jahre war, wurde ein — heute noch
    lebender — Bruder geboren, und in der Reaktion auf diese Stó-
    rung wandelte er sich zu einem eigensinnigen, unbotmäBigen
    Jungen, der unausgesetzt die Strenge der Mutter herausforderte.
    Er kam auch nie mehr in das richtige Geleise.

    Als er in meine Behandlung trat — nicht zum mindesten
    darum, weil die bigotte Mutter die Psychoanalyse verabscheute —
    war die Eifersucht auf den nachgeborenen Bruder, die sich seiner-

  • S.

    Eine Kindheitserinnerung aus „Dichtung und Wahrheit“ 361

    zeit selbst in einem Attentat auf den Säugling in der Wiege
    geäußert hatte, längst vergessen. Er behandelte jetzt seinen jün-
    geren Bruder sehr riicksichtsvoll, aber sonderbare Zufallshandlungen,
    durch die er sonst geliebte Tiere wie seinen Jagdhund oder sorgsam
    von ihm gepflegte Vögel plötzlich zu schwerem Schaden brachte,
    waren wohl als Nachklänge jener feindseligen Impulse gegen den
    kleinen Bruder zu verstehen,

    Dieser Patient berichtete nun, daß er um die Zeit des Attentats
    gegen das ihm verhaßte Kind einmal alles ihm erreichbare Ge-
    schirr aus dem Fenster des Landhauses auf die Straße geworfen.
    Also dasselbe, was Goethe in Dichtung und Wahrheit aus seiner
    Kindheit erzählt! Ich bemerke, daß mein Patient von fremder
    Nationalität und nicht in deutscher Bildung erzogen war; er hatte
    Goethes Lebensbeschreibung niemals gelesen.

    Diese Mitteilung mußte mir den Versuch nahe legen, die
    Kindheitserinnerung Goethes in dem Sinne zu deuten, der durch
    die Geschichte meines Patienten unabweisbar geworden war. Aber
    waren in der Kindheit des Dichters die für solche Auffassung
    erforderlichen Bedingungen nachzuweisen? Goethe selbst macht
    zwar die Aneiferung der Herren von Ochsenstein für seinen
    Kinderstreich verantwortlich. Aber seine Erzählung selbst läßt
    erkennen, daß die erwachsenen Nachbarn ihn nur zur Fortsetzung
    seines Treibens aufgemuntert hatten. Den Anfang dazu hatte er
    spontan gemacht, und die Motivierung, die er für dies Beginnen
    gibt: „Da weiter nichts dabei (beim Spiele) herauskommen wollte“,
    låBt sich wohl ohne Zwang als Geständnis deuten, daß ihm ein
    wirksames Motiv seines Handelns zur Zeit der Niederschrift und
    wahrscheinlich auch lange Jahre vorher nicht bekannt war.

    Es ist bekannt, daß Joh. Wolfgang und seine Schwester Cor-
    nelia die ältesten Überlebenden einer größeren, recht hinfälligen
    Kinderreihe waren. Dr. Hanns Sachs war so freundlich, mir die
    Daten zu verschaffen, die sich auf diese früh verstorbenenen
    Geschwister Goethes beziehen.

  • S.

    362 Zur Anwendung der Psychoanalyse

    Geschwister Goethes:

    a) Hermann Jakob, getauft Montag, den 27. November 1752,
    erreichte ein Alter von sechs Jahren und sechs Wochen, be-
    erdigt 15. Jänner 1750.

    b) Katharina Elisabetha, getauft Montag, den 9. September 1754,
    beerdigt Donnerstag, den 99. Dezember 1755 (ein Jahr, vier
    Monate alt).

    ¢) Johanna Maria, getauft Dienstag, den 29. März 1757 und
    beerdigt Samstag, den 11. August 1759 (zwei Jahre, vier
    Monate alt). (Dies war jedenfalls das von ihrem Bruder ge-
    rithmte sehr schöne und angenehme Mädchen).

    d) Georg Adolph, getauft Sonntag, den 15. Juni 1760; be-
    erdigt, acht Monate alt, Mittwoch, den 18. Februar 1761.

    Goethes nåchste Schwester, Cornelia Friederica Christiana,
    war am 7. Dezember 1750 geboren, als er fiinfviertel Jahre alt
    war. Durch diese geringe Altersdifferenz ist sie als Objekt der

    Eifersucht so gut wie ausgeschlossen. Man weiß, daß Kinder,

    wenn ihre Leidenschaften erwachen, niemals so heftige Reaktionen

    gegen die Geschwister entwickeln, welche sie vorfinden, sondern
    ihre Abneigung gegen die neu Ankommenden richten. Auch ist die

    Szene, um deren Deutung wir uns bemiihen, mit dem zarten Alter

    Goethes bei oder bald nach der Geburt Cornelias unvereinbar.

    Bei der Geburt des ersten Brüderchens Hermann Jakob war

    Joh. Wolfgang dreieinviertel Jahre alt. Ungefähr zwei Jahre später,

    als er etwa fiinf Jahre alt war, wurde die zweite Schwester ge-

    boren. Beide Altersstufen kommen fiir die Datierung des Geschirr-
    hinauswerfens in Betracht; die erstere verdient vielleicht den Vor-
    zug, sie würde auch die bessere Übereinstimmung mit dem Falle
    meines Patienten ergeben, der bei der Geburt seines Bruders
    etwa dreidreiviertel Jahre zåhlte.

    Der Bruder Hermann Jakob, auf den unser Deutungsversuch
    in solcher Art hingelenkt wird, war übrigens kein so flüchtiger

    Gast in der Goetheschen Kinderstube wie die spåteren Geschwister.

  • S.

    Eine Kindheitserinnerung aus „Dichtung und Wahrheit" 363

    Man könnte sich verwundern, daß die Lebensgeschichte seines
    großen Bruders nicht ein Würtchen des Gedenkens an ihn bringt.‘
    Er wurde über sechs Jahre alt und Joh. Wolfgang war nahe an
    zehn Jahre, als er starb. Dr. Ed. Hitschmann, der so freundlich
    war, mir seine Notizen über diesen Stoff zur Verfügung zu stellen,
    meint:

    „Auch der kleine Goethe hat ein Briiderchen nicht un-
    gern sterben gesehen. Wenigstens berichtete seine Mutter nach
    Bettina Brentanos Wiedererzählung folgendes: ,Sonderbar fiel
    es der Mutter auf, daß er bei dem Tode seines jüngeren Bruders
    Jakob, der sein Spielkamerad war, keine Träne vergoB, er schien
    vielmehr eine Art Ärger über die Klagen der Eltern und Ge-
    schwister zu haben; da die Mutter nun später den Trotzigen
    fragte, ob er den Bruder nicht lieb gehabt habe, lief er in seine
    Kammer, brachte unter dem Bett hervor eine Menge Papiere,
    die mit Lektionen und Geschichtchen beschrieben waren, er sagte
    ihr, daß er dies alles gemacht habe, um es dem Bruder zu lehren.‘
    Der ältere Bruder hätte also immerhin gern Vater mit dem
    Jüngeren gespielt und ihm seine Überlegenheit gezeigt.“

    Wir könnten uns also die Meinung bilden, das Geschirrhinaus-
    werfen sei eine symbolische, oder sagen wir es richtiger: eine
    magische Handlung, durch welche das Kind (Goethe sowie
    mein Patient) seinen Wunsch nach Beseitigung des störenden Ein-
    dringlings zu kräftigem Ausdruck bringt. Wir brauchen das Ver-
    gnügen des Kindes beim Zerschellen der Gegenstände nicht zu
    bestreiten; wenn eine Handlung bereits an sich lustbringend ist,
    so ist dies keine Abhaltung, sondern eher eine Verlockung, sie
    auch im Dienste anderer Absichten zu wiederholen. Aber wir

    1) [Zusatz 1924:] Tch bediene mich dieser Gelegenheit, um eine unrichtige Be-
    hauptung, die nicht hätte vorfallen sollen, zurückzunehmen. An einer späteren Stelle
    dieses ersten Buches wird der jiingere Bruder doch erwähnt und geschildert. Es
    geschieht bei der Erinnerung an die lästigen Kinderkrankheiten, unter denen auch
    dieser Bruder „nicht wenig litt“. „Er war von zarter Natur, still und eigensinnig
    und wir hatten niemals ein eigentliches Verhältnis zusammen. Auch überlebte er
    kaum die Kinderjahre.“

  • S.

    364 Zur Anwendung der Psychoanalyse

    glauben nicht, daß es die Lust am Klirren und Brechen war,
    welche solchen Kinderstreichen einen dauernden Platz in der Er-
    innerung des Erwachsenen sichern konnte, Wir sträuben uns auch
    nicht, die Motivierung der Handlung um einen weiteren Beitrag
    zu komplizieren. Das Kind, welches das Geschirr zerschlägt, weiß
    wohl, daß es etwas Schlechtes tut, worüber die Erwachsenen
    schelten werden, und wenn es sich durch dieses Wissen nicht
    zurückhalten läßt, so hat es wahrscheinlich einen Groll gegen die
    Eltern zu befriedigen; es will sich schlimm zeigen.

    Der Lust am Zerbrechen und am Zerbrochenen wäre auch
    Genüge getan, wenn das Kind die gebrechlichen Gegenstände
    einfach auf den Boden würfe. Die Hinausbeförderung durch das
    Fenster auf die Straße bliebe dabei ohne Erklärung. Dies „Hinaus“
    scheint aber ein wesentliches Stück der magischen Handlung zu
    sein und dem verborgenen Sinn derselben zu entstammen. Das
    neue Kind soll fortgeschafft werden, durchs Fenster möglicher-
    weise darum, weil es durchs Fenster gekommen ist, Die ganze
    Handlung wäre dann gleichwertig jener uns bekannt gewordenen
    wörtlichen Reaktion eines Kindes, als man ihm mitteilte, daß der
    Storch ein Geschwisterchen gebracht. „Er soll es wieder mit-
    nehmen“, lautete sein Bescheid.

    Indes, wir verhehlen uns nicht, wie mißlich es — von allen
    inneren Unsicherheiten abgesehen — bleibt, die Deutung einer
    Kinderhandlung auf eine einzige Analogie zu begründen. Ich hatte
    darum auch meine Auffassung der kleinen Szene aus „Dichtung
    und Wahrheit“ durch Jahre zurückgehalten. Da bekam ich eines
    Tages einen Patienten, der seine Analyse mit folgenden, wort-
    getreu fixierten Sätzen einleitete:

    „Ich bin das älteste von acht oder neun Geschwistern.‘ Eine
    meiner ersten Erinnerungen ist, daß der Vater, in Nachtkleidung

    1) Ein flüchtiger Irrtum auffälliger Natur, Es ist nicht abzuweisen, daß er bereits
    durch die Beseitigungstendenz gegen den Bruder induziert ist. (Vgl. Ferenczi: Über
    passagere Symptombildungen während der Analyse. Zentralbl. f. Psychoanalyse IT, 1912.)

  • S.

    Eine Kindheitserinnerung aus „Dichtung und Wahrheit“ 365

    auf seinem Bette sitzend, mir lachend erzählt, daß ich einen
    Bruder bekommen habe. Ich war damals dreidreiviertel Jahre alt;
    so groB ist der Altersunterschied zwischen mir und meinem
    nächsten Bruder. Dann weiß ich, daß ich kurze Zeit nachher
    (oder war es ein Jahr vorher?)' einmal verschiedene Gegenstände,
    Bürsten — oder war es nur eine Bürste? — Schuhe und anderes
    aus dem Fenster auf die StraBe geworfen habe. Ich habe auch
    noch eine frühere Erinnerung. Als ich zwei Jahre alt war, über-
    nachtete ich mit den Eltern in einem Hotelzimmer in Linz auf
    der Reise ins Salzkammergut. Ich war damals so unruhig in der
    Nacht und machte ein solches Geschrei, daß mich der Vater
    schlagen mußte.“

    Vor dieser Aussage lieB ich jeden Zweifel fallen. Wenn bei
    analytischer Einstellung zwei Dinge unmittelbar nacheinander, wie
    in einem Atem vorgebracht werden, so sollen wir diese Annähe-
    rung auf Zusammenhang umdeuten. Es war also so, als ob der
    Patient gesagt hätte: Weil ich erfahren, daß ich einen Bruder
    bekommen habe, habe ich einige Zeit nachher jene Gegenstünde
    auf die StraBe geworfen. Das Hinauswerfen der Bürsten, Schuhe usw.
    gibt sich als Reaktion auf die Geburt des Bruders zu erkennen.
    Es ist auch nicht unerwünscht, daß die fortgeschafften Gegen-
    stinde in diesem Falle nicht Geschirr, sondern andere Dinge
    waren, wahrscheinlich solche, wie sie das Kind eben erreichen
    konnte... Das Hinausbefórdern (durchs Fenster auf die StraBe)
    erweist sich so als das Wesentliche der Handlung, die Lust am
    Zerbrechen, am Klirren und die Art der Dinge, an denen „die
    Exekution vollzogen wird*, als inkonstant und unwesentlich.

    Natürlich gilt die Forderung des Zusammenhanges auch für
    die dritte Kindheitserinnerung des Patienten, die, obwohl die
    früheste, an das Ende der kleinen Reihe gerückt ist. Es ist leicht,
    sie zu erfüllen. Wir verstehen, daß das zweijährige Kind darum

    1) Dieser den wesentlichen Punkt der Mitteilung als Widerstand annagende
    Zweifel wurde vom Patienten bald nachher selbstündig zurückgezogen.

  • S.

    366 Zur Anwendung der Psychoanalyse

    so unruhig war, weil es das Beisammensein von Vater und Mutter
    im Bette nicht leiden wollte. Auf der Reise war es wohl nicht
    anders möglich, als das Kind zum Zeugen dieser Gemeinschaft
    werden zu lassen. Von den Gefühlen, die sich damals in dem
    kleinen Eifersiichtigen regten, ist ihm die Erbitterung gegen
    das Weib verblieben, und diese hat eine dauernde Störung seiner
    Liebesentwicklung zur Folge gehabt.

    Als ich nach diesen beiden Erfahrungen im Kreise der psycho-
    analytischen Gesellschaft die Erwartung äußerte, Vorkommnisse
    solcher Art dürften bei kleinen Kindern nicht zu den Seltenheiten
    gehören, stellte mir Frau Dr. v. Hug-Hellmuth zwei weitere
    Beobachtungen zur Verfügung, die ich hier folgen lasse:

    I

    Mit zirka dreieinhalb Jahren hatte der kleine Erich „urplötzlich“ die
    Gewohnheit angenommen, alles, was ihm nicht pate, zum Fenster hinaus-
    zuwerfen. Aber er tat es auch mit Gegenständen, die ihm nicht im Wege
    waren und ihn nichts angingen. Gerade am Geburtstag des Vaters — da
    zåhlte er drei Jahre viereinhalb Monate — warf er eine schwere Teigwalze,
    die er flugs aus der Kiiche ins Zimmer geschleppt hatte, aus einem Fenster
    der im dritten Stockwerk gelegenen Wohnung auf die Straße. Einige Tage
    später ließ er den MôrserstôBel, dann ein Paar schwerer Bergschuhe des
    Vaters, die er erst aus dem Kasten nehmen mußte, folgen.!

    Damals machte die Mutter im siebenten oder achten Monate ihrer Schwanger-
    schaft eine fausse couche, nach der das Kind „wie ausgewechselt brav und zärtlich
    still“ war. Im fünften oder sechsten Monate sagte er wiederholt zur Mutter:
    „Mutti, ich spring’ dir auf den Bauch“ oder „Mutti, ich drück’ dir den
    Bauch ein". Und kurz vor der fausse couche, im Oktober: „Wenn ich schon
    einen Bruder bekommen soll, so wenigstens erst nach dem Christkindl. *

    11

    Eine junge Dame von neunzehn Jahren gibt spontan als früheste Kind- ・
    heitserinnerung folgende:

    „Ich sehe mich furchtbar ungezogen, zum Hervorkriechen bereit, unter
    dem Tische im Speisezimmer sitzen. Auf dem Tische steht meine Kaffee-
    schale — ich sehe noch jetzt deutlich das Muster des Porzellans vor mir, 一

    1) Immer wählte er schwere Gegenstände.

  • S.

    Eine Kindheitserinnerung aus „Dichtung und Wahrheit“ 367

    die ich in dem Augenblick, als Großmama ins Zimmer trat, zum Fenster
    hinauswerfen wollte,

    Es hatte sich nämlich niemand um mich gekümmert, und indessen hatte
    sich auf dem Kaffee eine „Haut“ gebildet, was mir immer fürchterlich war
    und heute noch ist.

    An diesem Tage wurde mein um zweieinhalb Jahre jüngerer Bruder ge-
    horen, deshalb hatte niemand Zeit für mich.

    Man erzählt mir noch immer, daß ich an diesem Tage unausstehlich war;
    zu Mittag hatte ich das Lieblingsglas des Papas vom Tische geworfen, tags-
    über mehrmals mein Kleidchen beschmutzt und war von früh bis abends
    übelster Laune. Auch ein Badepüppchen hatte ich in meinem Zorne zer-
    trümmert.“ :

    Diese beiden Fille bediirfen kaum eines Kommentars. Sie be-
    ståtigen ohne weitere analytische Bemiihung, daß die Erbitterung
    des Kindes über das erwartete oder erfolgte Auftreten eines Kon-
    kurrenten sich in dem Hinausbefórdern von Gegenständen durch
    das Fenster wie auch durch andere Akte von Schlimmheit und
    Zerstórungssucht zum Ausdruck bringt. In der ersten Beobachtung
    symbolisieren wohl die „schweren Gegenstände“ die Mutter selbst,
    gegen welche sich der Zorn des Kindes richtet, solange das neue
    Kind noch nicht da ist. Der dreieinhalbjihrige Knabe weiB um
    die Schwangerschaft der Mutter und ist nicht im Zweifel dariiber,
    daß sie das Kind in ihrem Leibe beherbergt. Man muß sich
    hiebei an den „kleinen Hans“ erinnern und an seine besondere
    Angst vor schwer beladenen Wagen.? An der zweiten Beobach-

    tung ist das friihe Alter des Kindes, zweieinhalb Jahre, bemer-
    kenswert,

    1) Analyse der Phobie eines fiinfjåhrigen Knaben (Ges. Schriften, Bd. VIII].

    2) Fiir diese Symbolik der Schwangerschaft hat mir vor einiger Zeit eine mehr
    als fünfzigjährige Dame eine weitere Bestätigung erbracht. Es war ihr wiederholt
    erzählt worden, daß sie als kleines Kind, das kaum sprechen konnte, den Vater auf-
    geregt zum Fenster zu ziehen pflegte, wenn ein schwerer Móbelwagen auf der StraBe
    vorbeifuhr. Mit Rücksicht auf ihre Wohnungserinnerungen läßt sich feststellen, daß
    sie damals jünger war als zweidreiviertel Jahre. Um diese Zeit wurde ihr nächster
    Bruder geboren und infolge dieses Zuwachses die Wohnung gewechselt. Ungefähr
    gleichzeitig hatte sie oft vor dem Einschlafen die ängstliche Empfindung von etwas
    unheimlich GroBem, das auf sie zukam, und dabei ,wurden ihr die Hinde so
    dick". 4

  • S.

    368 Zur Anwendung der Psychoanalyse

    Wenn wir nun zur Kindheitserinnerung Goethes zurückkehren
    und an ihrer Stelle in „Dichtung und Wahrheit“ einsetzen, was
    wir aus der Beobachtung anderer Kinder erraten zu haben glauben,
    so stellt sich ein tadelloser Zusammenhang her, den wir sonst
    nicht entdeckt hätten. Es heißt dann: Ich bin ein Gliickskind
    gewesen; das Schicksal hat mich am Leben erhalten, obwohl ich
    fiir tot zur Welt gekommen bin. Meinen Bruder aber hat es be-
    seitigt, so daB ich die Liebe der Mutter nicht mit ihm zu teilen
    brauchte. Und dann geht der Gedankenweg weiter, zu einer
    anderen in jener Frühzeit Verstorbenen, der Großmutter, die wie
    ein freundlicher, stiller Geist in einem anderen Wohnraum hauste.

    Ich habe es aber schon an anderer Stelle ausgesprochen: Wenn
    man der unbestrittene Liebling der Mutter gewesen ist, so behält
    man fiirs Leben jenes Eroberergefiihl, jene Zuversicht des Erfolges,
    welche nicht selten wirklich den Erfolg nach sich zieht. Und
    eine Bemerkung solcher Art wie: Meine Stärke wurzelt in meinem
    Verhältnis zur Mutter, hätte Goethe seiner Lebensgeschichte mit
    Recht voranstellen dürfen.