Eine Kindheitserinnerung aus „Dichtung und Wahrheit“ 1917-004/1918
  • S.

    XXXI.

    EINE KINDHEITSERINNERUNG
    AUS „DICHTUNG UND WAHRHEIT“. ©

    „Wenn man sich erinnern will, was uns in der frühesten
    Zeit der Kindheit begegnet ist, so kommt man oft in den Fall,
    dasjenige, was wir von anderen gehört, mit dem zu verwechseln,
    was wir wirklich aus eigener anschauender Erfahrung besitzen,“
    Diese Bemerkung macht Goethe auf einem der ersten Blätter
    der Lebensbeschreibung, die er im Alter von sechzig Jahren auf-
    zuzeichnen begann. Vor ihr stehen nur einige Mitteilungen
    über seine „am 28, August 1749, mittags mit dem Glocken-
    schlag zwölf“ erfolgte Geburt. Die Konstellation der Gestirne
    war ihm günstig und mag wohl Ursache seiner Erhaltung ge-
    wesen sein, denn er kam „für tot“ auf die Welt, und nur
    durch vielfache Bemühungen brachte man es dahin, daß er
    das Licht erblickte. Nach dieser Bemerkung folgt eine kurze
    Schilderung des Hauses und der Räumlichkeit, in welcher
    sich die Kinder — er und seine jüngere Schwester — am lieb-
    sten aufhielten. Dann aber erzählt Goethe eigentlich nur
    eine einzige Begebenheit, die man in die „früheste Zeit
    der Kindheit“ (in die Jahre bis vier?) versetzen kann, und
    an welche er eine eigene Erinnerung bewahrt zu haben scheint.

    *) Imago V, 1917,

  • S.

    XXXI. KINDHEITSERINNERUNG AUS „DICHTUNG U, WAHRHEIT“, 565

    Der Bericht hierüber Jautet: „und mich gewannen drei
    gegenüber wohnende Brüder von Ochsenstein, hinterlassene
    Söhne des verstorbenen Schultheißen, gar lieb, und beschäf-
    tigten und neckten sich mit mir auf mancherlei Weise,“

    „Die Meinigen erzählten gern allerlei Eulenspiegeleien,
    zu denen mich jene sonst ernsten und einsamen Männer an-
    gereizt. Ich führe nur einen von diesen Streichen an. Es war
    eben Topfmarkt gewesen und man hatte nicht allein die Küche
    für die nächste Zeit mit solchen Waren versorgt, sondern
    auch uns Kindern dergleichen Geschirr im kleinen zu spielen-
    der Beschäftigung eingekauft. An einem schönen Nachmittag,
    da alles ruhig im Hause war, trieb ich im Geräms (der er-
    wähnten gegen die Straße gerichteten Örtlichkeit) mit meinen
    Schüsseln und Töpfen mein Wesen und da weiter nichts dabei
    herauskommen wollte, warf ich ein Geschirr auf die Straße
    und freute mich, daß es so lustig zerbrach. Die von Ochsen-
    stein, welche sahen, wie ich mich daran ergötzte, daß ich
    so gar fröhlich in die Händchen patschte, riefen: Noch mehr!
    Ich säumte nicht, sogleich einen Topf und auf immer fort-
    währendes Rufen: Noch mehr! nach und nach sämtliche
    Schüsselchen, Tiegelchen, Kännchen gegen das Pflaster zu
    schleudern. Meine Nachbarn fuhren fort, ihren Beifall zu be-
    zeigen und ich war höchlich froh ihnen Vergnügen zu machen.
    Mein Vorrat aber war aufgezehrt, und sie riefen immer: Noch
    mehr! Ich eilte daher stracks in die Küche und holte die ir-
    denen Teller, welche nun freilich im Zerbrechen ein noch
    lustigeres Schauspiel gaben; und so lief ich hin und wieder,
    brachte einen Teller nach dem anderen, wie ich sie auf dem
    Topfbrett der Reihe nach erreichen konnte, und weil sich
    jene gar nicht zufrieden gaben, so stürzte ich alles, was ich
    von Geschirr erschleppen konnte, in gleiches Verderben, Nur

  • S.

    566 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV

    später erschien jemand zu hindern und zu wehren, Das Un-
    glück war geschehen, und man hatte fiir so viel zerbrochene
    Töpferware wenigstens eine lustige Geschichte, an der sich
    besonders die schalkischen Urheber bis an ihr Lebensende
    ergôtzten.“

    Dies konnte män in voranalytischen Zeiten ohne Anla8
    zum Verweilen und ohne Anstoß lesen; aber später. wurde
    das analytische Gewissen rege. Man hatte sich ja über Er-
    innerungen aus der frithesten Kindheit bestimmte Meinungen
    und Erwartungen gebildet, für die man gerne allgemeine Gül-
    tigkeit in Anspruch nahm. Es sollte nicht gleichgültig oder
    bedeutungslos sein, welche Einzelheit des Kindheitslebens sich
    dem allgemeinen Vergessen der Kindheit entzogen hatte. Viel-
    mehr durfte man vermuten, daß dies im Gedächtnis Erhaltene
    auch das Bedeutsamste des ganzen Lebensabschnittes sei, und
    zwar entweder so, daß es solche Wichtigkeit schon zu seiner
    Zeit besessen oder anders, daß es sie durch den Einfluß
    späterer Erlebnisse nachträglich erworben habe,

    Allerdings war die hohe Wertigkeit solcher Kindheits-
    erinnerungen nur in seltenen Fällen offensichtlich, Meist er-
    schienen sie gleichgültig, ja nichtig, und es blieb zunächst
    unverstanden, daß es gerade ihnen gelungen war, der Amnesie
    zu trotzen; auch wußte derjenige, der sie als sein eigenes
    Erinnerungsgut seit langen Jahren bewahrt hatte, sie so wenig
    vu würdigen wie der Fremde, dem er sie erzählte. Um sie
    in ihrer Bedeutsämkeit zu erkennen, bedurfte es einer ge-
    wissen Deutungsarbeit, die entweder nachwies, wie ihr Inhalt
    durch einen anderen zu ersetzen sei, oder ihre Beziehung zu
    anderen, unverkennbar wichtigen Erlebnissen aufzeigte, für
    welche sie als sogenannte Deckerinnerungen eingetreten
    waren,

  • S.

    XXXI, KINDHEITSERINNERUNG AUS „DICHTUNG U. WAHRHEIT“, 567

    In jeder psychoanalytischen Bearbeitung einer Lebens-
    geschichte gelingt es, die Bedeutung der frühesten Kindheits-
    erinnerungen in solcher Weise aufzuklären. Ja, es ergibt sich
    in der Regel, daß gerade diejenige Erinnerung, die der Analy-
    sierte voranstellt, die er zuerst erzählt, mit der er seine Lebens-
    beichte einleitet, sich als die wichtigste erweist, als die-
    jenige, welche die Schlüssel zu den Geheimfächern seines.
    Seelenlebens in sich birgt. Aber im Falle jener kleinen Kinder-
    begebenheit, die in „Dichtung und Wahrheit“ erzählt wird,
    - kommt unseren Erwartungen zu wenig entgegen. Die Mittel
    und Wege, die bei unseren Patienten zur Deutung führen, sind
    uns hier natürlich unzugänglich; der Vorfall an sich scheint
    einer aufspürbaren Beziehung zu wichtigen Lebenseindrücken
    späterer Zeit nicht fähig zu sein. Ein Schabernack zum Scha-
    den der häuslichen Wirtschaft, unter fremdem Einfluß ver-
    übt, ist sicherlich keine passende Vignette für all das, was.
    Goethe aus seinem reichen Leben mitzuteilen hat. Der Ein-
    druck der vollen Harmlosigkeit und Beziehungslosigkeit will
    sich für diese Kindererinnerung behaupten, und wir mögen
    die Mahnung mitnehmen, die Anforderungen der Psychoanalyse
    nicht zu überspannen oder am ungeeigneten Orte vorzubringen.

    So hatte ich denn das kleine Problem längst aus meinen
    Gedanken fallen lassen, als mir der Zufall einen Patienten
    zuführte, bei dem sich eine ähnliche Kindheitserinnerung in
    durchsichtigerem Zusammenhange ergab. Es war ein sieben-
    undzwanzigjähriger, hochgebildeter und begabter Mann, des-
    sen Gegenwart durch einen Konflikt mit seiner Mutter aus-
    gefüllt war, der sich so ziemlich auf alle Interessen des Le-
    bens erstreckte, unter dessen Wirkung die Entwicklung seiner
    Liebesfähigkeit und seiner selbständigen Lebensführung
    schwer gelitten hatte, Dieser Konflikt ging weit in die Kindheit

  • S.

    568 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.

    zurück; man kann wohl sagen, bis in sein viertes Lebens-
    jahr. Vorher war er ein sehr schwächliches, immer krånkeln-
    des Kind gewesen, und doch hatten seine Erinnerungen diese
    üble Zeit zum Paradies verklårt, denn damals besaß er die
    uneingeschränkte, mit niemandem geteilte Zärtlichkeit der
    Mutter. Als er noch nicht vier Jahre war, wurde ein — heute
    noch lebender — Bruder geboren, und in der Reaktion auf
    diese Stérung wandelte er sich zu einem eigensinnigen, un-
    botmäßigen Jungen, der unausgesetzt die Strenge der Mutter
    herausforderte. Er kam auch nie mehr in das richtige Geleise.

    Als er in meine Behandlung trat — nicht zum min-
    desten darum, weil die bigotte Mutter die Psychoanalyse ver-
    abscheute —, war die Eifersucht auf den nachgéborenen Bru-
    der, die sich seinerzeit selbst in einem Attentat auf den Såug-
    ling in der Wiege geäußert hatte, längst vergessen. Er be-
    handelte jetzt seinen jüngeren Bruder sehr riicksichtsvoll, aber
    sonderbare Zufallshandlungen, durch die er sonst geliebte Tiere
    wie seinen Jagdhund oder sorgsam von ihm gepflegte Vögel
    plötzlich zu schwerem Schaden brachte, waren wohl als Nach-
    klänge jener feindseligen Impulse gegen den kleinen Bruder
    zu verstehen. |

    Dieser Patient berichtete nun, daB er um die Zeit des
    ‘Attentats gegen das ihm verhaBte Kind einmal alles ihm
    erreichbare Geschirr aus dem Fenster des Landhauses auf
    die Straße geworfen, Also dasselbe, was Goethe in Dich-
    tung und Wahrheit aus seiner Kindheit erzählt! Ich be-
    merke, daß mein Patient von fremder Nationalität und nicht
    in deutscher Bildung erzogen war; er hatte Goethes Lebens-
    beschreibung niemals gelesen.

    Diese Mitteilung mußte mir den Versuch nahe legen, die
    Kindheitserinnerung Goethes in dem Sinne zu deuten, der

  • S.

    XXXI. KINDHEITSERINNERUNG AUS „DICHTUNG U. WAHRHEIT“, 569

    durch die Geschichte meines Patienten unabweisbar gewor-
    den war, Aber waren in der Kindheit des Dichters die für
    solche Auffassung erforderlichen Bedingungen nachzuweisen?
    Goethe selbst macht zwar die Aneiferung der Herren von
    Ochsenstein für seinen Kinderstreich verantwortlich. Aber
    seine Erzählung selbst låBt erkennen, daß die erwachsenen
    Nachbarn ihn nur zur Fortsetzung seines Treibens aufge-
    muntert hatten. Den Anfang dazu hatte er spontan gemacht,
    und die Motivierung, die er für dies Beginnen gibt: „Da
    weiter nichts dabei (beim Spiele) herauskommen wollte“, 1äßt
    sich wohl ohne Zwang als Geständnis deuten, daß ihm ein
    wirksames Motiv seines Handelns zur Zeit der Niederschrift
    und wahrscheinlich auch lange Jahre vorher nicht bekannt war.
    Es ist bekannt, daß Joh. Wolfgang und seine Schwester
    Cornelia die ältesten Überlebenden einer größeren, recht hin-
    fälligen Kinderreihe waren. Herr Dr. Hanns Sachs war so
    freundlich, mir die Daten zu verschaffen, die sich auf diese
    früh verstorbenen Geschwister Goethes beziehen,
    Geschwister Goethes: ⑤

    a) Hermann Jakob, getauft Montag, den 27. November
    1752, erreichte ein Alter von sechs Jahren und sechs
    Wochen, beerdigt 13. Jänner 1759.

    b) Katharina Elisabetha, getauft Montag, den 9. Sep-
    tember 1754, beerdigt Donnerstag, den 22. Dezember 1755
    (ein. Jahr, vier Monate alt).

    c) Johanna Maria, getauft Dienstag, den 29. März 1757
    und beerdigt Samstag, den 11. August 1759 (zwei Jahre
    vier Monate alt). (Dies war jedenfalls das von ihrem
    Bruder gerühmte sehr schöne und angenehme Mädchen.)

    d) Georg Adolph, getauft Sonntag, den 15. Juni 1760;
    beerdigt, acht Monate alt, Mittwoch, den 18, Februar 1761.

  • S.

    570 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.

    Goethes nächste Schwester, Cornelia Friederica
    Christiana, war am 7. Dezember 1750 geboren, als er fünf-
    viertel Jahre alt war, Durch diese geringe Altersdifferenz ist
    sie als Objekt der Eifersucht so gut wie ausgeschlossen. Man
    weiß, daß Kinder, wenn ihre Leidenschaften erwachen, nie-
    mals so heftige Reaktionen gegen die Geschwister entwickeln,
    welche sie vorfinden, sondern ihre Abneigung gegen die neu
    Ankommenden richten. Auch ist die Szene, um deren Deu-
    tung wir uns bemühen, mit dem zarten Alter Goethes bei
    oder bald nach der Geburt Corneliens unvereinbar.

    Bei der Geburt des ersten Brüderchens Hermann Jakob
    war Joh. Wolfgang dreieinviertel Jahre alt. Ungefáhr zwei
    Jahre später, als er etwa fünf Jahre alt war, wurde ‘die
    zweite Schwester geboren. Beide Altersstufen kommen für die
    Datierung des Geschirrhinauswerfens in Betracht; die erstere
    verdient vielleicht den Vorzug, sic würde auch die bessere
    Übereinstimmung mit dem Falle meines Patienten ergeben,
    der bei der Geburt seines Bruders etwa, dreidreiviertel Jahre
    zählte,

    Der Bruder Hermann Jakob, auf den unser Deutungs-
    versuch in solcher Art hingelenkt wird, war übrigens kein
    so flüchtiger Gast in der Goetheschen Kinderstube wie
    die späteren Geschwister, Man könnte sich verwundern, daß
    die Lebensgeschichte seines großen Bruders nicht ein Wört-
    chen des Gedenkens an ihn bringt. Er wurde über sechs
    Jahre alt und Joh. Wolfgang war nahe an zehn Jahre, als
    er starb. Dr. Ed, Hitschmann, der so freundlich war,
    mir seine Notizen über diesen Stoff zur Verfügung zu stellen,
    meint:

    „Auch der kleine Goethe hat ein Brüderchen
    nicht ungern sterben gesehen. Wenigstens berichtete

  • S.

    XXXI, KINDHEITSERINNERUNG AUS „DICHTUNG U, WAHRHEIT“, 571

    seine Mutter nach Bettina Brentanos Wiedererzählung
    folgendes: ‚Sonderbar fiel es der Mutter auf, daß er bei dem
    Tode seines jüngeren Bruders Jakob, der sein Spielkamerad
    war, keine Träne vergoß, er schien vielmehr eine Art Ärger
    über die Klagen der Eltern und Geschwister zu haben; da
    die Mutter nun später den Trotzigen fragte, ob er den Bru-
    der nicht lieb gehabt habe, lief er in seine Kammer, brachte
    unter dem Bett hervor eine Menge Papiere, die mit Lektionen
    und Geschichtchen beschrieben waren, er sagte ihr, daß er
    dies alles gemacht habe, um es dem Bruder zu lehren,‘ Der
    ältere Bruder hätte also immerhin gern Vater mit dem Jün-
    geren gespielt und ihm seine Überlegenheit gezeigt.“

    Wir könnten uns also die Meinung bilden, das Geschirr-
    hinauswerfen sei eine symbolische, oder sagen wir es richtiger:
    eine magische Handlung, durch welche das Kind (Goethe
    sowie mein Patient) seinen Wunsch nach Beseitigung des stö-
    renden Eindringlings zu kräftigem Ausdruck bringt. Wir brau-
    chen das Vergnügen des Kindes beim Zerschellen der Gegen-
    stände nicht zu bestreiten; wenn eine Handlung bereits an
    sich lustbringend ist, so ist dies keine Abhaltung, sondern
    eher eine Verlockung, sie auch im Dienste anderer Absichten
    zu wiederholen, Aber wir glauben nicht, daß es die Lust am
    Klirren und Brechen war, welche solchen Kinderstreichen einen
    dauernden Platz in der Erinnerung des Erwachsenen sichern
    konnte. Wir stråuben uns auch nicht, die Motivierung der
    Handlung um einen weiteren Beitrag zu komplizieren. Das
    Kind, welches das Geschirr zerschlågt, weiß wohl, daß es etwas
    Schlechtes tut, woriiber die Erwachsenen schelten werden, und
    wenn es sich durch dieses Wissen nicht zuriickhalten läßt,
    so hat es wahrscheinlich einen Groll gegen die Eltern zu be-
    friedigen; es will sich schlimm zeigen.

  • S.

    572 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.

    Der Lust am Zerbrechen und am Zerbrochenen wåre auch
    Geniige getan, wenn das Kind die gebrechlichen Gegenstånde
    einfach auf den Boden wiirfe. Die Hinausbeférderung durch
    das Fenster auf die Straße bliebe dabei ohne Erklärung. Dies
    »Hinaus* scheint aber ein wesentliches Stück der magischen
    Handlung zu sein und dem verborgenen Sinn derselben zu
    entstammen, Das neue Kind soll fortgeschafft werden,
    durchs Fenster moglicherweise darum, weil es durchs Fenster
    gekommen ist, Die ganze Handlung wäre dann gleichwertig
    jener uns bekannt gewordenen wörtlichen Reaktion eines Kin-
    des, als man ihm mitteilte, daß der Storch ein Geschwister-
    chen gebracht. „Er soll es wieder mitnehmen“, lautete sein
    Bescheid.

    Indes, wir verhehlen uns nicht, wie mißlich es — von
    allen inneren Unsicherheiten abgesehen — bleibt, die Deu-
    tung einer Kinderhandlung auf eine einzige Analogie zu be-
    gründen. Ich hatte darum auch meine Auffassung der kleinen
    Szene aus „Dichtung und Wahrheit“ durch Jahre zurück-
    gehalten. Da bekam ich eines Tages einen Patienten, der
    seine Analyse mit folgenden, wortgetreu fixierten Sätzen
    einleitete :

    „Ich bin das älteste von acht oder neun Geschwistern.*)
    Eine meiner ersten Erinnerungen ist, daß der Vater, in Nacht-
    kleidung auf seinem Bette sitzend, mir lachend erzählt, daß
    ich einen Bruder bekommen habe. Ich war damals dreidrei-
    viertel Jahre alt; so groß ist der Altersunterschied zwischen
    mir und, meinem nächsten Bruder. Dann weiß ich, daß ich

    *) Ein flüchtiger Irrtum auffälliger Natur. Es ist nicht abzuweisen,
    daß er bereits durch die Beseitigungstendenz gegen den Bruder induziert
    ist. (Vgl. Ferenczi: Uber passagere Symptombildungen während der
    Analyse, Zentralbl. f. Psychoanalyse. II, 1912.)

  • S.

    XXXI. KINDHEITSERINNERUNG AUS „DICHTUNG U. WAHRHEIT“, 573

    kurze Zeit nachher (oder war es ein Jahr vorher?)*) einmal
    verschiedene Gegenstände, Bürsten, — oder war es nur eine
    Bürste? — Schuhe und anderes aus dem Fenster auf die
    Straße geworfeh habe. Ich habe auch noch eine frühere Er-
    innerung. Als ich zwei Jahre alt war, übernachtete ich mit
    den Eltern in einem Hotelzimmer in Linz auf der Reise ins
    Salzkammergut. Ich war damals so unruhig in der Nacht
    und machte ein solches Geschrei, daß mich der Vater schlagen
    mußte.“ 3

    Vor dieser Aussage ließ ich jeden Zweifel fallen. Wenn
    bei analytischer Einstellung zwei Dinge unmittelbar nach-
    einander, wie in einem Atem vorgebracht werden, so sollen
    wir diese Annäherung auf Zusammenhang umdeuten. Es war
    also so, als ob der Patient gesagt hätte: Weil ich erfahren,
    daB ich einen Bruder bekommen habe, habe ich einige Zeit
    nachher jene Gegenstände auf die Straße geworfen. Das
    Hinauswerfen der Bürsten, Schuhe usw. gibt sich als Reaktion
    auf die Geburt des Bruders zu erkennen, Es ist auch nicht
    unerwünscht, daß die fortgeschafften Gegenstände in diesem
    Falle nicht Geschirr, sondern andere Dinge waren, wahr-
    scheinlich solche, wie sie das Kind eben erreichen konnte. . .
    Das Ilinausbefördern (durchs Fenster auf die Straße) erweist
    sich so als das Wesentliche, der Handlung, die Lust am Zer-
    brechen, am Klirren und die Art der Dinge, an denen „die Exe-
    kution vollzogen wird“, als inkonstant und unwesentlich,

    Natürlich gilt die Forderung des Zusammenhanges auch
    für die dritte Kindheitserinnerung des Patienten, die, obwohl
    die früheste, an das Ende der kleinen Reihe gerückt ist. Es

    *) Dieser den wesentlichen Punkt der Mitteilung als Widerstand
    annagende Zweifel wurde vom Patienten bald nachher selbständig zurück-
    gezogen.

  • S.

    574 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.

    ist leicht, sie zu erfüllen, Wir verstehen, daß das zweijährige -
    Kind darum so unruhig war, weil es das Beisammensein von
    Vater und Mutter im Bette nicht leiden wollte. Auf der Reise
    war es wohl nicht anders möglich, als das Kind zum Zeugen
    dieser Gemeinschaft werden zu lassen. Von den Gefühlen,
    die sich damals in dem kleinen Eifersiichtigen regten, ist ihm
    die Erbitterung gegen das Weib verblieben, und diese hat
    eine dauernde Störung seiner Liebesentwicklung zur Folge
    gehabt,

    Als ich nach diesen beiden Erfahrungen im Kreise der
    psychoanalytischen Gesellschaft die Erwartung äußerte, Vor-
    kommnisse solcher Art dürften bei kleinen Kindern nicht zu
    den Seltenheiten gehören, stellte mir Frau Dr. v. Hug-Hell-
    muth zwei weitere Beobachtungen zur Verfiigung, die ich

    hier folgen lasse: +

    ZUM HINAUSWERFEN VON GEGENSTÄNDEN
    AUS DEM FENSTER DURCH KLEINE KINDER.

    12

    Mit zirka dreieinhalb Jahren hatte der kleine Erich „ur-
    plötzlich" die Gewohnheit angenommen, alles, was ihm nicht
    paßte, zum Fenster hinauszuwerfen. Aber er tat es auch mit
    Gegenständen, die ihm nicht im Wege waren und ihn nichts
    angingen. Gerade am Geburtstag des Vaters — da zählte er
    drei Jahre viereinhalb Monate — warf er eine schwere Teig-
    walze, die er flugs aus der Kiiche ins Zimmer geschleppt hatte,
    aus einem Fenster der im dritten Stockwerk gelegenen Woh-
    nung auf die Straße. Einige Tage später ließ er den Morser-
    860861, dann ein Paar schwerer Bergschuhe des Vaters, die
    er erst aus dem Kasten nehmen mußte, folgen.*)

    *) Immer wählte er schwere Gegenstände.

  • S.

    XXXI, KINDHEITSERINNERUNG AUS „DICHTUNG U. WAHRHEIT“, 575

    Damals machte die Mutter im siebenten oder achten
    Monate ihrer Schwangerschaft eine fausse couche, nach der
    das Kind „wie ausgewechselt brav und zärtlich still“ war.
    Im fiinften oder sechsten Monate sagte er wiederholt zur
    Mutter: „Mutti, ich spring‘ dir auf den Bauch“ oder „Mutti,
    ich drück’ dir den Bauch ein“. Und kurz vor der fausse couche,
    im Oktober: „Wenn ich schon einen Bruder bekommen soll,
    so wenigstens erst nach dem Christkindl.*

    TI.

    Eine junge Dame von neunzehn Jahren gibt spontan als
    früheste Kindheitserinnerung folgende:

    „Ich sehe mich furchtbar ungezogen, zum Hervorkriechen
    bereit, unter dem Tische im Speisezimmer sitzen. Auf dem
    Tische steht meine Kaffeeschale, — ich sehe noch jetzt deut-
    lich das Muster des Porzellans vor mir — die ich in dem
    Augenblick, als Großmama ins Zimmer trat, zum Fenster
    hinauswerfen wollte,

    Es hatte sich nämlich niemand um mich gekümmert,
    und indessen hatte sich auf dem Kaffee eine „Haut“ gebildet,
    was mir immer fürchterlich war und heute noch ist.

    An diesem Tage wurde mein um zweieinhalb Jahre jün-
    gerer Bruder geboren, deshalb hatte niemand Zeit für mich.

    Man erzählt mir noch immer, daß ich an diesem Tage
    unausstehlich war; zu Mittag hatte ich das Lieblingsglas
    des Papas vom Tische geworfen, tagsüber mehrmals mein
    Kleidchen beschmutzt und war von früh bis abends übelster
    Laune. Auch ein Badepüppchen hatte ich in meinem Zorne
    zertrümmert.“

    Diese beiden Fälle bedürfen kaum eines Kommentars. Sie
    bestätigen ohne weitere analytische Bemühung, daß die Er-

  • S.

    576 - SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.

    bitterung des Kindes über das erwartete oder erfolgte Auf-
    treten eines Konkurrenten sich in dem Hinausbefürdern von
    Gegenständen durch das Fenster wie auch durch andere Akte
    von Schlimmheit und Zerstérungssucht zum Ausdruck bringt.
    In der ersten Beobachtung symbolisieren wohl die „schweren
    Gegenstände“ die Mutter selbst, gegen welche sich der Zorn
    des Kindes richtet, solange das neue Kind noch nicht da
    ist. Der dreieinhalbjåhrige Knabe weiB um die Schwanger-
    schaft der Mutter und ist nicht im Zweifel dariiber, daB sie
    das Kind in ihrem Leibe beherbergt. Man muß sich hiebei
    an den „kleinen Hans“ (Jahrb. f. Psychoanalyse, Bd. I, 1909)
    erinnern und an seine besondere Angst vor schwer beladenen
    Wagen.*) An der zweiten Beobachtung ist das frühe Alter
    des Kindes, zweieinhalb Jahre, bemerkenswert,

    Wenn wir nun zur Kindheitserinnerung Goethes zurück-
    kehren und an ihrer Stelle in „Dichtung und Wahrheit“ ein-
    setzen, was wir aus der Beobachtung anderer Kinder erraten
    zu haben glauben, so stellt sich ein tadelloser Zusammenhang
    her, den wir sonst nicht entdeckt hätten, Es heißt dann: Ich
    bin ein Gliickskind gewesen; das Schicksal hat mich am Le-
    ben erhalten, obwohl ich fir tot zur Welt gekommen bin,
    Meinen Bruder aber hat es beseitigt, so daB ich die Liebe der
    Mutter nicht mit ihm zu teilen brauchte. Und dann geht

    %) Für diese Symbolik der Schwangerschaft hat mir vor einiger Zeit
    eine mehr als fiinfzigjåhrige Dame eine weitere Beståtigung erbracht.
    Es war ihr wiederholt erzählt worden, daß sie als kleines Kind, das
    kaum sprechen konnte, den Vater aufgeregt zum Fenster zu ziehen
    pflegte, wenn ein schwerer Måbelwagen auf der Straße vorbeifuhr. Mit
    Rücksicht auf ihre Wohnungserinnerungen läßt sich feststellen, daß sie
    damals jünger war als zweidreiviertel Jahre. Um diese Zeit wurde ihr
    nåchster Bruder geboren und infolge dieses Zuwachses die Wohnung
    gewechselt. Ungefåhr gleichzeitig. hatte sie oft vor dem Einschlafen dio
    ångstliche Empfindung von etwas unheimlich GroBem, das auf sie zu-
    kam, und dabei „wurden ihr die Hinde so dick",

  • S.

    XXXI. KINDHEITSERINNERUNG AUS „DICHTUNG U. WAHRHEIT“. 577

    der Gedankenweg weiter, zu einer anderen in jener Frühzeit
    Verstorbenen, der Großmutter, die wie ein freundlicher, stiller
    Geist in einem anderen Wohnraum hauste.

    . Ich habe es aber schon an anderer Stelle ausgesprochen:
    Wenn man der unbestrittene Liebling der Mutter gewesen
    ist, so behält man fürs Leben jenes Eroberergefiihl, jene Zu-
    versicht des Erfolges, welche nicht selten wirklich den Er-
    folg nach sich zieht. Und eine Bemerkung solcher Art wie:
    Meine Stärke wurzelt in meinem Verhältnis zur Mutter, hätte
    Goethe seiner Lebensgeschichte mit Recht voranstellen
    dürfen,

    Freud, Neurosenlehre. IV.