Einige Bemerkungen über den Begriff des Unbewußten in der Psychoanalyse 1912-006/1922
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    VII.

    EINIGE BEMERKUNGEN ÜBER DEN BEGRIFF DES
    UNBEWUSSTEN IN DER PSYCHOANALYSE.*)

    Ich möchte mit wenigen Worten und so klar als mög—
    lich darlegeu, welcher Sinn dem Ausdruck „Unbewußtes“ in
    der Psychoanalyse und nur in der Psychoanalyse zukommt.

    Eine Vorstellung — oder jedes andere psychische Ele-
    ment — kann jetzt in meinem Bewußtsein gegenwärtig
    sein und im nächsten Augenblick daraus verschwinden;
    sie kann nach einer Zwischenzeit ganz unverändert wiederum
    auftauchen, und zwar, wie wir es ausdrücken, aus der Er—
    innerung, nicht als Folge einer neuen Sinneswahrnehrnung.
    Um dieser Tatsache Rechnung zu tragen, sind wir zu der
    Annahme geriötigt, daß die Vorstellung auch während der
    Zwischenzeit in unserem Geiste gegenwärtig gewesen sei,
    wenn sie auch im Bewußtsein latent blieb. In welcher Ge-
    stellt sie aber existiert haben kann. während sie im Seelen—
    leben gegenwärtig und im Bewußtsein latent war, darüber
    können wir keine Vermutungen aufstellen. '

    An diesem Punkte müssen wir darauf gefa.ßt- sein, dem
    philosophischen Einwurf zu begegnen, daß die latente Vor—
    stellung nicht als Objekt der Psychologie vorhanden ge—

    *) Intern. Zeitschr. für ärztl. Psychoanalyse, I, 1913. Zuerst englisch
    erschienen in „Proceedings of The Society for Psychical Research“, ‚Part.
    I‚XVL Vol. XXVI.

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    158 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.

    wesen sei, sondern nur als physische Disposition für den
    Wiederablauf desselben psychischen Phänomene, nämlich eben
    jener Vorstellung. Aber wir können darauf erwidern, daß
    eine solche Theorie das Gebiet der eigentlichen Psychologie
    weit überschreitet, daß sie das Problem einfach unig€ht, in»
    dem sie daran festhält, daß „bewußt“ und „psychisch“ iden-
    tische Begriffe sind, und daß sie offenbar im Unrecht ist,
    wenn sie der Psychologie das Recht bestreitet, eine ihrer
    gewöhnliehsten Tatsachen, wie das Gedächtnis, durch ihre
    eigenen Hilfsmittel zu erklären. ,

    Wir wollen nun die Vorstellung, die in unserem Bé—
    wußtsein gegenwärtig ist und die wir wahrnehmen, „bewußt“
    nennen und nur dies als Sinn des Ausdruckes „bewußt“ gelten
    lassen; hingegen sollen latente Vorstellungen, wenn wir
    Grund zur Annahme haben, daß sie im Seelenleben enthalten
    sind —— wie es beim Gedächtnis der Fall war — mit dem
    Ausdruck „unbewußt“ gekennzeichnet werden. 7

    Eine unbewnßte Vorstellung ist dann eine solche, die
    wir nicht bemerken, deren Existenz wir aber trotzdem auf
    Grund anderweitiger Anzeichen und Beweise zuzugeben be—
    reit sind.

    Dies könnte als eine recht uninteressante deskriptive
    oder klassifikatorische Arbeit aufgefaßt werden, wenn keine
    andere Erfahrung für unser Urteil in Betracht käme als die
    Tatsachen des Gedächtnisses oder die der Assoziation über
    unbewußte Mittelglieder. Aber das wohlbekannte Experiment
    der „posthypnetischen Suggestion“ lehrt uns an der Wich-
    tigkeit der Unterscheidung zwischerl bewußt und unbe-
    wußt festhalten und scheint ihren Wert zu erhöhen.

    Bei diesem Experiment, wie es Bernheim ausgeführt
    hat, wird eine Person in einem hypnotischen Zustand ver—

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    VII. BEGRIFF DES UNBEWUSSTEN<IN 7)ER PSYCHOANALYSE. 159

    setzt und dann daraus erweckt. Während sie sich in dem
    hypnotischen Zustande, unter dem Einflusse des Arztes be-
    fand, wurde ihr der Auftrag erteilt, eine bestimmte Handlung
    zu einem genau bestimmten Zeitpunkt, z. B. eine halbe Stunde
    später, auszuführen, Nach dem Erwachen ist allem. An—
    scheine nach volles Bewußtsein und die gewöhnliche Geistes-
    verfassung wiederum eingetreten, eine Erinnerung an den
    bypnotisehcn Zustand ist nicht vorhanden, und trotzdem
    drängt sich in dem vorher festgesetzten Augenblick der Im-
    puls, dieses oder jenes zu tun,dem Geiste auf, und die
    Handlung wird mit Bewußtsein, wenn auch ohne zu wissen
    weshalb, ausgeführt. Es dürfte kaum möglich sein, eine an-
    dere Beschreibung des Phänomens zu geben, als mit den
    Worten, daß der Vorsatz im Geiste jener Person in latenter
    Form oder unbewußt vorhanden war, bis der gegebene.
    Moment kam, in dem er dann bewußt geworden ist. Aber
    nicht in seiner Gänze ist er im Bewußtsein aufgetaucht, son-
    dern nur die Vorstellung des auszuführenden Aktes. Alle
    anderen mit dieser Vorstellung assoziierten Ideen — der Auf-
    trag, der Einfluß des Arztes, die Erinnerung an den hypno-
    tischen Zustand, blieben auch dann noch unbewußt.

    Wir können aber aus einem solchen Experiment noch
    mehr lernen. Wir werden von einer rein besohreibenden zu
    einer dynamischen Auffassung des Phänomens hinüber-
    geleitet. 'Die Idee der in der Hypnose aufgetragenen Hand-
    lung wurde in einem bestimmten Augenblick nicht bloß ein
    Objekt des Bewußtseins, sondern sie wurde auch wirksam,
    und dies ist die ,uffallendere Seite des Tatbestandes; sie
    wurde in Handlung übertragen, sobald das Bewußtsein ihre
    Gegenwart bemerkt hatte. Da der wirkliche Antrieb‚zum
    Handeln der Auftrag des Arztes ist, kann man kaum anders

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    160 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.

    als einräumen, daß auch die Idee des Auftrages wirkssz
    geworden ist.

    Dennoch wurde dieser letztere Gedanke nicht ins Be-
    wußtsein aufgenommen, wie es mit seinem Abkömmliug, der
    Idee der Handlung geschah ; er verblieb unbewußt und war
    daher gleichzeitig wirksam und unbewußt.

    Die posthypnotische Suggestion ist ein Produkt des Lil-
    boratoriums, eine künstlich geschaffene Tatsache. Aber wenn
    wir die Theorie der hysterischen Phänomene. die zuerst durch
    P. Janet aufgestellt und von Breuer und mir ausgezw
    beitet wurde, annehmem so stehen uns natürliche Tatsachen
    in Fülle zur Verfügung, die den psychologischen Charakter
    der posthypnotischen Suggestion sogar noch klarer und deut-
    licher zeigen.

    Das Seelerileben des hysterischen Patienten ist erfülll
    mit wirksamen, aber unbewußten Gedanken; von ihnen stam-
    men alle Symptome ab. Es ist in der Tat der auffälligste
    Charakterzug der hysterischen Geistesverfassung, daß sie von
    unbewußten Vorstellungen beherrscht wird. Wenn eine hyste-
    fische Frau erbricht‚ so kann sie dies wohl infolge der Idee
    tun, daß sie schwanger sei. Dennoch hat sie von dieser Idee
    keine Kenntnis, obwohl dieselbe durch eine der technischen
    Prozeduren der Psychoanalyse leicht in ihrem Seelenleben
    entdeckt. und für sie bewußt gemacht werden kann. Wenn
    sie die Zuckungen und Gesten ausführt, die ihren „Anfall“
    ausmachen, so stellt sie sich nicht einmal die von ihr beab-
    sichtigten Aktionen bewußt vor und beobachtet sie vielleicht
    mit den Gefühlen eines unbcteiligten Zuschauers. Nichts—

    ' destoweniger vermag die Analyse nachzuweisen, daß sie ihre

    Rolle in der dramatischen Wiedergabe einer Szene aus ihrem
    Leben spielte, deren Erinnerung während der Attacke unbe-

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    VII. BEGRIFF DES UNBEWUSSTEN IN DER PSYCHOANALYSE. 161

    wußt wirksam war, Dasselbe Verwalten wirksamer unbe-
    wußter Ideen wird durch die Analyse als das Wesentliche
    in der Psychologie aller anderen Formen von Neurosc enthüllt.
    Wir lernen also aus der Analyse neurotischer Ifhi'tnm
    inene, daß ein latenter oder unbewußtor Gedanke nicht not-
    wendigerweise schwach sein muß, und daß die Anwesenheit
    eines solchen Gedankcns im Seolenlcben indirekte Beweise
    der zwingendsten Art gestattet. die dem direkten durch das
    ‘>e\\'ußtsein gelieferten Beweis fast gleichwertig sind. Wir
    fühlen uns gerechtfertigt, unsere Klassifikation mit dieser
    Vermehrung unserer Kenntnisse in Übereinstimmung zu brin—
    gen, indem wir eine grundlegende Unterscheidung zwischen
    verschiedenen Arten von latenth und unbewnßten Gedanken
    einführen. W’ir waren gewohnt zu denken, daß jeder latente
    Gedanke dies infolge seiner Schwäche war, und dal-ß cr bc-
    \\'ußt wurde, sowie er Kraft erhielt. Vl"ir haben nun die Über-
    zeugung gewonnen, daß es gewisse latente Gedanken gibt,
    die nicht ins Bewußtsein eindringen, wie stark sie auch sein,
    mögen. Wir wollen daher die latenten Gedanken der ersten
    Gruppe vorbewnßt nennen, während wir den Ausdruck un»
    bewußt (im eigentlichen Sinne) für die zweite Gruppe reser—
    vieren, die wir bei den Neurosen betrachtet haben. Der Aus-
    druck unbewußt, den wir bisher bloß im beschreibenden
    Sinne beniitzt haben, erhält jetzt eine erweiterte Bedeutung.
    Er bezeichnet nicht bloß latente Gedanken im allgemeinen,
    ' sondern besonders solche mit einem bestimmten dynamischen
    Charakter, nämlich diejenigen, die sich trotz ihrer Intensität‘
    und VVirksa.mkeit dem Bewußtsein ferne halten.
    Ehe ich meine Auseinandersetzungen fortführe, will ich
    auf zwei Einwendungen_Bezug nehmen, die sich voraussicht-
    lich an diesem Punkte erheben. Die erste—kann folgender-

    Freud, Nemoselilehre. IV. 11

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    ]62 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV. .

    maßen formuliert werden: anstatt uns die Hypothese der un-
    bewußten Gedanken, von denen wir nichts Wissen, anzueignen,
    täten wir besser anzunehmen, daß das Bewußtsein geteilt
    werden kann, so daß einzelne Gedanken oder andere Seelen—
    vorgiinge ein gesondertes Bewußtsein bilden können, das von
    der Hauptmasse bewußter psychischer Tätigkeit losgelöst und
    ihr entfremdet wurde. Wohlbekannte pathologische Fälle,
    wie jener des Dr. Azain, scheinen sehr geeignet zu sein zu
    beweisen, daß die Teilung des Bewußtseins keine phan—
    tastische Einbildung ist.

    Ich gestatte mir, dieser Theorie entgegenzuhalten, daß
    sie einfach aus dem Mißbrauch mit dem Worte „bewußt“
    Kapital schlägt. Wir haben kein Recht, den Sinn dieses
    Wortes so weit auszudehnen, daß damit auch ein Bewußtsein
    bezeichnet werden kann, von dem sein Besitzer nichts weiß.
    Wenn Philosophen eine Schwierigkeit dabei finden, an die
    Existenz eines unbewußten Gedankens zu glauben, so scheint
    mir die Existenz eines unbewußten Bewußtseins noch an—
    greifba'rer. Die Fälle, die man als Teilung des Bewußtseins
    beschreibt, wie der des Dr, AZZUH, können besser als Wam-
    dem des: Bewußtseins angesehen werden, wobei diese Funk-
    tion —— oder was immer es sein mag — zwischen zwei ver—
    schiedenen psychischen Kornplexen hin- und herschwzmkt,
    die abwechselnd bewußt und unbewußt werden.

    Der andere Einwand, der voraussichtlich erhoben werden
    wird, wäre der, daß wir auf die Psychologie'der Normalen
    Folgerungen anwenden, die hauptsächlich aus dem Studium
    pathologischer Zustände stammen. Wir können ihn durch
    eine Tatsache erledigen, deren Kenntnis wir der Psychoanalyse
    verdanken. Gewisse Funktionsstörung'en, die sich bei Ge—
    sunden höchst häufig ereignen, z. B. Lapsus linguae‚ Ge—

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    VII. BEGRIFF DES UNBEWUSSTEN IN DER PSYCHOAÜALYSE. 163

    dächtnis- und Sprachirrtümer, Narnenvergessen usw. können
    leicht auf-die Wirksamkeit starker unbewußter Gedanken
    zurückgeführt werden, gerade so wie die neurotisehen Sym-
    ptome. Wir werden mit einem zweiten, noch überzeugencleren
    Argument in einem späteren Abschnitt dieser Erörlei'ung
    zusammentreffen. /

    Durch die Auseinänderhaltung vorbewußter und unbe-
    wußter Gedanken werden wir dazu veranlaßt, das Gebiet der
    Klassifikation zu verlassen und. uns über die funktionalen
    und dynamischen Relationen in der Tätigkeit der Psyche eine
    Meinung zu bilden. Wir fanden ein wirksames Vorbe-
    wußtes, das ohne Schwierigkeit ins Bewußtsein übergeht,
    und ein wirksames Unbewußtes, das unbewußt bleibt
    und vom. Bewußtsein abgeschnitten zu sein scheint.

    Wir Wissen nicht, ob diese zwei Arten psychischer Tätig-
    keit von Anfang an identisch oder ihrem Wesen nach ent—
    gegengesetzt sind. aber wir können uns fragen, warum sie
    im Verlaufe der psychischen Vorgänge verschieden gewarden
    sein sollten. Auf diese Frage gibt uns die Psychoanalyse ohne
    Zögern klare Antwort. Es ist dem Erzeugnis des wirksamen
    Unbewußten keineswegs unmöglich, ins Bewußtsein einzu-
    dringen, aber zu dieser Leistung ist ein gewisser Aufwand
    von Anstrengung notwendig. Wenn wir es an uns selbst war’-
    suchen, erhalten wir das deutliche Gefühl einer Abwehr,
    die bewältigt werden muß, und wenn wir es bei einem Pa.—
    tient-en hervorrufen, so erhalten wir die unzweideutigsten An-
    zeigen von dem, was wir Widerstand dagegen nennen.
    So lernen wir, daß der unbewußte Gedanke vorn Bewußtsein
    durch lebendige Kräfte ausgeschlossen wird, die sich seiner
    Aufnahme entgegenstcll€n, während sie anderen Gedanken,
    den vorhewußten, nichts in den Weg legen. Die Psychoanalyse

    11*

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    ](34 SCHIHFTEN ZUR NEUROSENL HRE. IV.

    läßt keine Möglichkeit übrig‚ daran zu zweifeln, daß die Ab-
    weisung unbewußter Gedanken bloß durch die in ihrem In-
    halt verkörperten Tendenzen hervorgerufen wird. Die nächst—
    liegende und wahrscheinlichste Theorie, die wir in diesem
    Stadium unseres Wissens Bilden können, ist die folgende:
    Das Unbewußte ist eine regelmäßige und unvermeidliehe
    Phase in den Vorgängen, die unsere psychische Tätigkeit be-
    gründen; jeder psychische Akt beginnt als unbewußter und
    kann entweder so bleiben oder sich weiter entwickelnd zum
    Bewußtsein fortschreiten, je nachdem, ob er auf Widerstand
    trifft oder nicht. Die Unterscheidung zwischen vorbewußter
    und unbewußter Tätigkeit ist keine primäre, sondern wird
    erst hergestellt, nachdem die „Abwehr“ ins Spiel getreten
    ist. Erst dann gewinnt der Unterschied zwischen vorbewußten
    Gedanken, die im Bewußtsein erscheinen und jederzeit du-
    hin zurückkehren können, und unbewußten Gedanken, denen
    dies versagt bleibt, theoretischen‘sowie praktischen Wert.
    Eine grobe, aber ziemlich angemessene Analogie dieses suppo—
    nierten Verhältnisses der bewußten Tätigkeit zur unbewußten
    bietet das Gebiet der gewöhnlichen Photographie. Das erste
    Stadium der Photographie ist das Negativ; jedes photogra-
    phische Bild muß den „Negativprozeß“ durchmaehen, und
    einige dieser Negative, die in der Prüfung gut bestanden
    haben, werden zu dem „Positivprozeß“ zugelassen, der mit
    dem Bilde endigt„

    Aber die Unterscheidung zwischen vorbewnßter und un-
    bewußter Tätigkeit und die Erkenntnis der sie trennenden
    Schranke ist weder das letzte noch das bedeutungsvollste
    Resultat der psychoanalytischen Durchforschung des _Seelén-
    lebens. Es gibt ein psychisohes Produkt, das bei den nor-
    malsten Personen anzutreffen ist und doch eine höchst nut“—

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    VII. BEGRIFF DES UNBEWUSSTEN IN DER PSYCHOANALYSE. 165

    fallende Analogie zu den \\‘ildesten Erzeugnissen des Wahn:
    sinnes bietet und den Philosophen nicht verständlicher war als
    der Wahnsinn selbst. Ich meine die Träume. Die Psychoana-
    lyse gründet sich auf die Traumanalyse; die Traumdeutung ist
    das vollständigste Stück Arbeit, das die junge Wissenschaft
    bis heute geleistet hat, Ein typischer Fall der ’l‘raulnbildung
    kann folgendermaßen beschrieben werden: Ein Gedankenzug
    ist durch die geistige Tätigkeit des Tages wachgerufen wor-
    den und hat etwas von seiner W‘i1‘kungsfäihigkeit zurückbe-
    halten, durch die er dem allgemeinen Absinken des Interesses7
    welches den Schlaf herbeiführt und die geistige Vorbereitung
    für das Schlafen bildet, entgangen ist. Während der Nacht
    gelingt es diesem Gedankenzug, die Verbindung zu einem
    der unbewußten WViinsehe zu finden, die von Kindheit an
    im Seelenleben des Tränmers immer gegenwärtig, aber für
    gewöhnlich verdrängt und von seinem bewußten Dasein
    ausgeschlossen'sind. Durch die von dieser unbewußten Un-
    terstützung geliehene Kraft können die Gedanken, die Über-
    bleibsel der Tagesmbeit, nun wiederum wirksam werden Und
    im Bewußtsein in der Gestalt eines Traumes auftauchen. Es
    haben sich also dreierlei Dinge ereignet:-

    l. Die Gedanken haben eine Verwandlung, Verkleidung
    und Entstellung durchgemacht, welche den Anteil des un-
    bewußten Bundesgenossen darstellt.

    2. Den Gedanken ist es gelungen‚ das Bewußtsein ‘zu
    einer Zeit zu besetzen, wo es ihnen nicht zugänglich hätte
    sein sollen. _

    8. Ein Stück des Unbewußtcn, dem dies sonst unmög-
    lich gewesen wäre, ist im Bewußtsein aufgetaucht.

    Wir haben die /Kunst gelernt, die „Tagesreste“ und
    die latenten Traumgedanken herauszufinden; durch

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    166 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.

    ihren Vergleich mit dem nmniiesten Trauminhalt sind
    wir befähigt, uns ein Urteil über die Wandlungen, die sie
    durchgemncht haben, und über die Art und Weise, wie diese
    zu Stande gekommen sind, zu bilden.

    Die latentcn Tra.umgedanken unterscheiden sich in keiner
    Weise von den Erzeugnissen unserer gewöhnlichen bewußten
    Seelentätigkeit. Sie verdienen den Namen von vorbewußten
    Gedanken und können in der Tat in einem Zeitpunkte des
    Wachlebens bewußt gewesen sein. Aber durch die Verbindung
    mit den unbewußten Strebungen7 die sie während der Nacht
    eingegangen sind, wurden sie den letzteren assirniliert, ge-
    wissermaßen auf den Zustand unbewußter Gedanken herab-
    gedrückt und den Gesetzen, durch welche die unbewußte
    Tätigkeit geregelt wird, unterworfen. Hier ergibt sich _die
    Gelegenheit zu lernen, was wir auf Grund von Überlegungen
    oder aus irgend einer anderen Quelle empirischen Wissens
    nicht hätten erraten können, daß die Gesetze der unbewußten
    Seelentätigkeit sich“ im weiten Ausmaß von jenen der be—
    Wußten unterscheiden. Wir gewinnen durch Detailarbeit die
    Kenntnis der Eigentiimlichkciten des Un bewußten und
    können hoffen, daß Wir durch gründlichere Erforschung der
    Vorgänge bei ‚der Traumbildung noch mehr lernen werden.

    Diese Untersuchung ist noch kaum zur Hälfte beendet
    und eine Darlegung der bis jetzt erhaltenen Resultate ist;
    nicht möglich, ohne in die höchst verwickelten Probleme der
    Traumdeutung einzugehen. Aber ich wollte diese Erörterung
    nicht abbrechen, ohne auf die Wandlung und den Fortschritt
    unseres Verständnisses des. Unbewußten hinzuweisen, welche
    wir dem psychoa.nalytischen Studium der Träume verdanken.

    Das Unbewußte schien uns anfangs bloß ein rätsel—
    hafter Charakter eines bestimmten psychischen Vorganges;

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    VII. BEGRIFF DES UNBEWUSSTEN IN DER PSYCHOANALYSE 167

    nun bedeutet es uns mehr, es ist ein Anzeichen dafür, daß
    dieser Vorgang an der Natur einer gewissen psychischen
    Kategorie teilnirmnt, die uns durch andere bedeutsamere
    Charakterzüge bekannt ist, und daß er zu einem System
    psychischer Tätigkeit gehört, das unsere vollste Aufmerk-
    samkeit verdient. Der Wert des Unbewußten als Index hat
    seine Bedeutung als Eigenschaft bei weitem hinter sich ge-
    lassen. Das System, welches sich uns durch das‘Kennzeichen
    kundgibt, daß die einzelnen Vorgänge, die es zusammensetzen,
    unbewußt sind, belegen wir mit dem Namen „das Unbewußte“,
    in Ermangelung eines besseren und weniger zweideutigen
    Ausdruckes. Ich schlage als Bezeichnung dieses Systems die
    Buchstaben „Ubw.“, eine Abkürzung des/Wortes „Unbe-
    Wußt“ vor.

    Dies ist“ der dritte und wichtigste Sinn, den der Aus-
    druck „unbewuß t“ in der Psychoanalyse erworben hat.