S.
VIL
EINIGE BEMERKUNGEN UBER DEN BEGRIFF DES
UNBEWUSSTEN IN DER PSYCHOANALYSE. ®Ich möchte mit wenigen Worten und so klar als môg-
lich darlegen, welcher Sinn dem Ausdruck „UnbewuBtes” in
der Psychoanalyse und nur in der Psychoanalyse zukommt.Eine Vorstellung — oder jedes andere psychische Ele-
ment — kann jetzt in meinem Bewußtsein gegenwärtig
sein und im nächsten Augenblick daraus verschwinden;
sie kann nach einer Zwischenzeit ganz unverändert wiederum
auftauchen, und zwar, wie wir es ausdrücken, aus der Er-
innerung, nicht als Folge einer neuen Sinneswahrnehmung.
Um dieser Tatsache Rechnung zu tragen, sind wir zu der
Annahme genötigt, daß die Vorstellung auch während der
Zwischenzeit in unserem Geiste gegenwärtig gewesen sei,
wenn sie auch im Bewußtsein latent blieb. In welcher Ge-
stalt sie aber existiert haben kann, während sie im Seelen-
leben gegenwärtig und im Bewußtsein latent war, darüber
können wir keine Vermutungen aufstellen,An diesem Punkte müssen wir darauf gefaßt scin, dem
philosophischen Einwurf zu begegnen, daß die latente Vor-
stellung nicht als Objekt der Psychologie vorhanden ge-*) Intern. Zeitschr. für ärztl. Psychoanalyse, I, 1913, Zuerst englisch
erschienen in „Proceedings of The Society for Psychical Research“, Part,
LXVI, Vol. XXVL ⑧S.
158 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.
wesen sei, sondern nur als physische Disposition für den
Wiederablauf desselben psychischen Phänomens, nämlich eben
jener Vorstellung. Aber wir können darauf erwidern, daß
eine solche Theorie das Gebiet der eigentlichen Psychologie
weit überschreitet, daß sie das Problem einfach umgeht, in-
dem sie daran festhält, daß „bewußt“ und „psychisch“ iden-
tische Begriffe sind, und daß sie offenbar im Unrecht ist,
wenn sie der Psychologie das Recht bestreitet, eine ihrer
gewöhnlichsten Tatsachen, wie das Gedächtnis, durch ihre
eigenen Hilfsmittel zu erklären.Wir wollen nun die Vorstellung, die in unserem Be-
wußtsein gegenwärtig ist und die wir wahrnehmen, „bewußt“
nennen und nur dies als Sinn des Ausdruckes „bewußt“ gelten
Tassen; hingegen sollen latente Vorstellungen, wenn wir
Grund zur Annahme haben, daß sie im Seelenleben enthalten
sind — wie es beim Gedächtnis der Fall war — mit dem
Ausdruck „unbewußt“ gekennzeichnet werden,Eine: unbewußte Vorstellung ist dann eine solche, die
wir nicht bemerken, deren Existenz wir aber trotzdem auf
Grund anderweitiger Anzeichen und Beweise zuzugeben be-
reit sind,Dies könnte als eine recht uninteressante deskriptive
oder klassifikatorische Arbeit aufgefaßt werden, wenn keine
andere Erfahrung für unser Urteil in Betracht käme als die
Tatsachen des Gedächtnisses oder die der Assoziation über
unbewußte Mittelglieder. Aber das wohlbekannte Experiment
der „posthypnotischen Suggestion“ lehrt uns an der Wich-
tigkeit der Unterscheidung zwischen bewußt und unbe-
wußt festhalten und scheint ihren Wert zu erhöhen.Bei diesem Experiment, wie es Bernheim ausgeführt
hat, wird eine Person in einem hypnotischen Zustand ver-S.
VII. BEGRIFF DES UNBEWUSSTEN IN DER PSYCHOANALYSE, 159
setzt und dann daraus erweckt. Während sie sich in dem
hypnotischen Zustande, unter dem Einflusse des Arztes be-
fand, wurde ihr der Auftrag erteilt, eine bestimmte Handlung
zu einem genau bestimmten Zeitpunkt, z. B, eine halbe Stunde
später, auszuführen. Nach dem Erwachen ist allem An-
scheine nach volles Bewußtsein und die gewöhnliche Geistes-
verfassung wiederum eingetreten, eine Erinnerung an den
hypnotischen Zustand ist nicht vorhanden, und trotzdem
drängt sich in dem vorher festgesetzten Augenblick der Im-
puls, dieses oder jenes zu tun, dem Geiste auf, und die
Handlung wird mit Bewußtsein, wenn auch ohne zu wissen
weshalb, ausgeführt. Es dürfte kaum möglich sein, eine an-
dere Beschreibung des Phänomens zu geben, als mit den
Worten, daß der Vorsatz im Geiste jener Person in latenter
Form oder unbewußt vorhanden war; bis der gegebene
Moment kam, in dem er dann bewußt geworden ist. Aber
nicht in seiner Gänze ist er im Bewußtsein aufgetaucht, son-
dern nur die Vorstellung des auszuführenden Aktes. Alle
anderen mit dieser Vorstellung assoziierten Ideen — der Auf-trag, der Einfluß des Arztes, die Erinnerung an den hypno-
tischen Zustand, blieben auch dann noch unbewußt.Wir können aber aus einem solchen Experiment noch
mehr lernen. Wir werden von einer rein beschreibenden zu
einer dynamischen Auffassung des Phánomens hinüber-
geleitet. Die Idee der in der Hypnose aufgetragenen Hand-
lung wurde in einem bestimmten Augenblick nicht blof ein
Objekt des BewuBtseins, sondern sie wurde auch wirksam,
und dies ist die auffallendere Seite des Tatbestandes; sie
wurde in Handlung übertragen, sobald das Bewußtsein ihre
Gegenwart bemerkt hatte, Da der wirkliche Antrieb zum
Handeln der Auftrag des Arztes ist, kann man kaum andersS.
160 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE, IV.
als einråumen, daB auch die Idee des Auftrages wirksam
geworden ist. || å Ài Dennoch wurde dieser letztere Gedanke nicht ins Be-
wuftsein aufgenommen, wie es mit seinem Abkómmling, der
Idee der Handlung geschah; er verblieb unbewuBt und war
daher gleichzeitig wirksam und unbewuft.Die posthypnotische Suggestion ist ein Produkt des La-
boratoriums, eine künstlich geschaffene Tatsache. Aber wenn
wir die Theorie der hysterischen Phänomene, die zuerst durch
TP. Janet aufgestellt und von Breuer und mir ausgear-
beitet wurde, annehmen, so stehen uns natürliche Tatsachen
in Fülle zur Verfügung, die den psychologischen Charakter
der posthypnotischen Suggestion sogar noch klarer und deut-
licher zeigen.Das Seelenleben des hysterischen Patienten ist erfüllt
mit wirksamen, aber unbewuBten Gedanken; von ihnen stam-
men alle Symptome ab. Es ist in der Tat der auffülligste
Charakterzug der hysterischen Geistesverfassung, daB sie von
unbewuften Vorstellungen beherrscht wird. Wenn eine hyste-
rische Frau erbricht, so kann sie dies wohl infolge der Idee
tun, daB sie schwanger sei. Dennoch hat sie von dieser Idee
keine Kenntnis, obwohl dieselbe durch eine der technischen
Prozeduren der Psychoanalyse leicht in ihrem Seelenleben
entdeckt und für sie bewußt gemacht werden kann. Wenn
sie die Zuckungen und Gesten ausführt, die ihren „Anfall“
ausmachen, so stellt sie sich nicht einmal die von ihr beab-
sichtigten Aktionen bewuBt vor und beobachtet sie vielleicht
mit den Gefühlen eines unbeteiligten Zuschauers. Nichts-
destoweniger vermag die Analyse nachzuweisen, daß sie ihre
Rolle in der dramatischen Wiedergabe einer Szene aus ihrem
Leben spielte, deren Erinnerung während der Attacke unbe-S.
УП. BEGRIFF DES UNBEWUSSTEN IN DER PSYCHOANALYSE. 161
wuDt wirksam war. Dasselbe Vorwalten wirksamer unbe-
wubter Ideen wird durch die Analyse als das Wesentliche
in der Psychologie aller anderen Formen von Neurose enthüllt.Wir lernen also aus der Analyse neurotischer Phåno-
mene, daß ein latenter oder unbewuBter Gedanke nicht not-
wendigerweise schwach sein mus, und daß die Anwesenheit
eines solchen Gedankens im Seelenleben indirekte Beweise
der zwingendsten Art gestattet, die dem direkten durch das
Bewußtsein gelieferten Beweis fast gleichwertig sind, Wir
fühlen uns gerechtfertigt, unsere Klassifikation mit dieser
Vermehrung unserer Kenntnisse in Übereinstimmung zu brin-
gen, indem wir eine grundlegende Unterscheidung zwischen
verschiedenen Arten von latenten und unbewußten Gedanken
einführen. Wir waren gewohnt zu denken, daß jeder latente
Gedanke dies infolge seiner Schwäche war, und daß er be:
wuBt wurde, sowie er Kraft erhielt, Wir haben nun die Über-
zeugung gewonnen, daß es gewisse latente Gedanken gibt,
die nicht ins Bewußtsein eindringen, wie stark sie auch sein
mógen. Wir wollen daher die latenten Gedanken der ersten
Gruppe vorbewuBt nennen, während wir den Ausdruck un-
bewuft (im eigentlichen Sinne) für die zweite Gruppe reser-
vieren, die wir bei den Neurosen betrachtet haben. Der Aus-
druck unbewuft, den wir bisher bloß im beschreibenden
Sinne benützt haben, erhält jetzt eine erweiterte Bedeutung.
Er bezeichnet nicht blof latente Gedanken im allgemeinen,
sondern besonders solche mit einem bestimmten dynamischen
Charakter, nämlich diejenigen, die sich trotz ihrer Intensität
und Wirksamkeit dem Bewußtsein ferne halten.Ehe ich meine Auseinandersetzungen fortführe, will ich
auf zwei Einwendungen Bezug nehmen, die sich voraussicht-
lich an diesem Punkte erheben. Die erste kann folgender-Freud, Neurosenlehre. IV. 11
S.
162 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.
maBen formuliert werden: anstatt uns die Hypothese der un-
bewuften Gedanken, von denen wir nichts wissen, anzueignen,
täten wir besser anzunehmen, daß das Bewußtsein geteilt
werden kann, so daB einzelne Gedanken oder andere Seelen-
vorgánge ein gesondertes Bewuftsein bilden kónnen, das von
der Hauptmasse bewuBter psychischer Tätigkeit losgelóst und
ihr entfremdet wurde. Wohlbekannte pathologische Fälle,
wie jener des Dr. Azam, scheinen sehr geeignet zu sein zu
beweisen, daß die Teilung des Bewuftseins keine phan-
tastische Einbildung ist. «Ich gestatte mir, dieser Theorie entgegenzuhalten, daß
sie einfach aus dem Mißbrauch mit dem Worte „bewußt“
Kapital schlägt. Wir haben kein Recht, den Sinn dieses
Wortes so weit auszudehnen, daß damit auch ein Bewußtsein
bezeichnet werden kann, von dem sein Besitzer nichts weiß.
Wenn Philosophen eine Schwierigkeit dabei finden, an die
Existenz eines unbewußten Gedankens zu glauben, so scheint
mir die Existenz eines unbewußten Bewuftseins noch an-
greifbarer. Die Fälle, die man als Teilung des BewuBtscins
beschreibt, wie der des Dr. Azam, können besser als Wan-
dern des Bewußtseins angesehen werden, wobei diese Funk-
tion — oder was immer es sein mag — zwischen zwei ver-
schiedenen psychischen Komplexen hin- und herschwankt,
die abwechselnd bewußt und unbewußt werden.Der andere Einwand, der voraussichtlich erhoben werden
wird, wäre der, daß wir auf die Psychologie der Normalen
Folgerungen anwenden, die hauptsächlich aus dem Studium
pathologischer Zustände stammen. Wir können ihn durch
eine Tatsache erledigen, deren Kenntnis wir der Psychoanalyse
verdanken, Gewisse Funktionsstörungen, die sich bei Ge-
surden höchst häufig ereignen, z. B. Lapsus linguae, Ge-S.
VII. BEGRIFF DES UNBEWUSSTEN IN DER PSYCHOANALYSE. 163
dåchtnis- und Sprachirrtümer, Namenvergessen usw. können
leicht auf die Wirksamkeit starker unbewuBter Gedanken
zurückgeführt werden, gerade so wie die neurotischen Sym-
ptome. Wir werden mit einem zweiten, noch iiberzeugenderen
Argument in einem späteren Abschnitt dieser Erörterung
zusammentreffen. į ;Durch die Auseinanderhaltung vorbewubter und unbe-
wuBter Gedanken werden wir dazu veranlaBt, das Gebiet der
Klassifikation zu verlassen und uns über die funktionalen
und dynamischen Relationen in der Tåtigkeit der Psyche eine
Meinung zu bilden. Wir fanden ein wirksames Vorbe-
wuftes, das ohne Schwierigkeit ins Bewußtsein übergeht,
und ein wirksames Unbewuftes, das unbewuft bleibt
und vom Bewußtsein abgeschnitten zu sein scheint.Wir wissen nicht, ob diese zwei Arten psychischer Tåtig-
keit von Anfang an identisch oder ihrem Wesen nach. ent-
gegengesetzt sind, aber wir können uns fragen, warum sie
im Verlaufe der psychischen Vorgånge verschieden geworden
sein sollten. Auf diese Frage gibt uns die Psychoanalyse ohne
Zogern klare Antwort. Es ist dem Erzeugnis des wirksamen
Unbewubten keineswegs unmöglich, ins Bewußtsein einzu-
dringen, aber zu dieser Leistung ist ein gewisser Aufwand
von Anstrengung notwendig. Wenn wir es an uns selbst ver-
suchen, erhalten wir das deutliche Gefiihl einer Abwehr,
die bewåltigt werden muB, und wenn wir es bei einem Pa-
tienten hervorrufen, so erhalten wir die unzweideutigsten An-
zeigen von dem, was wir Widerstand dagegen nennen,
So lernen wir, daß der unbewuBte Gedanke vom Bewußtsein
durch lebendige Kråfte ausgeschlossen wird, die sich seiner
Aufnahme entgegenstellen, wåhrend sie anderen Gedanken,
den vorbewuBten, nichts in den Weg legen, Die Psychoanalyse11.
S.
164 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE, IV.
188% keine Möglichkeit übrig, daran zu zweifeln, daß die Ab-
weisung unbewuDter Gedanken bloß durch die in ihrem In-
halt verkórperten Tendenzen hervorgerufen wird. Die nåchst-
liegende und wahrscheinlichste Theorie, die wir in diesem
Stadium unseres Wissens bilden kónnen, ist die folgende:
Das UnbewuBte ist eine regelmäßige und unvermeidliche
Phase in den Vorgängen, die unsere psychische Tätigkeit be-
gründen; jeder psychische Akt beginnt als unbewuDter und
kann entweder so bleiben oder sich weiter entwickelnd zum
Bewußtsein fortschreiten, je nachdem, ob er auf Widerstand
trifft oder nicht. Die Unterscheidung zwischen vorbewubter
und unbewubter Tätigkeit ist keine primäre, sondern wird
erst hergestellt, nachdem die „Abwehr“ ins Spiel getreten
ist. Erst dann gewinnt der Unterschied zwischen vorbewuBten
Gedanken, die im Bewuftsein erscheinen und jederzeit da-
hin zurückkehren kónnen, und unbewuften Gedanken, denen
dies versagt bleibt, theoretischen sowie praktischen Wert.
Eine grobe, aber ziemlich angemessene Analogie dieses suppo-
nierten Verhältnisses der bewuBten Tätigkeit zur unbewuBten
bietet das Gebiet der gewóhnlichen Photographie. Das erste
Stadium der Photographie ist das Negativ; jedes photogra-
phische Bild muß den ,,NegativprozeB" durchmachen, und
einige dieser Negative, die in der ‘Prüfung gut bestanden
haben, werden zu dem ,,Positivprozef“ zugelassen, der mit
dem Bilde endigt. -Aber die Unterscheidung zwischen vorbewuBter und un-
bewuBter Tätigkeit und die Erkenntnis der sie trennenden
Schranke ist weder das letzte noch das bedeutungsvollste
Resultat der psychoanalytischen Durchforschung des Seelen-
lebens. Es gibt ein psychisches Produkt, das bei den nor-
malsten Personen anzutreffen ist und doch eine héchst auf-S.
VII. BEGRIFF DES UNBEWUSSTEN IN DER PSYCHOANALYSE, 165
fallende Analogie zu den wildesten Erzeugnissen des Wahn-
sinnes bietet und den Philosophen nicht verständlicher war als
der Wahnsinn selbst. Ich meine die Träume. Die Psychoana-
Iyse griindet sich auf die Traumanalyse; die Traumdeutung ist
das vollståndigste Stück Arbeit, das die junge Wissenschaft
bis heute geleistet hat, Ein typischer Fall der Traumbildung
kann folgendermaßen beschrieben werden: Ein Gedankenzug
ist durch die geistige Tåtigkeit des Tages wachgerufen wor-
den und hat etwas von seiner Wirkungsfåhigkeit zurückbe-
halten, durch die er dem allgemeinen Absinken des Interesses,
welches den Schlaf herbeiführt und die geistige Vorbereitung
für das Schlafen bildet, entgangen ist. Während der Nacht
gelingt es diesem Gedankenzug, die Verbindung zu einem
der unbewußten Wünsche zu finden, die von Kindheit an
im Seelenleben des Träumers immer gegenwärtig, aber für
gewöhnlich verdrängt und von seinem bewußten Dasein
ausgeschlossen sind. Durch die von dieser unbewußten Un-
terstützung geliehene Kraft können die Gedanken, die Uber-
bleibsel der Tagesarbeit, nun wiederum wirksam werden und
im Bewußtsein in der Gestalt eines Traumes auftauchen. Es
haben sich also dreierlei Dinge ereignet: ・1. Die Gedanken haben eine Verwandlung, Verkleidung
und Entstellung durchgemacht, welche den Anteil des un-
bewußten Bundesgenossen darstellt. «2. Den Gedanken ist es gelungen, das BewuBtsein zu
einer Zeit zu besetzen, wo es ihnen nicht zugänglich hätte
sein sollen. . i3. Ein Stück des Unbewubten, dem dies sonst unmôg-
lich gewesen wire, ist im Bewußtsein aufgetaucht.Wir haben die Kunst gelernt, die „Tagesreste” und
die latenten Traumgedanken herauszufinden; durchS.
166 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.
ihren Vergleich mit dem manifesten Trauminhalt sind
wir befähigt, uns ein Urteil über die Wandlungen, die sie
durchgemacht haben, und über die Art und Weise, wie diese
zu stande gekommen sind, zu bilden.Die latenten Traumgedanken unterscheiden sich in keiner
Weise von den Erzeugnissen unserer gewöhnlichen bewuBten
Seelentåtigkeit, Sie verdienen den Namen von vorbewußten
Gedanken und können in der Tat in einem Zeitpunkte des
Wachlebens bewußt gewesen sein, Aber durch die Verbindung
mit den unbewuDten Strebungen, die sie während der Nacht
eingegangen sind, wurden sie den letzteren assimiliert, ge-
wissermaBen auf den Zustand unbewufiter Gedanken herab-
gedrückt und den Gesetzen, durch welche die unbewußte
Tätigkeit geregelt wird, unterworfen. Hier ergibt sich die
Gelegenheit zu lernen, was wir auf Grund von Uberlegungen
oder aus irgend einer anderen Quelle empirischen Wissens
nicht hätten erraten können, daß die Gesetze der unbewuBten
Seelentätigkeit sich im weiten Ausmaß von jenen der be-
wußten unterscheiden. Wir gewinnen durch Detailarbeit die
Kenntnis der Eigentümlichkeiten des Unbewußten und
können hoffen, daß wir durch gründlichere Erforschung der
Vorgänge bei der Traumbildung noch mehr lernen werden.Diese Untersuchung ist noch kaum zur Hälfte beendet
und eine Darlegung der bis jetzt erhaltenen‘ Resultate ist
nicht möglich, ohne in die höchst verwickelten Probleme der
Traumdeutung einzugehen, Aber ich wollte diese Erörterung
nicht abbrechen, ohne auf die Wandlung und den Fortschritt
unseres Verständnisses des Unbewußten hinzuweisen, welche
wir dem psychoanalytischen Studium der Träume verdanken.Das Unbewußte schien uns anfangs bloß ein rätsel-
hafter Charakter eines bestimmten psychischen Vorganges;S.
VII. BEGRIFF DES UNBEWUSSTEN IN DER PSYCHOANALYSE, 167
nun bedeutet es uns mehr, es ist ein Anzeichen dafür, daß
dieser Vorgang an der Natur einer gewissen psychischen
Kategorie teilnimmt, die uns durch andere bedeutsamere
Charakterzüge bekannt ist, und daß er zu einem System
psychischer Tätigkeit gehört, das unsere vollste Aufmerk-
samkeit verdient. Der Wert des UnbewuBten als Index hat
scine Bedeutung als Eigenschaft bei weitem hinter sich ge-
lassen. Das System, welches sich uns durch das Kennzeichen
kundgibt, daB die einzelnen Vorgänge, die es zusammensetzen,
unbewuBt sind, belegen wir mit dem Namen „das Unbewufte",
in Ermangelung eines besseren und weniger zweideutigen
Ausdruckes. Ich schlage als Bezeichnung dieses Systems die
Buchstaben ,,Ubw.“, eine Abkürzung des Wortes , Unbe-
wut“ vor,Dies ist der dritte und wichtigste Sinn, den der Aus-
druck ,unbewuBt“ in der Psychoanalyse erworben hat,
sksn4
157
–167