Einige psychische Folgen des anatomischen Geschlechtsunterschieds 1925-004/1931
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    EINIGE PSYCHISCHE FOLGEN
    DES ANATOMISCHEN GESCHLECHTS-
    UNTERSCHIEDS
     

    (1925)
     

    Meine und meiner Schüler Arbeiten vertreten mit stetig
    wachsender Entschiedenheit die Forderung, daß die Analyse
    der Neurotiker auch die erste Kindheitsperiode, die Zeit der
    Frühblüte des Sexuallebens, durchdringen müsse. Nur wenn
    man die ersten Äußerungen der mitgebrachten Triebkonsti-
    tution und die Wirkungen der frühesten Lebenseindrücke er-
    forscht, kann man die Triebkräfte der späteren Neurose richtig
    erkennen und ist gesichert gegen die Irrtümer, zu denen man
    durch die Umbildungen und Überlagerungen der Reifezeit ver-
    lockt würde. Diese Forderung ist nicht nur theoretisch be-
    deutsam, sie hat auch praktische Wichtigkeit, denn sie scheidet
    unsere Bemühungen von der Arbeit solcher Ärzte, die, nur
    therapeutisch orientiert, sich eine Strecke weit analytischer
    Methoden bedienen. Solch eine Frühzeitanalyse ist langwierig,
    mühselig und stellt Ansprüche an Arzt und Patient, deren
    Erfüllung die Praxis nicht immer entgegenkommt. Sie führt
     

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    Einige psychische Folgen
     

    ferner in Dunkelheiten, durch welche uns noch immer die
    Wegweiser fehlen. Ja, ich meine, man darf den Analytikern
    die Versicherung geben, daß ihrer wissenschaftlichen Arbeit die
    Gefahr, mechanisiert und damit uninteressant zu werden, auch
    für die nächsten Jahrzehnte nicht droht.
     

    Im folgenden teile ich ein Ergebnis der analytischen For-
    schung mit, das sehr wichtig wäre, wenn es sich als allgemein
    gültig erweisen ließe. Warum schiebe ich die Veröffentlichung
    nicht auf, bis mir eine reichere Erfahrung diesen Nachweis,
    wenn er zu erbringen ist, geliefert hat? Weil in meinen Arbeits-
    bedingungen eine Veränderung eingetreten ist, deren Folgen
    ich nicht verleugnen kann. Früher einmal gehörte ich nicht zu
    denen, die eine vermeintliche Neuheit nicht eine Weile bei
    sich behalten können, bis sie Bekräftigung oder Berichtigung
    gefunden hat. Die „,Traumdeutung" und das „,Bruchstück einer
    Hysterieanalyse (der Fall Dora) sind, wenn nicht durch neun
    Jahre nach dem Horazischen Rezept, so doch durch vier bis
    fünf Jahre von mir unterdrückt worden, ehe ich sie der Öffent-
    lichkeit preisgab. Aber damals dehnte sich die Zeit unabsehbar
    vor mir aus oceans of time, wie ein liebenswürdiger Dichter
    sagt und das Material strömte mir so reichlich zu, daß ich
    mich der Erfahrungen kaum erwehren konnte. Auch war ich
    der einzige Arbeiter auf einem neuem Gebiet, meine Zurück-
    haltung brachte mir keine Gefahr und anderen keinen mög-
    lichen Schaden.
     

    Das ist nun alles anders geworden. Die Zeit vor mir ist
    begrenzt, sie wird nicht mehr vollständig von der Arbeit
    ausgenützt, die Gelegenheiten, neue Erfahrungen zu machen,
    kommen also nicht so reichlich. Wenn ich etwas Neues zu
    sehen glaube, bleibt es mir unsicher, ob ich die Bestätigung
    abwarten kann. Auch ist alles bereits abgeschöpft, was an der
    Oberfläche dahintrieb; das übrige muß in langsamer Bemühung
    aus der Tiefe geholt werden. Endlich bin ich nicht mehr allein,
     

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    eine Schar von eifrigen Mitarbeitern ist bereit, sich auch das
    Unfertige, unsicher Erkannte zunutze zu machen, ich darf
    ihnen den Anteil der Arbeit überlassen, den ich sonst selbst
    besorgt hätte. So fühle ich mich gerechtfertigt, diesmal etwas
    mitzuteilen, was dringend der Nachprüfung bedarf, ehe es in
    seinem Wert oder Unwert erkannt werden kann.
     

    Wenn wir die ersten psychischen Gestaltungen des Sexual-
    lebens beim Kinde untersuchten, nahmen wir regelmäßig das
    männliche Kind, den kleinen Knaben, zum Objekt. Beim
    kleinen Mädchen, meinten wir, müsse es ähnlich zugehen, aber
    doch in irgendeiner Weise anders. An welcher Stelle des Ent-
    wicklungsganges diese Verschiedenheit zu finden ist, das wollte
    sich nicht klar ergeben.
     

    Die Situation des Ödipuskomplexes ist die erste Station, die
    wir beim Knaben mit Sicherheit erkennen. Sie ist uns leicht
    verständlich, weil in ihr das Kind an demselben Objekt fest-
    hält, das es bereits in der vorhergehenden Säuglings- und
    Pflegeperiode mit seiner noch nicht genitalen Libido besetzt
    hatte. Auch daß es dabei den Vater als störenden Rivalen
    empfindet, den es beseitigen und ersetzen möchte, leitet sich
    glatt aus den realen Verhältnissen ab. Daß die Ödipuseinstel-
    lung des Knaben der phallischen Phase angehört und an der
    Kastrationsangst, also am narziẞtischen Interesse für das Geni-
    tale, zugrunde geht, habe ich an anderer Stelle¹ ausgeführt.
    Eine Erschwerung des Verständnisses ergibt sich aus der Kom-
    plikation, daß der Ödipuskomplex selbst beim Knaben doppel-
    sinnig angelegt ist, aktiv und passiv, der bisexuellen Anlage
    entsprechend. Der Knabe will auch als Liebesobjekt des Vaters
    die Mutter ersetzen, was wir als feminine Einstellung be-
    zeichnen.
     

    An der Vorgeschichte des Ödipuskomplexes beim Knaben
    ist uns noch lange nicht alles klar. Wir kennen aus ihr eine
    1) Der Untergang des Ödipuskomplexes. [Ges. Schriften, Bd. V.]
     

    Freud, Kleine Schriften zur Sexualtheorie
     

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    Identifizierung mit dem Vater zärtlicher Natur, welcher der
    Sinn der Rivalität bei der Mutter noch abgeht. Ein anderes
    Element dieser Vorzeit ist die, wie ich meine, nie ausbleibende
    masturbatorische Betätigung am Genitale, die frühkindliche
    Onanie, deren mehr oder minder gewalttätige Unterdrückung
    von seiten der Pflegepersonen den Kastrationskomplex akti-
    viert. Wir nehmen an, daß diese Onanie am Ödipuskomplex
    hängt und die Abfuhr seiner Sexualerregung bedeutet. Ob
    sie von Anfang an diese Beziehung hat oder nicht viel-
    mehr spontan als Organbetätigung auftritt und erst später den
    Anschluß an den Ödipuskomplex gewinnt, ist unsicher; die
    letztere Möglichkeit ist die weitaus wahrscheinlichere. Fraglich
    ist auch noch die Rolle des Bettnässens und seiner Abge-
    wöhnung durch die Eingriffe der Erziehung. Wir bevorzugen
    die einfache Synthese, das fortgesetzte Bettnässen sei der Er-
    folg der Onanie, seine Unterdrückung werde vom Knaben wie
    eine Hemmung der Genitaltätigkeit, also im Sinne einer Ka-
    strationsdrohung, gewertet, aber ob wir damit jedesmal recht
    haben, steht dahin. Endlich läßt uns die Analyse schattenhaft
    erkennen, wie eine Belauschung des elterlichen Koitus in sehr
    früher Kinderzeit die erste sexuelle Erregung setzen und durch
    ihre nachträglichen Wirkungen der Ausgangspunkt für die
    ganze Sexualentwicklung werden kann. Die Onanie sowie die
    beiden Einstellungen des Ödipuskomplexes knüpfen späterhin
    an den in der Folge gedeuteten Eindruck an. Allein wir können
    nicht annehmen, daß solche Koitusbeobachtungen ein regel-
    mäßiges Vorkommnis sind, und stoßen hier mit dem Problem
    der,,Urphantasien“ zusammen. So vieles ist also auch in der
    Vorgeschichte des Ödipuskomplexes beim Knaben noch un-
    geklärt, harrt der Sichtung und der Entscheidung, ob immer
    der nämliche Hergang anzunehmen ist, oder ob nicht sehr
    verschiedenartige Vorstadien zum Treffpunkt der gleichen
    Endsituation führen.
     

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    Der Ödipuskomplex des kleinen Mädchens birgt ein Pro-
    blem mehr als der des Knaben. Die Mutter war anfänglich
    beiden das erste Objekt, wir haben uns nicht zu verwundern,
    wenn der Knabe es für den Ödipuskomplex beibehält. Aber
    wie kommt das Mädchen dazu, es aufzugeben und dafür den
    Vater zum Objekt zu nehmen? In der Verfolgung dieser
    Frage habe ich einige Feststellungen machen können, die gerade
    auf die Vorgeschichte der Ödipusrelation beim Mädchen Licht
    werfen können.
     

    Jeder Analytiker hat die Frauen kennengelernt, die mit be-
    sonderer Intensität und Zähigkeit an ihre Vaterbindung fest-
    halten und an dem Wunsch, vom Vater ein Kind zu be-
    kommen, in dem diese gipfelt. Man hat guten Grund anzu-
    nehmen, daß diese Wunschphantasie auch die Triebkraft ihrer
    infantilen Onanie war, und gewinnt leicht den Eindruck, hier
    vor einer elementaren, nicht weiter auflösbaren Tatsache des
    kindlichen Sexuallebens zu stehen. Eingehende Analyse gerade
    dieser Fälle zeigt aber etwas anderes, nämlich daß der Ödipus-
    komplex hier eine lange Vorgeschichte hat und eine gewisser-
    maßen sekundäre Bildung ist.
     

    Nach einer Bemerkung des alten Kinderarztes Lindner²
    entdeckt das Kind die lustspendende Genitalzone
     

    - Penis
     

    oder Klitoris während des Wonnesaugens (Lutschens). Ich
    will es dahingestellt sein lassen, ob das Kind diese neu-
    gewonnene Lustquelle wirklich zum Ersatz für die kürzlich
    verlorene Brustwarze der Mutter nimmt, worauf spätere Phan-
    tasien (Fellatio) deuten mögen. Kurz, die Genitalzone wird
    irgendeinmal entdeckt und es scheint unberechtigt, den ersten
    Betätigungen an ihr einen psychischen Inhalt unterzulegen.
    Der nächste Schritt in der so beginnenden phallischen Phase
    ist aber nicht die Verknüpfung dieser Onanie mit den Objekt-
     

    _
     

    2) Siehe: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. [Ges. Schriften,
    Bd. V.]
     

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    besetzungen des Ödipuskomplexes, sondern eine folgenschwere
    Entdeckung, die dem kleinen Mädchen beschieden ist. Es
    bemerkt den auffällig sichtbaren, groß angelegten Penis eines
    Bruders oder Gespielen, erkennt ihn sofort als überlegenes
    Gegenstück seines eigenen, kleinen und versteckten Organs und
    ist von da an dem Penisneid verfallen.
     

    Ein interessanter Gegensatz im Verhalten der beiden Ge-
    schlechter: Im analogen Falle, wenn der kleine Knabe die
    Genitalgegend des Mädchens zuerst erblickt, benimmt er sich
    unschlüssig, zunächst wenig interessiert; er sieht nichts, oder er
    verleugnet seine Wahrnehmung, schwächt sie ab, sucht nach
    Auskünften, um sie mit seiner Erwartung in Einklang zu
    bringen. Erst später, wenn eine Kastrationsdrohung auf ihn
    Einfluß gewonnen hat, wird diese Beobachtung für ihn be-
    deutungsvoll werden; ihre Erinnerung oder Erneuerung regt
    einen fürchterlichen Affektsturm in ihm an und unterwirft ihn
    dem Glauben an die Wirklichkeit der bisher verlachten An-
    drohung. Zwei Reaktionen werden aus diesem Zusammen-
    treffen hervorgehen, die sich fixieren können und dann jede
    einzeln oder beide vereint oder zusammen mit anderen Mo-
    menten sein Verhältnis zum Weib dauernd bestimmen werden:
    Abscheu vor dem verstümmelten Geschöpf oder triumphierende
    Geringschätzung desselben. Aber diese Entwicklungen gehören
    einer, wenn auch nicht weit entfernten Zukunft an.
     

    Anders das kleine Mädchen. Sie ist im Nu fertig mit ihrem
    Urteil und ihrem Entschluß. Sie hat es gesehen, weiß, daß sie
    es nicht hat, und will es haben.³
     

    3) Hier ist der Anlaß, eine Behauptung zu berichtigen, die ich
    vor Jahren aufgestellt habe. Ich meinte, das Sexualinteresse der
    Kinder werde nicht wie das der Heranreifenden durch
    den
    Geschlechtsunterschied geweckt, sondern entzünde sich an dem
    Problem, woher die Kinder kommen. Das trifft also wenigstens
    für das Mädchen gewiß nicht zu. Beim Knaben wird es wohl das
    eine Mal so, das andere Mal anders zugehen können, oder bei
     

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    An dieser Stelle zweigt der sogenannte Männlichkeits-
    komplex des Weibes ab, welcher der vorgezeichneten Ent-
    wicklung zur Weiblichkeit eventuell große Schwierigkeiten
    bereiten wird, wenn es nicht gelingt, ihn bald zu überwinden.
    Die Hoffnung, doch noch einmal einen Penis zu bekommen
    und dadurch dem Manne gleich zu werden, kann sich bis in
    unwahrscheinlich späte Zeiten erhalten und zum Motiv für
    sonderbare, sonst unverständliche Handlungen werden. Oder
    es tritt der Vorgang ein, den ich als Verleugnung be-
    zeichnen möchte, der im kindlichen Seelenleben weder selten
    noch sehr gefährlich zu sein scheint, der aber beim Erwachsenen
    eine Psychose einleiten würde. Das Mädchen verweigert es,
    die Tatsache ihrer Kastration anzunehmen, versteift sich in der
    Überzeugung, daß sie doch einen Penis besitzt, und ist ge-
    zwungen, sich in der Folge so zu benehmen, als ob sie ein
     

    Mann wäre.
     

    Die psychischen Folgen des Penisneides, so weit er nicht in
    der Reaktionsbildung des Männlichkeitskomplexes aufgeht,
    sind vielfältige und weittragende. Mit der Anerkennung seiner
    narziẞtischen Wunde stellt sich gleichsam als Narbe ein
    Minderwertigkeitsgefühl beim Weibe her. Nachdem es den
    ersten Versuch, seinen Penismangel als persönliche Strafe zu
    erklären, überwunden und die Allgemeinheit dieses Geschlechts-
    charakters erfaßt hat, beginnt es, die Geringschätzung des
    Mannes für das in einem entscheidenden Punkt verkürzte
    Geschlecht zu teilen und hält wenigstens in diesem Urteil an
    der eigenen Gleichstellung mit dem Manne fest.
     

    beiden Geschlechtern werden die zufälligen Anlässe des Lebens
    darüber entscheiden.
     

    4) Ich habe schon in meiner ersten kritischen Äußerung „Zur
    Geschichte der psychoanalytischen Bewegung", 1913, erkannt, daß
    dies der Wahrheitskern der Adler schen Lehre ist, die kein Be-
    denken trägt, die ganze Welt aus diesem einen Punkte (Organ-
    minderwertigkeit männlicher Protest - Abrücken von der weib-
     

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    Auch wenn der Penisneid auf sein eigentliches Objekt ver-
    zichtet hat, hört er nicht auf zu existieren, er lebt in der
    Charaktereigenschaft der Eifersucht mit leichter Ver-
    schiebung fort. Gewiß ist die Eifersucht nicht allein einem
    Geschlecht eigen und begründet sich auf einer breiteren Basis,
    aber ich meine, daß sie doch im Seelenleben des Weibes eine
    weitaus größere Rolle spielt, weil sie aus der Quelle des ab-
    gelenkten Penisneides eine ungeheure Verstärkung bezieht.
    Ehe ich noch diese Ableitung der Eifersucht kannte, hatte ich
    für die bei Mädchen so häufige Onaniephantasie,,Ein Kind
    wird geschlagen" eine erste Phase konstruiert, in der sie die
    Bedeutung hat, ein anderes Kind, auf das man als Rivalen
    eifersüchtig ist, soll geschlagen werden. Diese Phantasie scheint
    ein Relikt aus der phallischen Periode der Mädchen; die eigent-
    tümliche Starrheit, die mir an der monotonen Formel: Ein
    Kind wird geschlagen, auffiel, läßt wahrscheinlich noch eine
    besondere Deutung zu. Das Kind, das da geschlagen - gelieb-
    kost wird, mag im Grunde nichts anderes sein, als die Klitoris
    selbst, so daß die Aussage zu allertiefst das Eingeständnis
    der Masturbation enthält, die sich vom Anfang in der phal-
    lischen Phase bis in späte Zeiten an den Inhalt der Formel
    knüpft.
     

    lichen Linie) zu erklären und sich dabei rühmt, die Sexualität
    zugunsten des Machtstrebens ihrer Bedeutung beraubt zu haben!
    Das einzige „minderwertige" Organ, das ohne Zweideutigkeit
    diesen Namen verdient, wäre also die Klitoris. Andrerseits hört
    man, daß Analytiker sich rühmen, trotz jahrzehntelanger Be-
    mühung nichts von der Existenz eines Kastrationskomplexes wahr-
    genommen zu haben. Man muß sich vor der Größe dieser Leistung
    in Bewunderung beugen, wenn es auch nur eine negative Leistung,
    ein Kunststück im Übersehen und Verkennen ist. Die beiden
    Lehren ergeben ein interessantes Gegensatzpaar: Hier keine Spur
    von einem Kastrationskomplex, dort nichts anderes als Folgen
    desselben.
     

    5) Ein Kind wird geschlagen." (In diesem Bande, S. 124 ff.)
     

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    Eine dritte Abfolge des Penisneides scheint die Lockerung
    des zärtlichen Verhältnisses zum Mutterobjekt. Man versteht
    den Zusammenhang nicht sehr gut, überzeugt sich aber, daß
    am Ende fast immer die Mutter für den Penismangel ver-
    antwortlich gemacht wird, die das Kind mit so ungenügender
    Ausrüstung in die Welt geschickt hat. Der historische Her-
    gang
    ist oft der, daß bald nach der Entdeckung der Benach-
    teiligung am Genitale Eifersucht gegen ein anderes Kind auf-
    tritt, das von der Mutter angeblich mehr geliebt wird, wo-
    durch eine Motivierung für die Lösung von der Mutterbindung
    gewonnen ist. Dazu stimmt es dann, wenn dies von der Mutter
    bevorzugte Kind das erste Objekt der in Masturbation aus-
    laufenden Schlagephantasie wird.
     

    Eine andere überraschende Wirkung des Penisneides - oder
    der Entdeckung der Minderwertigkeit der Klitoris
    gewiß die wichtigste von allen. Ich hatte oftmals vorher den
    Eindruck gewonnen, daß das Weib im allgemeinen die
    Masturbation schlechter verträgt als der Mann, sich öfter gegen
    sie sträubt und außerstande ist, sich ihrer zu bedienen, wo
    der Mann unter gleichen Verhältnissen unbedenklich zu diesem
    Auskunftsmittel gegriffen hätte. Es ist begreiflich, daß die
    Erfahrung ungezählte Ausnahmen von diesem Satz aufweisen
    würde, wenn man ihn als Regel aufstellen wollte. Die Re-
    aktionen der menschlichen Individuen beiderlei Geschlechts sind
    ja aus männlichen und weiblichen Zügen gemengt. Aber es
    blieb doch der Anschein übrig, daß der Natur des Weibes die
    Masturbation ferner liege, und man konnte zur Lösung des
    angenommenen Problems die Erwägung heranziehen, daß
    wenigstens die Masturbation an der Klitoris eine männliche
    Betätigung sei, und daß die Entfaltung der Weiblichkeit die
    Wegschaffung der Klitorissexualität zur Bedingung habe. Die
    Analysen der phallischen Vorzeit haben mich nun gelehrt, daß
    beim Mädchen bald nach den Anzeichen des Penisneides eine
     

    ist
     

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    intensive Gegenströmung gegen die Onanie auftritt, die nicht
    allein auf den Einfluß der erziehenden Pflegeperson zurück-
    geführt werden kann. Diese Regung ist offenbar ein Vorbote
    jenes Verdrängungsschubes, der zur Zeit der Pubertät ein
    großes Stück der männlichen Sexualität beseitigen wird, um
    Raum für die Entwicklung der Weiblichkeit zu schaffen. Es
    mag sein, daß diese erste Opposition gegen die autoerotische
    Betätigung ihr Ziel nicht erreicht. So war es auch in den von
    mir analysierten Fällen. Der Konflikt setzte sich dann fort
    und das Mädchen tat damals wie später alles, um sich vom
    Zwang zur Onanie zu befreien. Manche späteren Äußerungen
    des Sexuallebens beim Weibe bleiben unverständlich, wenn
    man dies starke Motiv nicht erkennt.
     

    Ich kann mir diese Auflehnung des kleinen Mädchens gegen
    die phallische Onanie nicht anders als durch die Annahme
    erklären, daß ihm diese lustbringende Betätigung durch ein
    nebenher gehendes Moment arg verleidet wird. Dieses Moment
    brauchte man dann nicht weit weg zu suchen; es müßte die
    mit dem Penisneid verknüpfte narzißtische Kränkung sein,
    die Mahnung, daß man es in diesem Punkte doch nicht mit
    dem Knaben aufnehmen kann und darum die Konkurrenz
    mit ihm am besten unterläßt. In solcher Weise drängt die
    Erkenntnis des anatomischen Geschlechtsunterschieds das kleine
    Mädchen von der Männlichkeit und von der männlichen
    Onanie weg in neue Bahnen, die zur Entfaltung der Weiblich-
    keit führen.
     

    Vom Ödipuskomplex war bisher nicht die Rede, er hatte
    auch soweit keine Rolle gespielt. Nun aber gleitet die Libido
    des Mädchens man kann nur sagen: längs der vorgezeich-
    neten symbolischen Gleichung Penis = Kind - in eine neue
    Position. Es gibt den Wunsch nach dem Penis auf, um den
    Wunsch nach einem Kinde an die Stelle zu setzen, und nimmt
    in dieser Absicht den Vater zum Liebesobjekt. Die
     

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    Mutter wird zum Objekt der Eifersucht, aus dem Mädchen ist
    ein kleines Weib geworden. Wenn ich einer vereinzelten ana-
    lytischen Erhebung glauben darf, kann es in dieser neuen
    Situation zu körperlichen Sensationen kommen, die als vor-
    zeitiges Erwachen des weiblichen Genitalapparats zu beurteilen
    sind. Wenn diese Vaterbindung später als verunglückt auf-
    gegeben werden muß, kann sie einer Vateridentifizierung
    weichen, mit der das Mädchen zum Männlichkeitskomplex
    zurückkehrt und sich eventuell an ihm fixiert.
     

    Ich habe nun das Wesentliche gesagt, das ich zu sagen
    hatte, und mache halt, um das Ergebnis zu überblicken. Wir
    haben Einsicht in die Vorgeschichte des Ödipuskomplexes beim
    Mädchen bekommen. Das Entsprechende beim Knaben ist
    ziemlich unbekannt. Beim Mädchen ist der Ödipuskomplex
    eine sekundäre Bildung. Die Auswirkungen des Kastrations-
    komplexes gehen ihm vorher und bereiten ihn vor. Für das
    Verhältnis zwischen Ödipus- und Kastrationskomplex stellt
    sich ein fundamentaler Gegensatz der beiden Geschlechter her.
    Während der Ödipuskomplex des Knaben
    am Kastrationskomplex zugrunde geht,
    wird der des Mädchens durch den Kastra-
    tionskomplex ermöglicht und eingeleitet.
    Dieser Widerspruch erhält seine Aufklärung, wenn man er-
    wägt, daß der Kastrationskomplex dabei immer im Sinne
    seines Inhaltes wirkt, hemmend und einschränkend für die
    Männlichkeit, befördernd auf die Weiblichkeit. Die Differenz
    in diesem Stück der Sexualentwicklung beim Mann und Weib
    ist eine begreifliche Folge der anatomischen Verschiedenheit
    der Genitalien und der damit verknüpften psychischen Situa-
    tion, sie entspricht dem Unterschied von vollzogener und
    bloß angedrohter Kastration. Unser Ergebnis ist also im
     

    6) Siehe: Der Untergang des Ödipuskomplexes. [Ges. Schriften,
    Bd. V.]
     

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    Grunde eine Selbstverständlichkeit, die man hätte vorhersehen
    können.
     

    Indes, der Ödipuskomplex ist etwas so Bedeutsames, daß
    es auch nicht folgenlos bleiben kann, auf welche Weise man
    in ihn hineingeraten und von ihm losgekommen ist. Beim
    Knaben - so habe ich in der letzterwähnten Publikation
    ausgeführt, an die ich hier überhaupt anknüpfe wird der
    Komplex nicht einfach verdrängt, er zerschellt förmlich unter
    dem Schock der Kastrationsdrohung. Seine libidinösen Be-
    setzungen werden aufgegeben, desexualisiert und zum Teil
    sublimiert, seine Objekte dem Ich einverleibt, wo sie den Kern
    des Über-Ichs bilden und dieser Neuformation charakteristische
    Eigenschaften verleihen. Im normalen, besser gesagt: im
    idealen Falle besteht dann auch im Unbewußten kein Ödipus-
    komplex mehr, das Über-Ich ist sein Erbe geworden. Da der
    Penis im Sinne Ferenczis - seine außerordentlich
    hohe narziẞtische Besetzung seiner organischen Bedeutung für
    die Fortsetzung der Art verdankt, kann man die Katastrophe
    des Ödipuskomplexes -die Abwendung vom Inzest, die Ein-
    setzung von Gewissen und Moral als einen Sieg der Genera-
    tion über das Individuum auffassen. Ein interessanter Gesichts-
    punkt, wenn man erwägt, daß die Neurose auf einem Sträuben
    des Ichs gegen den Anspruch der Sexualfunktion beruht. Aber
    das Verlassen des Standpunktes der individuellen Psychologie
    führt zunächst nicht zur Klärung der verschlungenen Be-
    ziehungen.
     

    Beim Mädchen entfällt das Motiv für die Zertrümmerung
    des Ödipuskomplexes. Die Kastration hat ihre Wirkung bereits
    früher getan und diese bestand darin, das Kind in die Situation
    des Ödipuskomplexes zu drängen. Dieser entgeht darum dem
    Schicksal, das ihm beim Knaben bereitet wird, er kann langsam
    verlassen, durch Verdrängung erledigt werden, seine Wirkungen
    weit in das für das Weib normale Seelenleben verschieben.
     

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    Man zögert es auszusprechen, kann sich aber doch der Idee
    nicht erwehren, daß das Niveau des sittlich Normalen für das
    Weib ein anderes wird. Das Über-Ich wird niemals so un-
    erbittlich, so unpersönlich, so unabhängig von seinen affektiven
    Ursprüngen, wie wir es vom Manne fordern. Charakterzüge,
    die die Kritik seit jeher dem Weibe vorgehalten hat, daß es
    weniger Rechtsgefühl zeigt als der Mann, weniger Neigung
    zur Unterwerfung unter die großen Notwendigkeiten des
    Lebens, sich öfter in seinen Entscheidungen von zärtlichen und
    feindseligen Gefühlen leiten läßt, fänden in der oben abge-
    leiteten Modifikation der Über-Ichbildung eine ausreichende
    Begründung. Durch den Widerspruch der Feministen, die uns
    eine völlige Gleichstellung und Gleichschätzung der Ge-
    schlechter aufdrängen wollen, wird man sich in solchen Urteilen
    nicht beirren lassen, wohl aber bereitwillig zugestehen, daß auch
    die Mehrzahl der Männer weit hinter dem männlichen Ideal
    zurückbleibt, und daß alle menschlichen Individuen infolge
    ihrer bisexuellen Anlage und der gekreuzten Vererbung männ-
    liche und weibliche Charaktere in sich vereinigen, so daß die
    reine Männlichkeit und Weiblichkeit theoretische Konstruk-
    tionen bleiben mit ungesichertem Inhalt.
     

    Ich bin geneigt, den hier vorgebrachten Ausführungen über
    die psychischen Folgen des anatomischen Geschlechtsunterschieds
    Wert beizulegen, aber ich weiß, daß diese Schätzung nur auf-
    rechtzuhalten ist, wenn sich die an einer Handvoll Fällen
    gemachten Funde allgemein bestätigen und als typisch heraus-
    stellen. Sonst bliebe es eben ein Beitrag zur Kenntnis der
    mannigfaltigen Wege in der Entwicklung des Sexuallebens.
     

    In den schätzenswerten und inhaltreichen Arbeiten über den
    Männlichkeits- und Kastrationskomplex des Weibes von
    Abraham (Äußerungsformen des weiblichen Kastrations-
    komplexes, Int. Zschr. f. PsA., Bd. VII), Horney (Zur Ge-
    nese des weiblichen Kastrationskomplexes, ebendort, Bd. IX),
     

  • S.

    Fetischismus
     

    220
     

    Helene Deutsch (Psychoanalyse der weiblichen Sexualfunk-
    tionen, Neue Arb. z. ärztl. PsA., Nr. V) findet sich vieles, was
    nahe an meine Darstellung rührt, nichts, was sich ganz mit
    ihr deckt, so daß ich diese Veröffentlichung auch in dieser
    Hinsicht rechtfertigen möchte.
     

    FETISCHISMUS
     

    (1927)
     

    In den letzten Jahren hatte ich Gelegenheit, eine Anzahl von
    Männern, deren Objektwahl von einem Fetisch beherrscht war,
    analytisch zu studieren. Man braucht nicht zu erwarten, daß
    diese Personen des Fetisch wegen die Analyse aufgesucht hatten,
    denn der Fetisch wird wohl von seinen Anhängern als eine
    Abnormität erkannt, aber nur selten als ein Leidenssymptom
    empfunden; meist sind sie mit ihm recht zufrieden oder loben
    sogar die Erleichterungen, die er ihrem Liebesleben bietet. Der
    Fetisch spielte also in der Regel die Rolle eines Nebenbefundes.
     

    Die Einzelheiten dieser Fälle entziehen sich aus nahe-
    liegenden Gründen der Veröffentlichung. Ich kann darum auch
    nicht zeigen, in welcher Weise zufällige Umstände zur Aus-
    wahl des Fetisch beigetragen haben. Am merkwürdigsten er-
    schien ein Fall, in dem ein junger Mann einen gewissen „Glanz
    auf der Nase" zur fetischistischen Bedingung erhoben hatte.
    Das fand seine überraschende Aufklärung durch die Tatsache,
    daß der Patient eine englische Kinderstube gehabt hatte, dann
    aber nach Deutschland gekommen war, wo er seine Mutter-
    sprache fast vollkommen vergaß. Der aus den ersten Kinder-
    zeiten stammende Fetisch war nicht deutsch, sondern englisch
    zu lesen, der „,Glanz auf der Nase" war eigentlich ein,,Blick
    auf die Nase" (glance Blick), die Nase war also der Fetisch,
    dem er übrigens nach seinem Belieben jenes besondere Glanz-
    licht verlieh, das andere nicht wahrnehmen konnten.
     

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