Einleitung zu ›Zur Psychoanalyse der Kriegsneurosen‹ 1919-061/1928
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    EINLEITUNG

    zu ZUR PSYCHOANALYSE DER KRIEGSNEUROSEN.
    Diskussion auf dem V. Internationalen Psychoanalytischen Kongreß in
    Budapest, 28. und 29. September 1918. Beiträge von Freud, Ferenczi,
    Abraham, Simmel, Jones (Internationale Psychoanalytische Bibliothek Nr. I).
    Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Leipzig und Wien 1919.

    Das Büchlein über die Kriegsneurosen, mit dem der Verlag die „Inter-
    nationale Psychoanalytische Bibliothek“ eröffnet, behandelt ein Thema,
    welches bis vor kurzem den Vorzug der höchsten Aktualität genoß. Als
    dasselbe auf dem V. Psychoanalytischen Kongreß zu Budapest (September
    1918) zur Diskussion gestellt wurde, fanden sich offizielle Vertreter von
    den leitenden Stellen der Mittelmächte ein, um von den Vorträgen und
    Verhandlungen Kenntnis zu nehmen, und das hoffnungsvolle Ergebnis dieses
    ersten Zusammentreffens war die Zusage, psychoanalytische Stationen zu
    errichten, in denen analytisch geschulte Ärzte Mittel und Muße finden
    sollten, um die Natur dieser rätselvollen Erkrankungen und ihre therapeu-
    tische Beeinflussung durch Psychoanalyse zu studieren. Ehe noch diese Vor-
    sätze ausgeführt werden konnten, kam das Kriegsende; die staatlichen
    Organisationen brachen zusammen, das Interesse für die Kriegsneurosen
    räumte anderen Sorgen den Platz; bezeichnenderweise verschwanden aber
    auch mit dem Aufhören der Bedingungen des Krieges die meisten der durch
    den Krieg hervorgerufenen neurotischen Erkrankungen. Die Gelegenheit zu
    einer gründlichen Erforschung dieser Affektionen war nun leider versäumt.
    Man muß hinzugefügen: sie wird hoffentlich nicht so bald wiederkommen.

    Diese nun abgeschlossene Episode ist aber für die Verbreitung der Psycho-
    analyse nicht bedeutungslos gewesen. Während der Beschäftigung mit den
    Kriegsneurosen, die ihnen durch die Anforderungen des Heeresdienstes auf-

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    erlegt wurde, sind auch solche Ärzte psychoanalytischen Lehren näher ge-
    kommen, die sich bisher von ihnen ferngehalten hatten. Aus dem Referat
    von Ferenczi kann der Leser entnehmen, unter welchen Zögerungen und
    Verhüllungen sich diese Annäherung vollzogen hat. Einige der Momente,
    welche die Psychoanalyse bei den Neurosen der Friedenszeit längst erkannt
    und beschrieben hatte, die psychogene Herkunft der Symptome, die Be-
    deutung der unbewußten Triebregungen, die Rolle des primären Krank-
    heitsgewinnes bei der Erledigung seelischer Konflikte („Flucht in die Krank-
    heit“), wurden so auch bei den Kriegsneurosen festgestellt und fast allgemein
    angenommen. Die Arbeiten von E. Simmel zeigten auch, welcher Erfolg
    zu erzielen ist, wenn man die Kriegsneurotiker mit Hilfe der kathartischen
    Technik behandelt, die bekanntlich die Vorstufe der psychoanalytischen
    Technik gewesen ist.

    Der so begonnenen Annäherung an die Psychoanalyse braucht man aber
    den Wert einer Versöhnung oder Abgleichung des Gegensatzes zu ihr nicht
    zuzugestehen. Wenn jemand, der bisher von einer Summe miteinander zu-
    sammenhängender Behauptungen nichts gehalten hat, plötzlich in die Lage
    kommt, sich von der Richtigkeit eines Anteiles dieses Ganzen zu über-
    zeugen, so sollte man meinen, er würde jetzt überhaupt in seiner Ab-
    lehnung schwankend werden und eine gewisse respektvolle Erwartung zu
    lassen, daß auch der andere Teil, über den er noch keine eigene Erfahrung
    und demnach kein eigenes Urteil besitzt, sich als richtig herausstellen könne.

    Dieser andere, vom Studium der Kriegsneurosen nicht berührte Anteil
    der psychoanalytischen Lehre geht dahin, daß es sexuelle Triebeaften sind,
    welche sich in der Symptombildung zum Ausdruck bringen, und daß die
    Neurose aus dem Konflikt zwischen dem Ich und den von ihm verstoßenen
    Sexualtrieben hervorgeht. „Sexualität“ ist dabei in dem erweiterten, in der
    Psychoanalyse gebräuchlichen Sinne zu verstehen, und nicht mit dem
    engeren Begriff der „Genitalität“ zu verwechseln. Es ist nun ganz richtig,
    wie es E. Jones in seinem Beitrag darlegt, daß dieser Teil der Theorie an
    den Kriegsneurosen bisher nicht erwiesen ist. Die Arbeiten, die das erweisen
    könnten, sind noch nicht angestellt worden. Vielleicht sind die Kriegs-
    neurosen ein für diesen Nachweis überhaupt ungeeignetes Material. Aber
    die Gegner der Psychoanalyse, bei denen sich die Abneigung gegen die
    Sexualität stärker gezeigt hat als die Logik, haben sich zu verkünden geeilt,
    daß die Untersuchung der Kriegsneurosen dieses Stück der psychoanalytischen
    Theorie endgültig widerlegt habe. Sie haben sich dabei einer kleineren Ver-
    täuschung schuldig gemacht. Wenn die – noch sehr wenig eingehende –

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    Untersuchung der Kriegsneurosen nicht erkennen läßt, daß die Sexual-
    theorie der Neurosen richtig ist, so ist das etwas ganz anderes, als wenn
    sie erkennen ließe, daß diese Theorie nicht richtig ist.

    Bei unparteiischer Einstellung und einigem guten Willen fiele es nicht
    schwer, den Weg zu finden, der zur weiteren Klärung führt.

    Die Kriegsneurosen sind, soweit sie sich durch besondere Eigenheiten
    von den banalen Neurosen der Friedenszeit unterscheiden, aufzufassen als
    traumatische Neurosen, die durch einen Ichkonflikt ermöglicht oder be-
    günstigt worden sind. Gute Hinweise auf diesen Ichkonflikt bringt der
    Beitrag von Abraham; auch die englischen und amerikanischen Autoren,
    die Jones zitiert, haben ihn erkannt. Er spielt sich zwischen dem alten
    friedlichen und dem neuen kriegerischen Ich des Soldaten ab und wird
    akut, sobald dem Frieden-Ich vor Augen gerückt wird, wie sehr es Gefahr
    läuft, durch die Wagnisse seines neugebildeten parasitiischen Doppelgängers
    ums Leben gebracht zu werden. Man kann ebensowohl sagen, das alte Ich
    schütze sich durch die Flucht in die traumatische Neurose gegen die Lebens-
    gefahr, wie es erwehre sich des neuen Ichs, das es als bedrohlich für sein
    Leben erkennt. Das Volksheer wäre also die Bedingung, der Nährboden der
    Kriegsneurosen; bei Berufssoldaten, in einer Söldnerschar, wäre ihnen die
    Möglichkeit des Auftretens entzogen.

    Das andere an den Kriegsneurosen ist die traumatische Neurose, die be-
    kanntlich auch im Frieden nach Schreck und schweren Unfällen vorkommt,
    ohne jede Beziehung zu einem Konflikt im Ich.

    Die Lehre von der sexuellen Ätiologie der Neurosen, oder wie wir lieber
    sagen: die Libidotheorie der Neurosen ist ursprünglich nur für die Über-
    tragsungsneurosen des friedlichen Lebens aufgestellt worden und bei ihnen
    durch Anwendung der analytischen Technik leicht zu erweisen. Aber ihre
    Anwendung auf jene anderen Affektionen, die wir später als die Gruppe der
    narzißtischen Neurosen zusammengefaßt haben, stößt bereits auf Schwierig-
    keiten. Eine gewöhnliche Dementia praecox, eine Paranoia, eine Melan-
    cholie sind zum Erweis der Libidotheorie und zur Einführung in ihr Ver-
    ständnis im Grunde recht ungeeignetes Material, weshalb auch die Psychiater,
    welche die Übertragungsneurosen vernachlässigen, sich mit ihr nicht be-
    freunden können. Als die in dieser Hinsicht refraktärste galt immer die
    traumatische Neurose (der Friedenszeit), so daß das Auftauchen der Kriegs-
    neurosen kein neues Moment in die vorliegende Situation eintragen konnte.

    Erst durch die Aufstellung und Handhabung des Begriffes einer „narziß-
    tischen Libido“, d. h. eines Maßes von sexueller Energie, welches am Ich

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    selbst hängt und sich an diesem ersättigt, wie sonst nur am Objekt, ist es
    gelungen, die Libidotheorie auf die narzißtischen Neurosen auszudeh-
    nen, und diese durchaus legitime Fortentwicklung des Begriffes der Sexuali-
    tät verspricht für diese schwereren Neurosen und für die Psychosen all das
    zu leisten, was man von einer sich empirisch vorwärtsstastenden Theorie
    erwarten kann. Auch die traumatische Neurose (des Friedens) wird sich in
    diesem Zusammenhang einfügen, wenn erst die Untersuchungen über die
    unzweifelhaft bestehenden Beziehungen zwischen Schreck, Angst und narziß-
    tischer Libido zu einem Ergebnis gelangt sind.

    Wenn die traumatischen und die Kriegsneurosen überlaut vom Einfluß
    der Lebensgefahr reden und gar nicht oder nicht deutlich genug von dem
    der „Liebesversagung“ so enfällt dafür bei den gewöhnlichen Übertragungs-
    neurosen der Friedenszeit jeder ätiologische Anspruch der ersteren, dort so
    mächtig auftretenden Moments. Meint man doch sogar, daß diese letzteren
    Leiden durch Verwöhnung, Wohlleben und Untätigkeit nur gefördert werden,
    was wiederum einen interessanten Gegensatz zu den Lebensbedingungen
    ergibt, unter denen die Kriegsneurosen ausbrechen. Nach dem Vorbild ihrer
    Gegner hätten die Psychoanalytiker, die ihre Patienten an der „Liebes-
    versagung“, an den unbefriedigten Ansprüchen der Libido erkrankt finden,
    behaupten müssen, daß es keine Gefahrneurose geben könne, oder daß die
    nach Schreck auftretenden Affektionen keine Neurosen sind. Dies ist ihnen
    natürlich niemals eingefallen. Vielmehr sehen sie eine bequeme Möglichkeit,
    die beiden scheinbar auseinanderstrebenden Tatsachen in einer Auffassung
    zu vereinigen. In den traumatischen und Kriegsneurosen wehrt sich das
    Ich des Menschen gegen eine Gefahr, die ihm von außen droht, oder die
    ihm durch eine Ichgestaltung selbst verkörpert wird; bei den friedlichen
    Übertragungsneurosen wertet das Ich seine Libido selbst als den Feind,
    dessen Ansprüche ihm bedrohlich scheinen. Beide Male furcht des Ichs vor
    seiner Schädigung: hier durch die Libido, dort durch die äußeren Gewalten.
    Ja man könnte sagen, bei den Kriegsneurosen sei das Gefürchtete, zum
    Unterschied von der reinen traumatischen Neurose und in Annäherung an
    die Übertragungsneurosen, doch ein innerer Feind. Die theoretischen
    Schwierigkeiten, die einer solchen einigenden Auffassung im Wege stehen,
    scheinen nicht unüberwindlich; man kann doch die Verdrängung, die jeder
    Neurose zugrunde liegt, mit Fug und Recht als Reaktion auf ein Trauma,
    als elementare traumatische Neurose bezeichnen.