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Kurze Mitteilungen
III
ERFAHRUNGEN UND BEISPIELE AUS DER
ANALYTISCHEN PRAXISErschien 1913 im I. Band der „Internatio-
nalen Zeitschrift für Psychoanalyse“.Die Sammlung kleiner Beiträge, von welcher wir hier ein erstes Stück
bringen,¹ bedarf einiger einführender Worte: Die Krankheitsfälle, an denen
der Psychoanalytiker seine Beobachtungen macht, sind für die Bereicherung
¹ [Die meisten der in der genannten Sammlung veröffentlichten Beiträge des Verfassers sind
dann in spätere Buchpublikationen einverleibt worden, es entfällt daher hier ihre Wiedergabe.]S.
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Vermischte Schriften
seiner Kenntnis natürlich ungleichwertig. Es gibt solche, bei denen er alles
in Verwendung bringen muß, was er weiß, und nichts Neues lernt; andere,
welche ihm das bereits Bekannte in besonders deutlicher Ausprägung und
schärferer Isolierung zeigen, so daß er diesen Kranken nicht nur Bestätigung,
sondern auch Erweiterungen seines Wissens verdankt. Man ist berechtigt zu
vermuten, daß die psychischen Vorgänge, die man studieren will, bei den
Fällen der ersteren Art keine anderen sind als bei denen der letzteren, aber
man wird sie am liebsten an solchen günstigen und durchsichtigen Fällen
beschreiben. Die Entwicklungsgeschichte nimmt ja auch an, daß die Furchung
des tierischen Eis sich bei den pigmentstarken und für die Untersuchung
ungünstigen Objekten nicht anders vollziehe als bei den durchsichtigen
pigmentarmen, welche sie für ihre Untersuchungen auswählt.
Die zahlreichen schönen Beispiele, welche dem Analytiker in der täglichen
Arbeit das ihm Bekannte bestätigen, gehen aber zumeist verloren, da deren
Einreihung in einen Zusammenhang oft lange Zeit aufgeschoben werden muß.
Es hat darum einen gewissen Wert, wenn man eine Form angibt, wie solche
Erfahrungen und Beispiele veröffentlicht und der allgemeinen Kenntnis zu-
geführt werden können, ohne eine Bearbeitung von übergeordneten Gesichts-
punkten her abzuwarten.Die hier eingeführte Rubrik will den Raum für eine Unterbringung
dieses Materials zur Verfügung stellen. Äußerste Knappheit der Darstellung
erscheint geboten; die Aneinanderreihung der Beispiele ist eine ganz zwanglose.Verschämte Füße (Schuhe)
Die Patientin berichtet nach mehreren Tagen Widerstand, sie habe sich
so sehr gekränkt, daß ein junger Mann, den sie regelmäßig in der Nähe der
Wohnung des Arztes begegne, und der sie sonst bewundernd anzuschauen
pflegte, das letztemal verächtlich auf ihre Füße geblickt habe. Sie hat sonst
wahrlich keine Ursache, sich ihrer Füße zu schämen. Die Lösung bringt
sie selbst, nachdem sie gestanden hat, daß sie den jungen Mann für den
Sohn des Arztes halte, der also zufolge der Übertragung ihren (älteren)
Bruder vertritt. Nun folgt die Erinnerung, daß sie im Alter von etwa fünf
Jahren ihren Bruder auf das Klosett zu begleiten pflegte, wo sie ihm urinieren
zusah. Von Neid ergriffen, daß sie es nicht so könne wie er, versuchte sie
eines Tages es ihm gleichzutun (Penisneid), benetzte aber dabei ihre Schuhe
und ärgerte sich sehr, als der Bruder sie darüber neckte. Der Ärger wieder-
holte sich lange Zeit, so oft der Bruder in der Absicht, sie an jenes Miß-S.
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Kurze Mitteilungen
glücken zu erinnern, verächtlich auf ihre Schuhe blickte. Diese Erfahrung,
fügt sie hinzu, habe ihr späteres Verhalten in der Schule bestimmt. Wenn
ihr etwas nicht beim ersten Versuch gelingen wollte, brachte sie nie den
Entschluß zustande, es von neuem zu versuchen, so daß sie in vielen
Gegenständen völlig versagte. — Ein gutes Beispiel für die Charakter-
beeinflussung durch die Vorbildlichkeit des Sexuellen.Selbstkritik der Neurotiker
Es ist immer auffällig und verdient besondere Aufmerksamkeit, wenn
ein Neurotiker sich selbst zu beschimpfen, geringschätzig zu beurteilen
pflegt u. dgl. Häufig gelangt man, wie bei den Selbstvorwürfen, zum Ver-
ständnis durch die Annahme einer Identifizierung mit einer anderen Person.
In einem Falle zwangen die Begleitumstände der Sitzung zu einer anderen
Lösung eines solchen Benehmens. Die junge Dame, die nicht müde wurde
zu versichern, sie sei wenig intelligent, unbegabt usw., wollte damit nur
andeuten, sie sei am Körper sehr schön, und verbarg diese Prahlerei hinter
jener Selbstkritik. Der in all solchen Fällen zu vermutende Hinweis auf
die schädlichen Folgen der Onanie fehlte übrigens auch in diesem Falle nicht.Rücksicht auf Darstellbarkeit
Der Träumer zieht eine Frau hinter dem Bette hervor: — er gibt ihr
den Vorzug. — Er (ein Offizier) sitzt an einer Tafel dem Kaiser gegen-
über: — er bringt sich in Gegensatz zum Kaiser (Vater). Beide Dar-
stellungen vom Träumer selbst übersetzt.Auftreten von Krankheitssymptomen im Traume
Die Symptome der Krankheit (Angst usw.) im Traum scheinen ganz
allgemein zu besagen: Darum (im Zusammenhange mit den vorhergehenden
Traumelementen) bin ich krank geworden. Diesen Träumen entspricht also
einer Fortsetzung der Analyse in den Traum.
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