Erfahrungen und Beispiele aus der analytischen Praxis 1913-009/1928
  • S.

    501

    Kurze Mitteilungen

     

    III

    ERFAHRUNGEN UND BEISPIELE AUS DER
    ANALYTISCHEN PRAXIS

    Erschien 1913 im I. Band der „Internatio-
    nalen Zeitschrift für Psychoanalyse“.

    Die Sammlung kleiner Beiträge, von welcher wir hier ein erstes Stück
    bringen,¹ bedarf einiger einführender Worte: Die Krankheitsfälle, an denen
    der Psychoanalytiker seine Beobachtungen macht, sind für die Bereicherung
     


    ¹ [Die meisten der in der genannten Sammlung veröffentlichten Beiträge des Verfassers sind
    dann in spätere Buchpublikationen einverleibt worden, es entfällt daher hier ihre Wiedergabe.]

  • S.

    502

    Vermischte Schriften

    seiner Kenntnis natürlich ungleichwertig. Es gibt solche, bei denen er alles
    in Verwendung bringen muß, was er weiß, und nichts Neues lernt; andere,
    welche ihm das bereits Bekannte in besonders deutlicher Ausprägung und
    schärferer Isolierung zeigen, so daß er diesen Kranken nicht nur Bestätigung,
    sondern auch Erweiterungen seines Wissens verdankt. Man ist berechtigt zu
    vermuten, daß die psychischen Vorgänge, die man studieren will, bei den
    Fällen der ersteren Art keine anderen sind als bei denen der letzteren, aber
    man wird sie am liebsten an solchen günstigen und durchsichtigen Fällen
    beschreiben. Die Entwicklungsgeschichte nimmt ja auch an, daß die Furchung
    des tierischen Eis sich bei den pigmentstarken und für die Untersuchung
    ungünstigen Objekten nicht anders vollziehe als bei den durchsichtigen
    pigmentarmen, welche sie für ihre Untersuchungen auswählt.
    Die zahlreichen schönen Beispiele, welche dem Analytiker in der täglichen
    Arbeit das ihm Bekannte bestätigen, gehen aber zumeist verloren, da deren
    Einreihung in einen Zusammenhang oft lange Zeit aufgeschoben werden muß.
    Es hat darum einen gewissen Wert, wenn man eine Form angibt, wie solche
    Erfahrungen und Beispiele veröffentlicht und der allgemeinen Kenntnis zu-
    geführt werden können, ohne eine Bearbeitung von übergeordneten Gesichts-
    punkten her abzuwarten.

    Die hier eingeführte Rubrik will den Raum für eine Unterbringung
    dieses Materials zur Verfügung stellen. Äußerste Knappheit der Darstellung
    erscheint geboten; die Aneinanderreihung der Beispiele ist eine ganz zwanglose.

    Verschämte Füße (Schuhe)

    Die Patientin berichtet nach mehreren Tagen Widerstand, sie habe sich
    so sehr gekränkt, daß ein junger Mann, den sie regelmäßig in der Nähe der
    Wohnung des Arztes begegne, und der sie sonst bewundernd anzuschauen
    pflegte, das letztemal verächtlich auf ihre Füße geblickt habe. Sie hat sonst
    wahrlich keine Ursache, sich ihrer Füße zu schämen. Die Lösung bringt
    sie selbst, nachdem sie gestanden hat, daß sie den jungen Mann für den
    Sohn des Arztes halte, der also zufolge der Übertragung ihren (älteren)
    Bruder vertritt. Nun folgt die Erinnerung, daß sie im Alter von etwa fünf
    Jahren ihren Bruder auf das Klosett zu begleiten pflegte, wo sie ihm urinieren
    zusah. Von Neid ergriffen, daß sie es nicht so könne wie er, versuchte sie
    eines Tages es ihm gleichzutun (Penisneid), benetzte aber dabei ihre Schuhe
    und ärgerte sich sehr, als der Bruder sie darüber neckte. Der Ärger wieder-
    holte sich lange Zeit, so oft der Bruder in der Absicht, sie an jenes Miß-

  • S.

    503

    Kurze Mitteilungen

    glücken zu erinnern, verächtlich auf ihre Schuhe blickte. Diese Erfahrung,
    fügt sie hinzu, habe ihr späteres Verhalten in der Schule bestimmt. Wenn
    ihr etwas nicht beim ersten Versuch gelingen wollte, brachte sie nie den
    Entschluß zustande, es von neuem zu versuchen, so daß sie in vielen
    Gegenständen völlig versagte. — Ein gutes Beispiel für die Charakter-
    beeinflussung durch die Vorbildlichkeit des Sexuellen.

    Selbstkritik der Neurotiker

    Es ist immer auffällig und verdient besondere Aufmerksamkeit, wenn
    ein Neurotiker sich selbst zu beschimpfen, geringschätzig zu beurteilen
    pflegt u. dgl. Häufig gelangt man, wie bei den Selbstvorwürfen, zum Ver-
    ständnis durch die Annahme einer Identifizierung mit einer anderen Person.
    In einem Falle zwangen die Begleitumstände der Sitzung zu einer anderen
    Lösung eines solchen Benehmens. Die junge Dame, die nicht müde wurde
    zu versichern, sie sei wenig intelligent, unbegabt usw., wollte damit nur
    andeuten, sie sei am Körper sehr schön, und verbarg diese Prahlerei hinter
    jener Selbstkritik. Der in all solchen Fällen zu vermutende Hinweis auf
    die schädlichen Folgen der Onanie fehlte übrigens auch in diesem Falle nicht.

    Rücksicht auf Darstellbarkeit

    Der Träumer zieht eine Frau hinter dem Bette hervor: — er gibt ihr
    den Vorzug. — Er (ein Offizier) sitzt an einer Tafel dem Kaiser gegen-
    über: — er bringt sich in Gegensatz zum Kaiser (Vater). Beide Dar-
    stellungen vom Träumer selbst übersetzt.

    Auftreten von Krankheitssymptomen im Traume

    Die Symptome der Krankheit (Angst usw.) im Traum scheinen ganz
    allgemein zu besagen: Darum (im Zusammenhange mit den vorhergehenden
    Traumelementen) bin ich krank geworden. Diesen Träumen entspricht also
    einer Fortsetzung der Analyse in den Traum.