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Ernest Jones zum 50. Geburtstag
Zuerst veröffentlicht in „Internationale Zeitschrift
für Psychoanalyse“, Bd. XV, 1929 (Festnummer für
Ernest Jones).Der Psychoanalyse fiel als erste Aufgabe zu, jene Triebregungen aufzu-
decken, die allen heute lebenden Menschen gemeinsam sind, ja die die heute
Lebenden mit den Menschen der Vorzeit und der Urzeit gemeinsam haben.
Es kostete sie also keine Anstrengung, sich über die Verschiedenheiten
hinauszusetzen, die durch die Mehrheit der Rassen, der Sprachen, der Länder
unter den Bewohnern der Erde hervorgerufen wurden. Sie war von Anfang
an international, und es ist bekannt, daß ihre Anhänger eher als alle
anderen die trennenden Einwirkungen des großen Krieges überwunden
haben.Unter den Männern, die sich im Frühjahr 1908 in Salzburg zum ersten
psychoanalytischen Kongreß zusammenfanden, tat sich ein junger englischer
Arzt hervor, der einen kleinen Aufsatz „Rationalisation in Everyday Life“
zur Verlesung brachte. Der Inhalt dieser Erstlingsarbeit ist noch heute auf-
recht; unsere junge Wissenschaft war durch sie um einen wichtigen Begriff
und einen unentbehrlichen Terminus bereichert worden.Von da an hat Ernest Jones nicht mehr gerastet. Zuerst in seiner Stellung
als Professor in Toronto, dann als Arzt in London, als Gründer und Lehrer
einer Ortsgruppe, als Leiter eines Verlags, Herausgeber einer Zeitschrift,
Haupt eines Lehrinstituts hat er unermüdlich für die Psychoanalyse gewirkt,
durch öffentliche Vorträge ihren jeweiligen Besitzstand zur allgemeinen
Kenntnis gebracht, durch glänzende, strenge, aber gerechte Kritiken sie gegen
Angriffe und Mißverständnisse ihrer Gegner verteidigt, mit Geschick und
Mäßigung ihre schwierige Stellung in England gegen die Ansprüche der
Profession behauptet und bei all dieser nach außen gerichteten TätigkeitS.
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in treuer Mitarbeiterschaft an der Entwicklung der Psychoanalyse auf dem
Kontinent jene wissenschaftliche Leistung vollbracht, von der – unter
anderem – seine „Papers on Psycho-analysis“ und „Essays in Applied
Psycho-Analysis“ Zeugnis ablegen. Jetzt, auf der Höhe des Lebens, ist er
nicht nur als der unbestritten führende Mann unter den Analytikern des
englischen Sprachgebiets, sondern auch als einer der hervorragendsten
Vertreter der Psychoanalyse überhaupt anerkannt, eine Stütze seiner Freunde
und noch immer eine Zukunftshoffnung unserer Wissenschaft.Wenn der Herausgeber dieser Zeitschrift das Schweigen, zu dem ihn
sein Alter verurteilt – oder berechtigt, durchbrochen hat, um den Freund
zu begrüßen, so sei ihm gestattet, nicht mit einem Wunsch zu schließen, –
wir glauben nicht an die Allmacht der Gedanken, – sondern mit dem
Geständnis, daß er sich Ernest Jones auch nach seinem 50. Geburtstag nicht
anders denken kann als vorher: eifrig und tatkräftig, streitbar und der
Sache ergeben.
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