Geleitwort [zu: Aichhorn, August ›Verwahrloste Jugend‹] 1925-061/1931
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    es in der Regel mit bereits erstarrten psychischen Formationen zu
    tun und wird in der fertig gewordenen Individualität des Kranken
    eine Grenze für seine eigene Leistung, aber auch eine Gewähr für
    dessen Selbständigkeit finden. Der Erzieher aber arbeitet an
    plastischem, dem Eindruck zugänglichem Material und wird sich
    die Verpflichtung vorzuhalten haben, das junge Seelenleben nicht
    nach seinen persönlichen Idealen, sondern vielmehr nach den am
    Objekt haftenden Dispositionen und Möglichkeiten zu formen.

    Möge die Verwendung der Psychoanalyse im Dienste der Erzie-
    hung bald die Hoffnungen erfüllen, die Erzieher und Ärzte an
    sie knüpfen dürfen! Ein Buch wie das Pfisters, welches die
    Analyse den Erziehern bekannt machen will, wird dann auf den
    Dank später Generationen rechnen können.


     

    GELEITWORT

     

    zu VERWAHRLOSTE JUGEND. Die Psychoanalyse in der Für-
    sorgeerziehung. Zehn Vorträge zur ersten Einführung von AUGUST
    AICHHORN. Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Wien.
    (1925)


    Von allen Anwendungen der Psychoanalyse hat keine so viel
    Interesse gefunden, so viel Hoffnungen erweckt und demzufolge
    so viele tüchtige Mitarbeiter herangezogen wie die auf die Theorie
    und Praxis der Kindererziehung. Dies ist leicht zu verstehen.
    Das
    Kind ist das hauptsächlichste Objekt der psychoanalytischen For-
    schung geworden; es hat in dieser Bedeutung den Neurotiker
    abgelöst, an dem sie ihre Arbeit begann. Die Analyse hat im
    Kranken das wenig verändert fortlebende Kind aufgezeigt wie
    im Träumer und im Künstler; sie hat die Triebkräfte und Ten-
    denzen beleuchtet, die dem kindlichen Wesen sein ihm eigenes
    Gepräge geben und die Entwicklungswege verfolgt, die von diesem
    zur Reife des Erwachsenen führen. Kein Wunder also, wenn die
    Erwartung entstand, die psychoanalytische Bemühung um das Kind
    werde der erzieherischen Tätigkeit zugute kommen, die das Kind
    auf seinem Weg zur Reife leiten, fördern und gegen Irrungen
    sichern will.

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    Einleitungen

    Mein persönlicher Anteil an dieser Anwendung der Psycho-
    analyse ist sehr geringfügig gewesen. Ich hatte mir frühzeitig
    das Scherzwort von den drei unmöglichen Berufen — als da sind:
    Erziehen, Kurieren, Regieren — zu eigen gemacht, war auch von
    der mittleren dieser Aufgaben hinreichend in Anspruch genommen.
    Darum verkenne ich aber nicht den hohen sozialen Wert, den
    die Arbeit meiner pädagogischen Freunde beanspruchen darf.

    Das vorliegende Buch des Vorstandes A. Aichhorn beschäf-
    tigt sich mit einem Teilstück des großen Problems, mit der erziehe-
    rischen Beeinflussung der jugendlichen Verwahrlosten. Der Ver-
    fasser hatte in amtlicher Stellung als Leiter städtischer Fürsorge-
    anstalten lange Jahre gewirkt, ehe er mit der Psychoanalyse be-
    kannt wurde. Sein Verhalten gegen die Pflegebefohlenen entsprang
    aus der Quelle einer warmen Anteilnahme an dem Schicksal dieser
    Unglücklichen und wurde durch eine intuitive Einfühlung in deren
    seelische Bedürfnisse richtig geleitet. Die Psychoanalyse konnte ihn
    praktisch wenig Neues lehren, aber sie brachte ihm die klare
    theoretische Einsicht in die Berechtigung seines Handelns undsetzte ihn in den Stand, es vor anderen zu begründen.

    Man kann diese Gabe des intuitiven Verständnisses nicht bei
    jedem Erzieher voraussetzen. Zwei Mahnungen scheinen mir aus
    den Erfahrungen und Erfolgen des Vorstandes Aichhorn zu
    resultieren. Die eine, daß der Erzieher psychoanalytisch geschult
    sein soll, weil ihm sonst das Objekt seiner Bemühung, das Kind,
    ein unzugängliches Rätsel bleibt. Eine solche Schulung wird am
    besten erreicht, wenn sich der Erzieher selbst einer Analyse unter-
    wirft, sie am eigenen Leibe erlebt. Theoretischer Unterricht in der
    Analyse dringt nicht tief genug und schafft keine Überzeugung.

    Die zweite Mahnung klingt eher konservativ, sie besagt, daß
    die Erziehungsarbeit etwas sui generis ist, das nicht mit psycho-
    analytischer Beeinflussung verwechselt und nicht durch sie ersetzt
    werden kann. Die Psychoanalyse des Kindes kann von der Erzie-
    hung als Hilfsmittel herangezogen werden. Aber sie ist nicht dazu
    geeignet, an ihre Stelle zu treten. Nicht nur praktische Gründe
    verbieten es, sondern auch theoretische Überlegungen widerraten
    es. Das Verhältnis zwischen Erziehung und Psychoanalytischer

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    Bemühung wird voraussichtlich in nicht ferner Zeit einer gründ-
    lichen Untersuchung unterzogen werden. Ich will hier nur Weniges
    andeuten. Man darf sich nicht durch die übrigens vollberechtigte
    Aussage irreleiten lassen, die Psychoanalyse des erwachsenen
    Neurotikers sei einer Nacherziehung desselben gleichzustellen. Ein
    Kind, auch ein entgleistes und verwahrlostes Kind, ist eben noch
    kein Neurotiker und Nacherziehung etwas ganz anderes als Er-
    ziehung des Unfertigen. Die Möglichkeit der analytischen Be-
    einflussung ruht auf ganz bestimmten Voraussetzungen, die man
    als „analytische Situation“ zusammenfassen kann, erfordert die
    Ausbildung gewisser psychischer Strukturen, eine besondere Ein-
    stellung zum Analytiker. Wo diese fehlen, wie beim Kind, beim
    jugendlichen Verwahrlosten, in der Regel auch beim triebhaften
    Verbrecher, muß man etwas anderes machen als Analyse, was
    dann in der Absicht wieder mit ihr zusammentrifft. Die theore-
    tischen Kapitel des vorliegenden Buches werden dem Leser eine
    erste Orientierung in der Mannigfaltigkeit dieser Entscheidungen
    bringen.

    Ich schließe noch eine Folgerung an, die nicht mehr für die
    Erziehungslehre, wohl aber für die Stellung des Erziehers bedeut-
    sam ist. Wenn der Erzieher die Analyse durch Erfahrung an der
    eigenen Person erlernt hat und in die Lage kommen kann, sie bei
    Grenz- und Mischfällen zur Unterstützung seiner Arbeit zu ver-
    wenden, so muß man ihm offenbar die Ausübung der Analyse frei-
    geben und darf ihn nicht aus engherzigen Motiven daran hindern
    wollen.