Geleitwort zu: Bourke, John Gregory ›Der Unrat in Sitte, Brauch, Glauben und Gewohnheitrecht der Völker‹ 1913-063/1928
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    GELEITWORT

    zu DER UNRAT IN SITTE, BRAUCH, GLAUBEN UND GE-
    WOHNHEITSRECHT DER VOLKER von JOHN GREGORY
    BOURK E, verdeutscht und neubearbeitet von Friedrich S. Krauß und H. Ihm
    (Beiwerke zum Studium der Anthropophyteia, VI. Band). Ethnologischer Verlag,
    Leipzig 1913.

    Als ich im Jahre 1885 als Schiiler Charcots in Paris weilte, zogen
    mich neben den Vorlesungen des Meisters die Demonstrationen und Reden
    Brouardels am stårksten an, der uns an dem Leichenmaterial der Morgue
    zu zeigen pflegte, wieviel es Wissenswertes für den Arzt gäbe, wovon doch
    die Wissenschaft keine Notiz zu nehmen beliebte. Als er einmal die Kenn-
    zeichen erörterte, aus denen man Stand, Charakter und Herkunft des
    namenlosen Leichnams erraten könne, hörte ich ihn sagen: „Les genous
    sales sont le signe d’une fille honnete.“ Er ließ die schmutzigen Kniee Zeugnis
    ablegen für die Tugend des Mädchens!

    Die Mitteilung, daß körperliche Reinlichkeit sich weit eher mit der
    Sünde als mit der Tugend vergesellschafte, beschäftigte mich oftmals später,
    als ich durch psychoanalytische Arbeit Einsicht in die Art gewann, wie
    sich die Kulturmenschen heute mit dem Problem ihrer Leiblichkeit aus-
    einandersetzen. Sie werden offenbar durch alles geniert, was allzu deutlich
    an die tierische Natur des Menschen mahnt. Sie wollen es den „vollendeteren
    Engeln“ gleichtun, die in der letzten Szene des Faust klagen:

    „Uns bleibt ein Erdenrest
    zu tragen peinlich,

    und wär’ er von Asbest,
    er ist nicht reinlich.“

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    250 Geleitworte zu Büchern anderer Autoren

    Da sie aber von solcher Vollendung weit entfernt bleiben müssen, haben
    sie den Ausweg gewählt, diesen unbequemen Erdenrest möglichst zu ver-
    leugnen, ihn vor einander zu verbergen, obwohl ihn jeder vom anderen
    kennt, und ihm die Aufmerksamkeit und Pflege zu entziehen, auf welche
    er als integrierender Bestandteil ihres Wesens ein Anrecht hätte. Es wäre
    gewiß vorteilhafter gewesen, sich zu ihm zu bekennen und ihm so viel
    Veredlung angedeihen zu lassen, als seine Natur gestattet.

    Es ist gar nicht einfach zu übersehen oder darzustellen, welche Folgen
    für die Kultur diese Behandlung des „peinlichen Erdenrestes“ mit sich ge-
    bracht hat, als dessen Kern man die sexuellen und die exkrementellen
    Funktionen bezeichnen darf. Heben wir nur die eine Folge hervor, die uns
    hier am nächsten angeht, daß es der Wissenschaft versagt worden ist, sich
    mit diesen verpönten Seiten des Menschenlebens zu beschäftigen, so daß
    derjenige, welcher diese Dinge studiert, als kaum weniger „unanständig“
    gilt, wie wer das Unanständige wirklich tut.

    Immerhin, Psychoanalyse und Folkloristik haben sich nicht abhalten
    lassen, auch diese Verbote zu übertreten, und haben uns dann allerlei
    lehren können, was für die Kenntnis des Menschen unentbehrlich ist.
    Beschränken wir uns hier auf die Ermittlungen über das Exkrementelle,
    so können wir als Hauptergebnis der psychoanalytischen Untersuchungen
    mitteilen, daß das Menschenkind genötigt ist, während seiner ersten Ent-
    wicklung jene Wandlungen im Verhältnis des Menschen zum Exkremen-
    tellen zu wiederholen, welche wahrscheinlich mit der Abhebung des Homo
    sapiens von der Mutter Erde ihren Anfang genommen haben. In frühesten
    Kindheitjahren ist von einem Schämen wegen der exkrementellen Funktionen,
    von einem Ekel vor den Exkrementen noch keine Spur. Das kleine Kind
    bringt diesen wie anderen Sekretionen seines Körpers ein großes Interesse
    entgegen, beschäftigt sich gerne mit ihnen und weiß aus diesen Beschäfti-
    gungen mannigfaltige Lust zu ziehen. Als Teile seines Körpers und als
    Leistungen seines Organismus haben die Exkremente Anteil an der — von
    uns narzißtisch genannten — Hochschätzung, mit der das Kind alles zu
    seiner Person gehörige bedenkt. Das Kind ist etwa stolz auf seine Aus-
    scheidungen, verwendet sie im Dienste seiner Selbstbehauptung gegen die
    Erwachsenen. Unter dem Einfluß der Erziehung verfallen die koprophilen
    Triebe und Neigungen des Kindes allmählich der Verdrängung; das Kind
    lernt sie geheimhalten, sich ihrer schämen und vor den Objekten derselben
    Ekel empfinden. Der Ekel geht aber, streng genommen, nie so weit, daß
    er die eigenen Ausscheidungen träfe, er begnügt sich mit der Verwerfung

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    Geleitworte zu Biichern anderer Autoren 251

    dieser Produkte, wenn sie von anderen stammen. Das Interesse, das bisher
    den Exkrementen galt, wird auf andere Objekte iibergeleitet, z. B. vom Kot
    aufs Geld, welches dem Kind ja erst spit bedeutungsvoll wird. Aus der
    Verdrängung der koprophilen Neigungen entwickeln sich — oder verstärken
    sich — wichtige Beiträge zur Charakterbildung.

    Die Psychoanalyse fügt noch hinzu, daß das exkrementelle Interesse beim
    Kinde anfänglich von den sexuellen Interessen nicht getrennt ist; die
    Scheidung zwischen den beiden tritt erst später auf, aber sie bleibt nur
    unvolkommen; die ursprüngliche, durch die Anatomie des menschlichen
    Körpers festgelegte Gemeinschaft schlägt noch beim normalen Erwachsenen
    in vielen Stücken durch. Endlich darf nicht vergessen werden, daß diese
    Entwicklungen ebensowenig wie irgendwelche andere ein tadelloses Ergebnis
    liefern können; ein Stück der alten Vorliebe bleibt erhalten, ein Anteil
    der koprophilen Neigungen zeigt sich auch im späteren Leben wirksam und
    äußert sich in den Neurosen, Perversionen, Unarten, Gewohnheiten der
    Erwachsenen,

    Die Folkloristik hat ganz andere Wege der Forschung eingeschlagen und
    doch dieselben Resultate wie die psychoanalytische Arbeit erreicht. Sie zeigt
    uns, wie unvollkommen die Verdrängung der koprophilen Neigungen bei
    verschiedenen Völkern und zu verschiedenen Zeiten ausgefallen ist, wie
    sehr sich die Behandlung der exkrementellen Stoffe auf anderen Kultur-
    stufen der infantilen Weise annähert. Sie beweist uns aber auch die Fort-
    dauer der primitiven, wahrhaft unausrottbaren, koprophilen Interessen,
    indem sie zu unserem Erstaunen vor uns ausbreitet, in welcher Fülle von
    Verwendungen in Zauberbrauch, Volkssitte, Kulthandlung und Heilkunst
    die einstige Hochschätzung der menschlichen Ausscheidungen sich neuen
    Ausdruck geschaffen hat. Auch die Beziehung dieses Gebietes zum Sexual-
    leben scheint durchweg erhalten zu sein. Mit dieser Förderung unserer Ein-
    sichten ist eine Gefährdung unserer Sittlichkeit offenbar nicht verbunden.

    Das meiste und beste, was wir über die Rolle der Ausscheidungen im
    Leben der Menschen wissen, ist in dem Buche von J. G. Bourke „Scato-
    logic Rites of all Nations“ zusammengetragen. Es ist daher nicht nur ein
    mutiges, sondern auch ein verdienstvolles Unternehmen, dieses Werk den

    deutschen Lesern zugänglich zu machen.