Geleitwort zu ›Der Unrat in Sitte, Brauch, Glauben und Gewohnheitrecht der Völker‹ von J. G. Bourke 1913-063/1931
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    bewuften in der Menschenseele unter gewissen Veranstaltungen zu
    einer Quelle von Lust und somit zu einer Technik der Witz-
    bildung werden kann. Wir heißen heute in der Psychoanalyse ein
    Gewebe von Vorstellungen mit dem daranhångenden Affekt einen
    „Komplex“ und sind bereit zu behaupten, daß viele der ge-
    schütztesten Witze ,Komplexwitze" sind, auch ihre be-
    freiende und erheiternde Wirkung der geschickten Bloflegung von
    sonst verdrängten Komplexen verdanken. Der Erweis dieses Satzes
    an Beispielen würde an dieser Stelle zu weit führen, aber als das
    Ergebnis einer solchen Untersuchung darf man es aussprechen, daß
    die erotischen und anderen Witze, die im Volke umlaufen, vor-
    treffliche Hilfsmittel zur Erforschung des unbewufiten Seclenlebens
    der Menschen darstellen, ganz ähnlich wie die Träume und die
    Mythen und Sagen, mit deren Verwertung sich die Psychoanalyse
    schon jetzt beschäftigt.

    So darf man sich also der Hoffnung hingeben, daß der Wert des
    Folklore fiir die Psyche immer deutlicher erkannt und dic Be-
    ziehungen zwischen dieser Forschung und der Psychoanalyse sich
    bald inniger gestalten werden.

    Ich bin, gechrter Herr Doktor, Ihr in besonderer Hochachtung
    ergebener Freud.

    GELEITWORT

    zu „Der Unrat in Sitte, Brandy, Glauben und Gewohnheitsrecht

    der Völker“ von J. G. Bourke, verdeutscht und neubearbeitet von

    Friedrich S. Krauß und H. Ihm (Beiwerke zum Studium der
    Anthropophyteia, VT. Band), Leipzig 1913

    Als ich im Jahre 1885 als Schüler Charcots in Paris weilte,
    zogen mich neben den Vorlesungen des Meisters die Demonstrationen
    und Reden Brouardels am stärksten an, der uns an dem
    Leichenmaterial der Morgue zu zeigen pflegte, wieviel es Wissens-
    wertes für den Arzt gäbe, wovon doch die Wissenschaft keine Notiz
    zu nchmen beliebte. Als er einmal die Kennzeichen erörterte, aus
    denen man Stand, Charakter und Herkunft des namenlosen Leich-
    nams erraten könne, hörte ich ihn sagen: „Les genous sales sont

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    le signe d'une fille honnéte Er ließ die schmutzigen Knice Zeugnis
    ablegen fiir die Tugend des Mädchens!

    Die Mitteilung, daß körperliche Reinlichkeit sich weit eher mit
    der Sünde als mit der Tugend vergesellschafte, beschäftigte mich
    oftmals später, als ich durch psychoanalytische Arbeit Einsicht in
    die Art gewann, wie sich die Kulturmenschen heute mit dem Problem
    ihrer Leiblichkeit auseinandersetzen。 Sie werden offenbar durch alles
    geniert, was allzu deutlich an die tierische Natur des Menschen
    mahnt. Sie wollen es den ,,vollendeteren Engeln“ gleichtun, die in
    der letzten Szene des Faust klagen:

    „Uns bleibt ein Erdenrest
    zu tragen peinlich,

    und wir’ er von Asbest,
    er ist nicht reinlich.“

    Da sie aber von solcher Vollendung weit entfernt bleiben miissen,
    haben sie den Ausweg gewählt, diesen unbequemen Erdenrest
    möglichst zu verleugnen, ihn vorcinander zu verbergen, obwohl ihn
    jeder vom anderen kennt, und ihm die Aufmerksamkeit und Pflege
    zu entziehen, auf welche er als integrierender Bestandteil ihres
    Wesens ein Anrecht hätte, Es wire gewiß vorteilhafter gewesen,
    sich zu ihm zu bekennen und ihm so viel Veredlung angedeihen
    zu lassen, als seine Natur gestattet.

    Es ist gar nicht einfach zu übersehen oder darzustellen, welche
    Folgen für die Kultur diese Behandlung des „peinlichen Erden-
    restes“ mit sich gebracht hat, als dessen Kern man die sexuellen
    und die exkrementellen Funktionen bezeichnen darf. Heben
    wir nur die eine Folge hervor, die uns hier am nächsten angeht,
    daß es der Wissenschaft versagt worden ist, sich mit diesen ver-
    n Seiten des Menschenlebens zu beschäftigen, so daß derjenige,
    welcher diese Dinge studiert, als kaum weniger „unanstindig” gilt,
    wie wer das Unanständige wirklich tut.

    Immerhin, Psychoanalyse und Folkloristik haben sich nicht ab-
    halten lassen, auch diese Verbote zu übertreten, und haben uns
    dann allerlei lehren können, was für die Kenntnis des Menschen
    unentbehrlich ist. Beschränken wir uns hier auf die Ermittlungen
    über das Exkrementelle, so können wir als Hauptergebnis der

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    psychoanalytischen Untersuchungen mitteilen, daß das Menschenkind
    genötigt ist, während seiner ersten Entwicklung jene Wandlungen
    im Verhältnis des Menschen zum Exkrementellen zu wiederholen,
    welche wahrscheinlich mit der Abhebung des Homo sapiens von der
    Mutter Erde ihren Anfang genommen haben. In frithesten Kind-
    heitjahren ist von einem Schämen wegen der exkrementellen Funk-
    tionen, von einem Ekel vor den Exkrementen noch keine Spur.
    Das kleine Kind bringt diesen wie anderen Sekretionen seines
    Körpers ein großes Interesse entgegen, beschäftigt sich gerne mit
    ihnen und weiß aus diesen Beschäftigungen mannigfaltige Lust zu
    ziehen, Als Teile seines Körpers und als Leistungen seines Orga-
    nismus haben die Exkremente Anteil an der — von uns narzißtisch
    genannten 一 Hochschátzung, mit der das Kind alles zu seiner
    Person gehörige bedenkt. Das Kind ist etwa stolz auf seine Aus-
    scheidungen, verwendet sie im Dienste seiner Selbstbehauptung
    gegen die Erwachsenen. Unter dem Einfluß der Erziehung verfallen
    die koprophilen Triebe und Neigungen des Kindes allmählich
    der Verdrängung; das Kind lernt sie geheimhalten, sich ihrer
    schämen und vor den Objekten derselben Ekel empfinden. Der Ekel
    geht aber, streng genommen, nie so weit, daß er die eigenen Aus-
    scheidungen träfe, er begnügt sich mit der Verwerfung dieser
    Produkte, wenn sie von anderen stammen. Das Interesse, das bisher
    den Exkrementen galt, wird auf andere Objekte iibergeleitet,
    z. B. vom Kot aufs Geld, welches dem Kind ja erst spät bedeutungs-
    voll wird. Aus der Verdrängung der koprophilen Neigungen ent-
    wickeln sich — oder verstärken sich — wichtige Beiträge zur
    Charakterbildung.

    Dic Psychoanalyse fügt noch hinzu, daß das exkrementelle
    Interesse beim Kinde anfinglich von den sexuellen Interessen nicht
    getrennt ist; die Scheidung zwischen den beiden tritt erst spiter
    auf, aber sic bleibt nur unvollkommen; die ursprüngliche, durch
    die Anatomie des menschlichen Körpers festgelegte Gemeinschaft
    schlägt noch beim normalen Erwachsenen in vielen Stücken durch.
    Endlich darf nicht vergessen werden, daß diese Entwicklungen
    ebensowenig wie irgendwelche andere ein tadelloses Ergebnis liefern
    können; ein Stück der alten Vorliebe bleibt erhalten, ein Anteil

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    der koprophilen Neigungen zeigt sich auch im spåteren Leben
    wirksam und äußert sich in den Neurosen, Perversionen, Unarten,
    Gewohnheiten der Erwachsenen.

    Die Folkloristik hat ganz andere Wege der Forschung einge-
    schlagen und doch dieselben Resultate wie die psychoanalytische
    Arbeit erreicht. Sie zeigt uns, wie unvollkommen die Verdrängung
    der koprophilen Neigungen bei verschiedenen Völkern und zu ver-
    schicdenen Zeiten ausgefallen ist, wie sehr sich die Behandlung der
    exkrementellen Stoffe auf anderen Kulturstufen der infantilen Weise
    annåhert. Sie beweist uns aber auch dic Fortdauer der primitiven,
    wahrhaft unausrottbaren, koprophilen Interessen, indem sie zu
    unserem Erstaunen vor uns ausbreitet, in welcher Fülle von Ver-
    wendungen in Zauberbrauch, Volkssitte, Kulthandlung und Heil-
    kunst die einstige Hochschätzung der menschlichen Ausscheidungen
    sich neuen Ausdruck geschaffen hat. Auch die Beziehung dieses
    Gebietes zum Sexualleben scheint durchweg erhalten zu sein. Mit
    dieser Förderung unserer Einsichten ist eine Gefährdung unserer
    Sittlichkeit offenbar nicht verbunden.

    Das meiste und beste, was wir über die Rolle der Aus-
    scheidungen im Leben der Menschen wissen, ist in dem Buche von
    J. G. Bourke ,Scatologic Rites of all Nations" zusammen-
    getragen. Es ist daher nicht nur ein mutiges, sondern auch ein ver-
    dienstvolles Unternehmen, dieses Werk den deutschen Lesern zu-
    gänglich zu machen.