Geleitwort 1913-061/1913
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    Geleitwort.                                                           Von Sieg. Freud (Wien).

    Die Psychoanalyse ist auf medizinischem Boden entstanden
    als ein Heilverfahren zur Behandlung gewisser nervöser Erkran-
    kungen, die man „funktionelle“ geheißen hat, und in denen man mit
    stetig wachsender Sicherheit Erfolge von Störungen des Affekt-
    lebens erkannte. Sie erreicht ihre Absicht, die Äußerungen solcher
    Störungen, die Symptome, aufzuheben, indem sie voraussetzt, die-
    selben seien nicht die einzig möglichen und endgültigen Ausgänge
    gewisser psychischer Prozesse, darum die Entwicklungsgeschichte
    dieser Symptome in der Erinnerung aufdeckt, die ihnen zugrunde
    liegenden Prozesse auffrischt und sie nun unter ärztlicher Leitung
    einem günstigeren Ausgang zuführt. Die Psychoanalyse hat sich
    dieselben therapeutischen Ziele gesetzt wie die hypnotische Be-
    handlung, die sich, von Liébault und Bernheim eingeführt,
    nach langen und schweren Kämpfen einen Platz in der nervenärzt-
    lichen Technik erworben hatte. Aber sie geht weit tiefer auf die
    Struktur des seelischen Mechanismus ein und sucht dauernde Be-
    einflussungen und haltbare Veränderungen ihrer Objekte zu er-
    reichen.

    Die hypnotische Suggestionsbehandlung hat seinerzeit sehr bald
    das ärztliche Anwendungsgebiet überschritten und sich in den
    Dienst der Erziehung jugendlicher Personen gestellt. Wenn wir
    den Berichten Glauben schenken dürfen, hat sie sich als wirk-
    sames Mittel erwiesen zur Beseitigung von Kinderfehlern, störenden
    körperlichen Gewöhnungen und sonst unreduzierbaren Charakter-
    zügen. Niemand nahm damals Anstoß daran oder verwunderte sich
    über diese Erweiterung ihrer Brauchbarkeit, die uns allerdings erst
    durch die psychoanalytische Forschung voll verständlich geworden
    ist. Denn heute wissen wir, daß die krankhaften Symptome oft
    nichts anderes sind als die Ersatzbildungen für schlechte, d. i.
    unbrauchbare Neigungen, und daß die Bedingungen dieser Sym-
    ptome in den Kindheits- und Jugendjahren konstituiert werden
    – zu denselben Zeiten, in welchen der Mensch Objekt der Erziehung
    ist –, mögen nun die Krankheiten selbst noch in der Jugend hervor-
    treten oder erst in einer späteren Lebenszeit.

    Erziehung und Therapie treten nun in ein angebbares Verhältnis
    zueinander. Die Erziehung will dafür sorgen, daß aus gewissen

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    Anlagen und Neigungen des Kindes nichts dem einzelnen wie der
    Gesellschaft Schädliches hervorgehe. Die Therapie tritt in Wirk-
    samkeit, wenn dieselben Anlagen bereits das unerwünschte Er-
    gebnis der Krankheitssymptome geliefert haben. Der andere Aus-
    gang, nämlich, daß die unbrauchbaren Dispositionen des Kindes
    nicht zu den Ersatzbildungen der Symptome, sondern zu direkten
    Charakterperversionen geführt haben, ist für die Therapie fast
    unzugänglich und der Beeinflussung durch den Erzieher meist
    entzogen. Die Erziehung ist eine Prophylaxe, welche beiden Aus-
    gängen, dem in Neurose wie dem in Perversion, vorbeugen soll;
    die Psychotherapie will den labileren der beiden Ausgänge rück-
    gängig machen und eine Art von Nacherziehung einsetzen.

    Angesichts dieser Sachlage drängt sich von selbst die Frage auf,
    ob man nicht die Psychoanalyse für die Zwecke der Erziehung
    verwerten solle wie seinerzeit die hypnotische Suggestion. Die
    Vorteile davon wären augenfällig. Der Erzieher ist einerseits durch
    seine Kenntnis der allgemeinen menschlichen Dispositionen der Kind-
    heit vorbereitet, zu erraten, welche der kindlichen Anlagen mit
    einem unerwünschten Ausgang drohen, und wenn die Psychoanalyse
    auf solche Entwicklungsrichtungen Einfluß hat, kann er sie in
    Anwendung bringen, ehe sich die Zeichen einer ungünstigen Ent-
    wicklung einstellen. Er kann also am noch gesunden Kinde pro-
    phylaktisch mit Hilfe der Analyse wirken. Anderseits kann er
    die ersten Anzeichen einer Entwicklung zur Neurose oder zur Per-
    version bemerken und das Kind vor der weiteren Entwicklung zu
    einer Zeit behüten, wo es aus einer Reihe von Gründen dem Arzt
    niemals zugeführt würde. Man sollte meinen, eine solche psycho-
    analytische Tätigkeit des Erziehers – und des ihm gleichstehenden
    Seelsorgers in protestantischen Ländern – müßte Unschätzbares
    leisten und oft die Tätigkeit des Arztes überflüssig machen können.

    Es fragt sich nur, ob nicht die Ausübung der Psychoanalyse
    eine ärztliche Schulung voraussetzt, welche dem Erzieher und
    Seelsorger vorenthalten bleiben muß, oder ob nicht andere Ver-
    hältnisse sich der Absicht widersetzen, die psychoanalytische Tech-
    nik in andere als ärztliche Hände zu legen. Ich bekenne, daß ich
    keine solchen Abhaltungen sehe. Die Ausübung der Psychoanalyse
    fordert viel weniger ärztliche Schulung als psychologische Vor-
    bildung und freien menschlichen Blick; die Mehrzahl der Ärzte aber
    ist für die Übung der Psychoanalyse nicht ausgerüstet und hat in
    der Würdigung dieses Heilverfahrens völlig versagt. Der Erzieher
    und der Seelsorger sind durch die Anforderungen ihres Berufes
    zu denselben Rücksichten, Schonungen und Enthaltungen ver-
    pflichtet, die der Arzt einzuhalten gewohnt ist, und ihre sonstige
    Beschäftigung mit der Jugend macht sie zur Einfühlung in deren

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    Seelenleben vielleicht geeigneter. Die Garantie für eine schadlose
    Anwendung des analytischen Verfahrens kann aber in beiden Fällen
    nur von der Persönlichkeit des Analysierenden beigebracht werden.

    Die Annäherung an das Gebiet des Seelisch-Abnormen wird den
    analysierenden Erzieher nötigen, sich mit den dringendsten psychia-
    trischen Kenntnissen vertraut zu machen und überdies den Arzt
    zu Rate zu ziehen, wo Beurteilung und Ausgang der Störung zweifel-
    haft erscheinen können. In einer Reihe von Fällen wird erst das
    Zusammenwirken des Erziehers mit dem Arzte zum Erfolge führen
    können.

    In einem einzigen Punkte wird die Verantwortlichkeit des Er-
    ziehers die des Arztes vielleicht noch übersteigen. Der Arzt hat es
    in der Regel mit bereits erstarrten psychischen Formationen zu
    tun und wird in der fertig gewordenen Individualität des Kranken
    eine Grenze für seine eigene Leistung, aber auch eine Gewähr für
    dessen Selbstständigkeit finden. Der Erzieher aber arbeitet an plasti-
    schem, jedem Eindruck zugänglichem Material und wird sich die
    Verpflichtung vorzuhalten haben, das junge Seelenleben nicht nach
    seinen persönlichen Idealen, sondern vielmehr nach den am Objekt
    haftenden Dispositionen und Möglichkeiten zu formen.

    Möge die Verwendung der Psychoanalyse im Dienste der Er-
    ziehung bald die Hoffnungen erfüllen, die Erzieher und Ärzte an
    sie knüpfen dürfen! Ein Buch wie das Pfisters, welches die
    Analyse den Erziehern bekannt machen will, wird dann auf den
    Dank später Generationen rechnen können.

    Wien, im Februar 1913.