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Geleitwort. Von Sieg. Freud (Wien).
Die Psychoanalyse ist auf medizinischem Boden entstanden
als ein Heilverfahren zur Behandlung gewisser nervöser Erkran-
kungen, die man „funktionelle“ geheißen hat, und in denen man mit
stetig wachsender Sicherheit Erfolge von Störungen des Affekt-
lebens erkannte. Sie erreicht ihre Absicht, die Äußerungen solcher
Störungen, die Symptome, aufzuheben, indem sie voraussetzt, die-
selben seien nicht die einzig möglichen und endgültigen Ausgänge
gewisser psychischer Prozesse, darum die Entwicklungsgeschichte
dieser Symptome in der Erinnerung aufdeckt, die ihnen zugrunde
liegenden Prozesse auffrischt und sie nun unter ärztlicher Leitung
einem günstigeren Ausgang zuführt. Die Psychoanalyse hat sich
dieselben therapeutischen Ziele gesetzt wie die hypnotische Be-
handlung, die sich, von Liébault und Bernheim eingeführt,
nach langen und schweren Kämpfen einen Platz in der nervenärzt-
lichen Technik erworben hatte. Aber sie geht weit tiefer auf die
Struktur des seelischen Mechanismus ein und sucht dauernde Be-
einflussungen und haltbare Veränderungen ihrer Objekte zu er-
reichen.Die hypnotische Suggestionsbehandlung hat seinerzeit sehr bald
das ärztliche Anwendungsgebiet überschritten und sich in den
Dienst der Erziehung jugendlicher Personen gestellt. Wenn wir
den Berichten Glauben schenken dürfen, hat sie sich als wirk-
sames Mittel erwiesen zur Beseitigung von Kinderfehlern, störenden
körperlichen Gewöhnungen und sonst unreduzierbaren Charakter-
zügen. Niemand nahm damals Anstoß daran oder verwunderte sich
über diese Erweiterung ihrer Brauchbarkeit, die uns allerdings erst
durch die psychoanalytische Forschung voll verständlich geworden
ist. Denn heute wissen wir, daß die krankhaften Symptome oft
nichts anderes sind als die Ersatzbildungen für schlechte, d. i.
unbrauchbare Neigungen, und daß die Bedingungen dieser Sym-
ptome in den Kindheits- und Jugendjahren konstituiert werden
– zu denselben Zeiten, in welchen der Mensch Objekt der Erziehung
ist –, mögen nun die Krankheiten selbst noch in der Jugend hervor-
treten oder erst in einer späteren Lebenszeit.Erziehung und Therapie treten nun in ein angebbares Verhältnis
zueinander. Die Erziehung will dafür sorgen, daß aus gewissenS.
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Geleitwort.
Anlagen und Neigungen des Kindes nichts dem einzelnen wie der
Gesellschaft Schädliches hervorgehe. Die Therapie tritt in Wirk-
samkeit, wenn dieselben Anlagen bereits das unerwünschte Er-
gebnis der Krankheitssymptome geliefert haben. Der andere Aus-
gang, nämlich, daß die unbrauchbaren Dispositionen des Kindes
nicht zu den Ersatzbildungen der Symptome, sondern zu direkten
Charakterperversionen geführt haben, ist für die Therapie fast
unzugänglich und der Beeinflussung durch den Erzieher meist
entzogen. Die Erziehung ist eine Prophylaxe, welche beiden Aus-
gängen, dem in Neurose wie dem in Perversion, vorbeugen soll;
die Psychotherapie will den labileren der beiden Ausgänge rück-
gängig machen und eine Art von Nacherziehung einsetzen.Angesichts dieser Sachlage drängt sich von selbst die Frage auf,
ob man nicht die Psychoanalyse für die Zwecke der Erziehung
verwerten solle wie seinerzeit die hypnotische Suggestion. Die
Vorteile davon wären augenfällig. Der Erzieher ist einerseits durch
seine Kenntnis der allgemeinen menschlichen Dispositionen der Kind-
heit vorbereitet, zu erraten, welche der kindlichen Anlagen mit
einem unerwünschten Ausgang drohen, und wenn die Psychoanalyse
auf solche Entwicklungsrichtungen Einfluß hat, kann er sie in
Anwendung bringen, ehe sich die Zeichen einer ungünstigen Ent-
wicklung einstellen. Er kann also am noch gesunden Kinde pro-
phylaktisch mit Hilfe der Analyse wirken. Anderseits kann er
die ersten Anzeichen einer Entwicklung zur Neurose oder zur Per-
version bemerken und das Kind vor der weiteren Entwicklung zu
einer Zeit behüten, wo es aus einer Reihe von Gründen dem Arzt
niemals zugeführt würde. Man sollte meinen, eine solche psycho-
analytische Tätigkeit des Erziehers – und des ihm gleichstehenden
Seelsorgers in protestantischen Ländern – müßte Unschätzbares
leisten und oft die Tätigkeit des Arztes überflüssig machen können.Es fragt sich nur, ob nicht die Ausübung der Psychoanalyse
eine ärztliche Schulung voraussetzt, welche dem Erzieher und
Seelsorger vorenthalten bleiben muß, oder ob nicht andere Ver-
hältnisse sich der Absicht widersetzen, die psychoanalytische Tech-
nik in andere als ärztliche Hände zu legen. Ich bekenne, daß ich
keine solchen Abhaltungen sehe. Die Ausübung der Psychoanalyse
fordert viel weniger ärztliche Schulung als psychologische Vor-
bildung und freien menschlichen Blick; die Mehrzahl der Ärzte aber
ist für die Übung der Psychoanalyse nicht ausgerüstet und hat in
der Würdigung dieses Heilverfahrens völlig versagt. Der Erzieher
und der Seelsorger sind durch die Anforderungen ihres Berufes
zu denselben Rücksichten, Schonungen und Enthaltungen ver-
pflichtet, die der Arzt einzuhalten gewohnt ist, und ihre sonstige
Beschäftigung mit der Jugend macht sie zur Einfühlung in derenS.
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Geleitwort.
Seelenleben vielleicht geeigneter. Die Garantie für eine schadlose
Anwendung des analytischen Verfahrens kann aber in beiden Fällen
nur von der Persönlichkeit des Analysierenden beigebracht werden.Die Annäherung an das Gebiet des Seelisch-Abnormen wird den
analysierenden Erzieher nötigen, sich mit den dringendsten psychia-
trischen Kenntnissen vertraut zu machen und überdies den Arzt
zu Rate zu ziehen, wo Beurteilung und Ausgang der Störung zweifel-
haft erscheinen können. In einer Reihe von Fällen wird erst das
Zusammenwirken des Erziehers mit dem Arzte zum Erfolge führen
können.In einem einzigen Punkte wird die Verantwortlichkeit des Er-
ziehers die des Arztes vielleicht noch übersteigen. Der Arzt hat es
in der Regel mit bereits erstarrten psychischen Formationen zu
tun und wird in der fertig gewordenen Individualität des Kranken
eine Grenze für seine eigene Leistung, aber auch eine Gewähr für
dessen Selbstständigkeit finden. Der Erzieher aber arbeitet an plasti-
schem, jedem Eindruck zugänglichem Material und wird sich die
Verpflichtung vorzuhalten haben, das junge Seelenleben nicht nach
seinen persönlichen Idealen, sondern vielmehr nach den am Objekt
haftenden Dispositionen und Möglichkeiten zu formen.Möge die Verwendung der Psychoanalyse im Dienste der Er-
ziehung bald die Hoffnungen erfüllen, die Erzieher und Ärzte an
sie knüpfen dürfen! Ein Buch wie das Pfisters, welches die
Analyse den Erziehern bekannt machen will, wird dann auf den
Dank später Generationen rechnen können.Wien, im Februar 1913.
Pfister_1913_Methode
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