S.
Geleitwort
von
Sigm. FreudVon allen Anwendungen der Psychoanalyse hat keine soviel Interesse gefun-
den, soviel Hoffnungen erweckt und demzufolge soviele tüchtige Mitarbeiter
herangezogen wie auf die Theorie und Praxis der Kindererziehung. Dies ist
leicht zu verstehen. Das Kind ist das hauptsächliche Objekt der psychoana-
lytischen Forschung geworden; es hat in dieser Bedeutung den Neurotiker abge-
löst, an dem sie ihre Arbeit begann. Die Analyse hat im Kranken das wenig
verändert fortlebende Kind aufgezeigt wie im Träumer und im Künstler, sie
hat die Triebkräfte und Tendenzen beleuchtet, die dem kindlichen Wesen sein
ihm eigenes Gepräge geben und die Entwicklungswege verfolgt, die von diesem
zur Reife des Erwachsenen führen. Kein Wunder also, wenn die Erwartung
entstand, die psychoanalytische Bemühung um das Kind werde der erzieherischen
Tätigkeit zugute kommen, die das Kind auf seinem Weg zur Reife leiten, för-
dern und gegen Irrungen sichern will.
Mein persönlicher Anteil an dieser Anwendung der Psychoanalyse ist sehr
geringfügig gewesen. Ich hatte mir frühzeitig das Scherzwort von den drei un-
möglichen Berufen – als da sind: Erziehen, Kurieren, Regieren – zu eigen
gemacht, was auch von der mittleren dieser Aufgaben hinreichend in Anspruch
genommen. Darum verkenne ich aber nicht den hohen sozialen Wert, den die
Arbeit meiner pädagogischen Freunde beanspruchen darf.
Das vorliegende Buch des Vorstandes A. Aichhorn beschäftigt sich mit
einem Teilstück des großen Problems, mit der erzieherischen Beeinflussung der
jugendlichen Verwahrlosten. Der Verfasser hatte in amtlicher Stellung als Leiter
städtischer Fürsorgeanstalten lange Jahre gewirkt, ehe er mit der Psychoanalyse
bekannt wurde. Sein Verhalten gegen die Pflegebefohlenen entsprang aus der
Quelle einer warmen Anteilnahme an dem Schicksal dieser Unglücklichen und
wurde durch eine intuitive Einführung in deren seelische Bedürfnisse richtigS.
6
geleitet. Die Psychoanalyse konnte ihm praktisch wenig Neues lehren, aber sie
brachte ihm die klare theoretische Einsicht in die Berechtigung seines Handelns
und setzte ihn in den Stand, es vor anderen zu begründen.
Man kann diese Gabe des intuitiven Verständnisses nicht bei jedem Erzieher
voraussetzen. Zwei Mahnungen scheinen mir aus den Erfahrungen und Erfolgen
des Vorstandes Aichhorn zu resultieren. Die eine, daß der Erzieher psycho-
analytisch geschult sein soll, weil ihm sonst das Objekt seiner Bemühung, das
Kind, ein unzugängliches Rätsel bleibt. Eine solche Schulung wird am besten
erreicht, wenn sich der Erzieher selbst einer Analyse unterwirft, sie am eigenen
Leibe erlebt. Theoretischer Unterricht in der Analyse dringt nicht tief genug
und schafft keine Überzeugung.
Die zweite Mahnung klingt eher konservativ, sie besagt, daß die Erziehungs-
arbeit etwas sui generis ist, das nicht mit psychoanalytischer Beeinflussung ver-
wechselt und nicht durch sie ersetzt werden kann. Die Psychoanalyse des Kindes
kann von der Erziehung als Hilfsmittel herangezogen werden. Aber sie ist nicht
dazu geeignet, an ihre Stelle zu treten. Nicht nur praktische Gründe verbieten
es, sondern auch theoretische Überlegungen widerraten es. Das Verhältnis
zwischen Erziehung und psychoanalytischer Bemühung wird voraussichtlich in
nicht ferner Zeit einer gründlichen Untersuchung unterzogen werden. Ich will
hier nur Weniges andeuten. Man darf sich nicht durch die übrigens vollberech-
tigte Aussage irreleiten lassen, die Psychoanalyse des erwachsenen Neurotikers
sei einer Nacherziehung desselben gleichzustellen. Ein Kind, auch ein entgleistes
und verwahrlostes Kind, ist eben noch kein Neurotiker und Nacherziehung
etwas ganz anderes als Erziehung des Unfertigen. Die Möglichkeit der analy-
tischen Beeinflussung ruht auf ganz bestimmten Voraussetzungen, die man als
„analytische Situation“ zusammenfassen kann, erfordert die Ausbildung gewisser
psychischer Strukturen, eine besondere Einstellung zum Analytiker. Wo diese
fehlen, wie beim Kind, beim jugendlichen Verwahrlosten, in der Regel auch
beim triebhaften Verbrecher, muß man etwas anderes machen als Analyse, was
dann in der Abart wieder mit ihr zusammentrifft. Die theoretischen Kapitel
des vorliegenden Buches werden dem Leser eine erste Orientierung in der Man-
nigfaltigkeit dieser Entscheidungen bringen.
Ich schließe noch eine Folgerung an, die nicht mehr für die Erziehungslehre,
wohl aber für die Stellung des Erziehers bedeutsam ist. Wenn der Erzieher die
Analyse durch Erfahrung an der eigenen Person erlernt hat und in die Lage
kommen kann, sie bei Grenz- und Mischfällen zur Unterstützung seiner Arbeit
zu verwenden, so muß man ihm offenbar die Ausübung der Analyse freigeben
und darf ihn nicht aus engherzigen Motiven daran hindern wollen.S.
Aichhorn_1931_Verwahrloste_Jugend_2te_k
5
–6