S.
MÄRCHENSTOFFE IN TBÄUMEN
(um)Es ist keine Überraschung, audi aus der Psyduoanalyse zu
erfahren, welche Bedeutung unsere Volksn1ärd1cn für das
Seelenieben unserer Kinder gewonnen haben. Bei einigen
Menschen hat: sich die Erinnerung an ihre Lieblingsmärduen
an die Stelle eigener Kindheitserinnerungen gesetzt; sie haben
die Märdien zu Deckerinnerungen erhoben.Elemente und Situationen, die aus diesen Märchen kommen,
finden Sid'l. nun audi häufig in Träumen. Zur Deutung der
betrefienden Stellen fällt den Analysierten das für sie be—
deutungsvnlle Märchen ein. Von diesem sehr gewöhnlichen
Vorkommnis will id: hier zwei Beispiele anführen. Die Be
ziehungen der Märchen zur Kindheitsgesd1ichte und zur
Neurose der Träumer werden aber nur angedeutet werden
können, auf die Gefahr hin, die dem Analytiker wertvollsten
Zusammenhänge zu zerreißen.I
Traum einer jungen Frau, die vor wenigen Tagen den
Besudx ihres Mannes empfangen hat: Sie in in einem ganz
braunen Zimmer. Duni; eine kleine Tür kommt man auf eine
:teile Stiege, und iiber diem kommt ein Jonderbnre; Männlein
im Zimmer, klein, mit: weißen Haaren, Glatze und roter
Nase, da: im Zimmer war ihr berumtanzt, sich :ebr komisd:S.
Märchenerfi£ in Träumen 309
gebärdet und dann wieder zur Stiege berabgehz. Es ist in
ein graue: Gewand gekleidet, welche: alle Formen erkennen
läßt. (Korrektur: Es trägt einen langen id::warzen Rock und
eine graue Hose.)A n a. l y s e: Die Personsbesdueibung des Männleins paßt
ohne weitere Veränderung1 auf ihren Sd1wiegervater. Dann
fällt ihr aber sofort das Märchen von R u m p e l s t i 1 2-
ch e n ein, der so komisch wie der Mann im Träume hemm—
tanzt und dabei der Königin seinen Namen verrät. Dadurch
hat er aber seinen Anspruch auf das erste Kind der Königin
verloren und reißt sich in der Wut selbst mitten entzwei.Am Traumtag war sie, selbst so wütend auf ihren Mann
und äußerte: Ich könnte ihn mitten mtzweireißen.Das braune Zimmer macht zunächst Schwierigkeiten. Es
fällt ihr nur das Speisezimmer ihrer Eltern ein, das so
— holzbraun -— getäfelt ist, und dann erzählt sie Geschichten
von Betten, in denen man zu zweien so unbequem sd1läfi. Vor
einigen Tagen hat sie, als von Betten in anderen Ländern
die. Rede war, etwas sehr Ungesd1idrtes gesagt, — in harm-
loser Absicht, meint sie, — worüber ihre Gäellsdmfl'. fiirditfl-
lich lachen mußte.Der Traum ist nun bereits verständlidm. Das holzbraune
Zimmer” ist zunächst das Bett, durch die Beziehung auf das
Speisezimmer ein Ehebett.3 Sie befindet sich also im Ehebett.
Der Besucher sollte ihr junger Mann sein, der nach mehr-
monatiger Abwesenheit zu ihr gekommen war, um seine Rolle
im Ehebett zu spielen. Es ist aber zunächst der Vater des
Mannes, der Schwiegervater.1) Bis auf das Detail kurzgesdmittener Haare, während der
Sd-rwiegervater das Haar lang trägt.;) Holz wie bekannt häutig weibliches, mütterliches Symbol
(materia, Madeira usw.).3) Tisdr und Bett repräsentieren ja die Ehe.
S.
3m Märdtemtafie
Hinter dieser ersten Deutung blidst man auf eine tiefer-
liegende rein sexuellen Inhalts. Das Zimmer ist jetzt die
Vagina. (Das Zimmer ist in ihr, im Traume umgekehrt.) Der
kleine Mann, der seine Grimassen madit und sich so komisch
benimmt, ist der Penis; die enge Tür und die steile Treppe
bestätigen die Auffassung der Situation als einer Koitusdar-
stellung. Wir sind sonst gewöhnt, daß das Kind den Penis
symbolisiert, werden aber verstehen, daß es einen guten Sinn
hat, wenn hier der Vater zur Vertretung des Penis heran-
gezogen wird.Die Auflösung des ned! zurückgehaltenen Restes vom
Traume wird uns in der Deutung ganz sicher machen. Das
durchscheinende graue Gewand erklärt sie selbst als Kondom.
Wir dürfen erfahren, daß Interessen der Kinderverhütung,
Besorgnisse, ob nidit dieser Besuch des Mannes den Keim zu
einem zweiten Kind gelegt, zu den Anregern dieses Traumes
gehören.Der schwarze Rock: Ein sold1er steht ihrem Marine aus—
gezeichnet. Sie Will ihn beeinflussen, daß er ihn immer trage
anstatt seiner gewöhnlidlen Kleidung. Im schwarzen Rod: ist;
ihr Mann also so, wie sie ihn gern sieht. Schwarzer Rock und
graue Hose: das heißt aus zwei versd1iedenen, einander über—
ded(enden Schid1ten: So> gekleidet Will id] dich haben. So
gefällst du mir.Rumpelstilzd1en verknüpft sich mit den aktuellen Gedanken
des Traumes — den Tagesresten — durd1 eine schöne Gegen—
satzbeziehung. Er kommt im Märdien, um der Königin das
erste Kind zu nehmen; der kleine Mann im Traum kommt
als Vater, weil er wahrscheirflich ein zweites Kind gebracht
hat. Aber Rumpelstilzchen vermittelt auch den Zugang zur
tieferen, infantilen Schid1t der Traumgeclanken. Der passier—
lidie kleine Kerl, dessen Namen man nidmt einmal weiß,
dessen Geheimnis man kennen möchte, der so außerordentlicheS.
in Träumen ;! 1
Kunststücke kann (im Märchen Stroh in Gold verwandeln)
—— die Wut, die man gegen ihn hat, eigentlich gegen seinen
Besitzer, den man um diesen Besitz beneidet, der Penisneid
der Mäddien, —- das sind Elemente, deren Beziehung zu den
Grundlagen der Neurose, wie gesagt, hier nur gestreifl werden
soll. Zum Kastrationsthema gehören wohl audi die geschnit-
tenen Haare des Männdiens im Traume.Wenn man in durchsichtigen Beispielen darauf achten wird,
was der Träumer mit dem Märchen Kredit, und an welche
Stelle er es setzt, so wird man dadurch vielleidit auch Winke
für die noch ausstehende Deutung dieser Märchen selbst ge-
winnen.II
Ein junger Mann, der einen Anhalt für seine Kindheits-
erinnerungen in dern Umstande findet, daß seine Eltern ihr
bisheriges Landgut gegen ein anderes vertausehten, als er noch
nicht fünf jahre war, erzählt als seinen frühesten Traum,
der noch auf dem ersten Gut vorgefallen, folgendes:„Id; habe geträumt, daß es Nacht ist und ich in meinem
Bett liege (mein Bett stand mit dem Füßende gegen das
Fenster, vor dem Fenster'hefand sich eine Reihe alter Null—
bäume; ich weiß, es war Winter, als ich träumte, und Nacht—
zeit). Plötzlid; geht das Fenster von selbst auf, und ich sehe
mit großem Scbrecleen, daß auf dem großen Nußbaum vor
dem Fenster ein paar weiße Wölfe sitzen. Es waren ‚tech;
oder sieben Stück. Die Wölfe waren ganz weiß und sehen
aber an; wie Füchse oder Schäferhunde, denn sie hatten große
Schwänze wie Füchse und ihre Ohren waren aufgestellt wie
bei den Hunden, wenn sie auf etwa; passen. Unter großer
Angst, offenbar von den Wölfen aufgefrenen zu werden,
;cbrie ich auf und erwachte. Meine Kinderfrau eilte zu meinem
Bett, um nadizuselien, was mit mit geschehen war. Es dauerteS.
311 Märdremtolfe
eine ganze Weile, bis ich überzeugt war, es sei nur ein Traum
gewesen, so natürlid1 und deutlich war mir das Bild vor-
gekommen, wie das Fenster aufgeht und die Wölfe auf dem
Baume sitzen. Endlich beruhigte ich mich, fühlte mich wie von
einer Gefahr befreit und schlief wieder ein.“„Die einzige Aktion im Traume war das Aufgehen des
Fensters, denn die Wölfe saßen ganz ruhig ohne jede Be-
wegung auf den Pisten des Baumes, red1ts und links vom
Stamm und schauten mich an. Es sah so aus, als ob sie ihre
ganze Aufmerksamkeit auf mich gerichtet hätten. —— Ich
glaube, dies war mein erster Angsttraum. Id1 war damals
drei, vier, höchstens fünf Jahre alt. Bis in mein elftes oder
zwölftes Jahr hatte ich von da an immer Angst, etwas
Sdlrecklidws im Traum zu sehen.“Er gibt dann noch eine Zeid1nung des Baumes mit den
Wölfeu, die seine Beschreibung bestätigt. Die Analyse des
Traumes fördert nachstehendes Material zutage.Er hat diesen Traum immer in Beziehung zu der Erinnerung
gebracht, daß er in diesen Jahren der Kindheit eine ganz
ungeheuerliche Angst vor dem Bilde eines Wolfes in einem
Märdtenbuehe zeigte. Die ältere, ihm red1t überlegene
Schwester pflegte ihn zu necken, indem sie ihm unter irgend—
einem Vorwand gerade dieses Bild vorhielt, worauf er ent-
setzt zu schreien begann. Auf diesem Bilde stand der Wolf
aufrecht, mit einem Fuß ausschreitend, die Tatzen ausgestreckt
und die Ohren aufgestellt. Er meint, dißes Bild habe als
Illustration zum Märdien von Rotkäppchen gehört.Warum sind die Wölfe weiß? Das läßt ihn an die Schafe
denken, von denen große Herden in der Nähe des Gutes
gehalten wurden. Der Vater nahm ihn gelegentlidi mit, diese
Herden zu besuchen, und er war dann jedesmal sehr stolz
und selig. Später — nach eingezogenen Erkundigungen kann
es leicht kurz vor der Zeit dieses Trauma gewesen sein —S.
in Träumen 31 3
brach unter diesen Sd1afen eine Seuche aus. Der Vater ließ
einen P a s te 11 r schüler kommen, der die Tiere impfte, aber
sie starben nach der Impfung nad: zahlreid1er als vorhin.Wie kommen die Wölfe auf den Baum? Dazu fällt ihm
eine Geschid'ite ein, die er den Großvater erzählen gehört.
Er kann sich nicht erinnern, ob vor oder nach dem Traume,
aber ihr Inhalt spridlt entschieden für das erstere. Die Ge-
schichte lautet: Ein Schneider sitzt in seinem Zimmer bei der
Arbeit, da öffnet sich das Fenster und ein Wolf springt herein.
Der Sdmeider schlägt mit der Elle nach ihm -—— nein, ver-
bessert er sid], pad—rt ihn beim Schwanz und reißt ihm diesen
aus, so daß der Wolf ersdiredst davonrennt. Eine Weile später
geht der Schneider in den Wald und sieht plötzlidi ein Rudel
Wölfe herankomrnen, vor denen er sich auf einen Baum
flüchtet. Die Wölfe sind zunächst ratlos, aber der verstiim-
melte, der unter ihnen ist und Sidi am Schneider räd1en will,
macht den Vorschlag, daß einer auf den anderen steigen soll,
bis der letzte den Schneider erreicht hat. Er selbst — er ist
ein kräftiger Alter — Will die Basis dieser Pyramide machen.
Die Wölfe tun so, aber der Schneider hat den gezüchtigten
Besucher erkannt und ruft plötzlich wie damals: Padst den
Grauen beim Sd1wanz. Der sd1wanzlose Wolf erschridrt bei
dieser Erinnerung, läuft davon und die anderen purzeln alle
herab. >
In dieser Erzählung findet sich der Baum vor, auf dem im
Traume die Wölfe sitzen. Sie enthält aber auch eine unzwei-
deutige Ankniipfung an den Kastrationskomplex. Der alte
Wolf ist vom Schneider um den Schwanz gebracht werden.
Die Fuchsschwänze der Wölfe im Traum: sind wohl Kom—
pensationen dieser Schwanzlosigkeit.Warum sind es sechs oder sieben Wölfe? Diese Frage sdiieti
nicht zu beantworten, bis ich den Zweifel aufwarf, ob sich
sein Angstbild auf das Rotkäppchenmärd1en bezogen habenS.
314 Märdznulofle
könne. Dies Märchen gibt nur Anlaß zu zwei Illustrationen,
zur Begegnung des Rotkäppdxens mit dem Wolf im Walde
und zur Szene, wo der Wolf mit der Haube der Großmutter
im Bene liegt. Es müsse Sidi also ein anderes Märdien hinter
der Erinnerung an das Bild verbergen. Er fand dann bald,
daß es nur die Geschichte vom Wolf und den sieben
G eiß 1 e i n sein könne. Hier findet sich die Siebenzahl, aber
auch die Sechs, denn der Wolf frißt nur sechs Geißlein auf,
das siebente versteckt sich im Uhrkasten. Auch das Weiß
kommt in dieser Geschichte vor, denn der Wolf läßt sid: beim
Bäcker die Pfote weiß machen, nadidem ihn die Geißlein bei
seinem ersten Besuch an der grauen Pfote erkannt haben.
Beide Märd1en haben übrigens viel Gemeinsames. In beiden
findet sich das Auffressen, das Baud-raufsd‘meiden, die Heraus—
beförderung der gefressenen Personen, deren Ersatz durch
schwere Steine, und endlich kommt in beiden der böse Wolf
um. Im Märdien von den Geißlein kommt auch noch der
Baum vor. Der Wolf legt sidi nadi der Mahlzeit unter einen
Baum und 4sd1nardit.ld: werde midi mit diesem Traum wegen eines besonderen
Umstandes noch an anderer Stelle besd'1äftigen müssen und
ihn dann eingehender deuten und würdigen.4 Es ist ja ein
erster aus der Kindheit erinnerter Angsttraum, dessen Inhalt
im Zusammenhang mit anderen Träumen, die bald nachher
erfolgten, und mit gewissen Begebenheiten in der KinderZeit
des Träumers ein Interesse von ganz besonderer Art wad1ru&.
Hier beschränken wir uns auf die Beziehung des Traumes zu
zwei Märchen, die viel Gemeinsames haben, zum „Rotkäpp—
d1en“ und zum „Wolf und die sieben Geißlein“. Der Eindruck
dieser Märchen äußerte sich bei dem kindlichen Träumer in
einer richtigen Tierphobie, die sich von anderen ähnlichen4) Siehe „Aus der Geschichte einer infantilen Neurose“ in
Band VIII der Ges. Schriften.S.
in Träumen 31 ;
Fällen nur daduräi auszeiclmete, daß das Angsttier nicht ein
der Wahrnehmung leién: zugängliehes Objekt war (wie etwa
Pferd und Hund), sondern nur‘aus Erzählung und Bilderbud1
gekannt war. ’Iä1 werde ein andermal auseinandersetzen, welche Er-
klärung diese Tierphobien haben und welche Bedeutung ihnen
zukommt. Vorgreifend bemerke ich nur, daß diese Erklärung
sehr zu dem Haupteharakter stimmt, welchen die Neurose des
Träumers in späteren Lebenszeiten erkennen ließ. Die Angst
vor dem Vater war das stärkste Motiv seiner Erkrankung
gewesen, und die ambivalente Einstellung zu jedem Vater-
ersatz beherrschte sein Leben wie sein Verhalten in der Be-
handlung.Wenn der Wolf bei meinem Patienten nur der erste Vater-
ersatz war, so fragt es sich, ob die Märdren vom Wolf, der
die Geißlein auffrißt, und vom Rotkäppchen etwas anderes
als die infantile Angst vor dem Vater zum geheimen Inhalt
haben.“ Der Vater meines Patienten hatte übrigens die Eigen-
tümlichkeit des „zättliehen Schimpfiens“, die so
viele Personen im Umgang mit ihren Kindern zeigen, und die
scherzhafte Drohung: „Ich fress’ did] auf“, mag in den ersten
Jahren, als der später strenge Vater mit dem Söhnlein zu
spielen und zu kusen pflegte, mehr als einmal geäußert werden
sein. Eine meiner Patientinnen erzählte mir, daß ihre beiden
Kinder den Großvater nie liebgewinnen konnten, weil er sie
in seinem zärtlid'1en Spiel zu schrecken pflegte, er werde ihnen
den Bauch aufsdmeiden.;) Vgl. die von O. Rank hervorgehobene Ähnlichkeit dieser
beiden Märchen mit dem Mythus von Krems (Völkerpsydmlogisdne
Parallelen zu den infantilcn Sexualtheorien; Zentralblatt für Psycho-
analyse, II, r9u); abgedruckt in Rank‚ „Psydxoanalytisehe Beiv
träge zur Mythenforsd1ung“, :. Auflage, Wien 1921).
freud-1931-sexualtheorie
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