Märchenstoffe in Träumen 1913-006/1931
  • S.

    MÄRCHENSTOFFE IN TBÄUMEN
    (um)

    Es ist keine Überraschung, audi aus der Psyduoanalyse zu
    erfahren, welche Bedeutung unsere Volksn1ärd1cn für das
    Seelenieben unserer Kinder gewonnen haben. Bei einigen
    Menschen hat: sich die Erinnerung an ihre Lieblingsmärduen
    an die Stelle eigener Kindheitserinnerungen gesetzt; sie haben
    die Märdien zu Deckerinnerungen erhoben.

    Elemente und Situationen, die aus diesen Märchen kommen,
    finden Sid'l. nun audi häufig in Träumen. Zur Deutung der
    betrefienden Stellen fällt den Analysierten das für sie be—
    deutungsvnlle Märchen ein. Von diesem sehr gewöhnlichen
    Vorkommnis will id: hier zwei Beispiele anführen. Die Be
    ziehungen der Märchen zur Kindheitsgesd1ichte und zur
    Neurose der Träumer werden aber nur angedeutet werden
    können, auf die Gefahr hin, die dem Analytiker wertvollsten
    Zusammenhänge zu zerreißen.

    I

    Traum einer jungen Frau, die vor wenigen Tagen den
    Besudx ihres Mannes empfangen hat: Sie in in einem ganz
    braunen Zimmer. Duni; eine kleine Tür kommt man auf eine
    :teile Stiege, und iiber diem kommt ein Jonderbnre; Männlein
    im Zimmer, klein, mit: weißen Haaren, Glatze und roter
    Nase, da: im Zimmer war ihr berumtanzt, sich :ebr komisd:

  • S.

    Märchenerfi£ in Träumen 309

    gebärdet und dann wieder zur Stiege berabgehz. Es ist in
    ein graue: Gewand gekleidet, welche: alle Formen erkennen
    läßt. (Korrektur: Es trägt einen langen id::warzen Rock und
    eine graue Hose.)

    A n a. l y s e: Die Personsbesdueibung des Männleins paßt
    ohne weitere Veränderung1 auf ihren Sd1wiegervater. Dann
    fällt ihr aber sofort das Märchen von R u m p e l s t i 1 2-
    ch e n ein, der so komisch wie der Mann im Träume hemm—
    tanzt und dabei der Königin seinen Namen verrät. Dadurch
    hat er aber seinen Anspruch auf das erste Kind der Königin
    verloren und reißt sich in der Wut selbst mitten entzwei.

    Am Traumtag war sie, selbst so wütend auf ihren Mann
    und äußerte: Ich könnte ihn mitten mtzweireißen.

    Das braune Zimmer macht zunächst Schwierigkeiten. Es
    fällt ihr nur das Speisezimmer ihrer Eltern ein, das so
    — holzbraun -— getäfelt ist, und dann erzählt sie Geschichten
    von Betten, in denen man zu zweien so unbequem sd1läfi. Vor
    einigen Tagen hat sie, als von Betten in anderen Ländern
    die. Rede war, etwas sehr Ungesd1idrtes gesagt, — in harm-
    loser Absicht, meint sie, — worüber ihre Gäellsdmfl'. fiirditfl-
    lich lachen mußte.

    Der Traum ist nun bereits verständlidm. Das holzbraune
    Zimmer” ist zunächst das Bett, durch die Beziehung auf das
    Speisezimmer ein Ehebett.3 Sie befindet sich also im Ehebett.
    Der Besucher sollte ihr junger Mann sein, der nach mehr-
    monatiger Abwesenheit zu ihr gekommen war, um seine Rolle
    im Ehebett zu spielen. Es ist aber zunächst der Vater des
    Mannes, der Schwiegervater.

    1) Bis auf das Detail kurzgesdmittener Haare, während der
    Sd-rwiegervater das Haar lang trägt.

    ;) Holz wie bekannt häutig weibliches, mütterliches Symbol
    (materia, Madeira usw.).

    3) Tisdr und Bett repräsentieren ja die Ehe.

  • S.

    3m Märdtemtafie

    Hinter dieser ersten Deutung blidst man auf eine tiefer-
    liegende rein sexuellen Inhalts. Das Zimmer ist jetzt die
    Vagina. (Das Zimmer ist in ihr, im Traume umgekehrt.) Der
    kleine Mann, der seine Grimassen madit und sich so komisch
    benimmt, ist der Penis; die enge Tür und die steile Treppe
    bestätigen die Auffassung der Situation als einer Koitusdar-
    stellung. Wir sind sonst gewöhnt, daß das Kind den Penis
    symbolisiert, werden aber verstehen, daß es einen guten Sinn
    hat, wenn hier der Vater zur Vertretung des Penis heran-
    gezogen wird.

    Die Auflösung des ned! zurückgehaltenen Restes vom
    Traume wird uns in der Deutung ganz sicher machen. Das
    durchscheinende graue Gewand erklärt sie selbst als Kondom.
    Wir dürfen erfahren, daß Interessen der Kinderverhütung,
    Besorgnisse, ob nidit dieser Besuch des Mannes den Keim zu
    einem zweiten Kind gelegt, zu den Anregern dieses Traumes
    gehören.

    Der schwarze Rock: Ein sold1er steht ihrem Marine aus—
    gezeichnet. Sie Will ihn beeinflussen, daß er ihn immer trage
    anstatt seiner gewöhnlidlen Kleidung. Im schwarzen Rod: ist;
    ihr Mann also so, wie sie ihn gern sieht. Schwarzer Rock und
    graue Hose: das heißt aus zwei versd1iedenen, einander über—
    ded(enden Schid1ten: So> gekleidet Will id] dich haben. So
    gefällst du mir.

    Rumpelstilzd1en verknüpft sich mit den aktuellen Gedanken
    des Traumes — den Tagesresten — durd1 eine schöne Gegen—
    satzbeziehung. Er kommt im Märdien, um der Königin das
    erste Kind zu nehmen; der kleine Mann im Traum kommt
    als Vater, weil er wahrscheirflich ein zweites Kind gebracht
    hat. Aber Rumpelstilzchen vermittelt auch den Zugang zur
    tieferen, infantilen Schid1t der Traumgeclanken. Der passier—
    lidie kleine Kerl, dessen Namen man nidmt einmal weiß,
    dessen Geheimnis man kennen möchte, der so außerordentliche

  • S.

    in Träumen ;! 1

    Kunststücke kann (im Märchen Stroh in Gold verwandeln)
    —— die Wut, die man gegen ihn hat, eigentlich gegen seinen
    Besitzer, den man um diesen Besitz beneidet, der Penisneid
    der Mäddien, —- das sind Elemente, deren Beziehung zu den
    Grundlagen der Neurose, wie gesagt, hier nur gestreifl werden
    soll. Zum Kastrationsthema gehören wohl audi die geschnit-
    tenen Haare des Männdiens im Traume.

    Wenn man in durchsichtigen Beispielen darauf achten wird,
    was der Träumer mit dem Märchen Kredit, und an welche
    Stelle er es setzt, so wird man dadurch vielleidit auch Winke
    für die noch ausstehende Deutung dieser Märchen selbst ge-
    winnen.

    II

    Ein junger Mann, der einen Anhalt für seine Kindheits-
    erinnerungen in dern Umstande findet, daß seine Eltern ihr
    bisheriges Landgut gegen ein anderes vertausehten, als er noch
    nicht fünf jahre war, erzählt als seinen frühesten Traum,
    der noch auf dem ersten Gut vorgefallen, folgendes:

    „Id; habe geträumt, daß es Nacht ist und ich in meinem
    Bett liege (mein Bett stand mit dem Füßende gegen das
    Fenster, vor dem Fenster'hefand sich eine Reihe alter Null—
    bäume; ich weiß, es war Winter, als ich träumte, und Nacht—
    zeit). Plötzlid; geht das Fenster von selbst auf, und ich sehe
    mit großem Scbrecleen, daß auf dem großen Nußbaum vor
    dem Fenster ein paar weiße Wölfe sitzen. Es waren ‚tech;
    oder sieben Stück. Die Wölfe waren ganz weiß und sehen
    aber an; wie Füchse oder Schäferhunde, denn sie hatten große
    Schwänze wie Füchse und ihre Ohren waren aufgestellt wie
    bei den Hunden, wenn sie auf etwa; passen. Unter großer
    Angst, offenbar von den Wölfen aufgefrenen zu werden,
    ;cbrie ich auf und erwachte. Meine Kinderfrau eilte zu meinem
    Bett, um nadizuselien, was mit mit geschehen war. Es dauerte

  • S.

    311 Märdremtolfe

    eine ganze Weile, bis ich überzeugt war, es sei nur ein Traum
    gewesen, so natürlid1 und deutlich war mir das Bild vor-
    gekommen, wie das Fenster aufgeht und die Wölfe auf dem
    Baume sitzen. Endlich beruhigte ich mich, fühlte mich wie von
    einer Gefahr befreit und schlief wieder ein.“

    „Die einzige Aktion im Traume war das Aufgehen des
    Fensters, denn die Wölfe saßen ganz ruhig ohne jede Be-
    wegung auf den Pisten des Baumes, red1ts und links vom
    Stamm und schauten mich an. Es sah so aus, als ob sie ihre
    ganze Aufmerksamkeit auf mich gerichtet hätten. —— Ich
    glaube, dies war mein erster Angsttraum. Id1 war damals
    drei, vier, höchstens fünf Jahre alt. Bis in mein elftes oder
    zwölftes Jahr hatte ich von da an immer Angst, etwas
    Sdlrecklidws im Traum zu sehen.“

    Er gibt dann noch eine Zeid1nung des Baumes mit den
    Wölfeu, die seine Beschreibung bestätigt. Die Analyse des
    Traumes fördert nachstehendes Material zutage.

    Er hat diesen Traum immer in Beziehung zu der Erinnerung
    gebracht, daß er in diesen Jahren der Kindheit eine ganz
    ungeheuerliche Angst vor dem Bilde eines Wolfes in einem
    Märdtenbuehe zeigte. Die ältere, ihm red1t überlegene
    Schwester pflegte ihn zu necken, indem sie ihm unter irgend—
    einem Vorwand gerade dieses Bild vorhielt, worauf er ent-
    setzt zu schreien begann. Auf diesem Bilde stand der Wolf
    aufrecht, mit einem Fuß ausschreitend, die Tatzen ausgestreckt
    und die Ohren aufgestellt. Er meint, dißes Bild habe als
    Illustration zum Märdien von Rotkäppchen gehört.

    Warum sind die Wölfe weiß? Das läßt ihn an die Schafe
    denken, von denen große Herden in der Nähe des Gutes
    gehalten wurden. Der Vater nahm ihn gelegentlidi mit, diese
    Herden zu besuchen, und er war dann jedesmal sehr stolz
    und selig. Später — nach eingezogenen Erkundigungen kann
    es leicht kurz vor der Zeit dieses Trauma gewesen sein —

  • S.

    in Träumen 31 3

    brach unter diesen Sd1afen eine Seuche aus. Der Vater ließ
    einen P a s te 11 r schüler kommen, der die Tiere impfte, aber
    sie starben nach der Impfung nad: zahlreid1er als vorhin.

    Wie kommen die Wölfe auf den Baum? Dazu fällt ihm
    eine Geschid'ite ein, die er den Großvater erzählen gehört.
    Er kann sich nicht erinnern, ob vor oder nach dem Traume,
    aber ihr Inhalt spridlt entschieden für das erstere. Die Ge-
    schichte lautet: Ein Schneider sitzt in seinem Zimmer bei der
    Arbeit, da öffnet sich das Fenster und ein Wolf springt herein.
    Der Sdmeider schlägt mit der Elle nach ihm -—— nein, ver-
    bessert er sid], pad—rt ihn beim Schwanz und reißt ihm diesen
    aus, so daß der Wolf ersdiredst davonrennt. Eine Weile später
    geht der Schneider in den Wald und sieht plötzlidi ein Rudel
    Wölfe herankomrnen, vor denen er sich auf einen Baum
    flüchtet. Die Wölfe sind zunächst ratlos, aber der verstiim-
    melte, der unter ihnen ist und Sidi am Schneider räd1en will,
    macht den Vorschlag, daß einer auf den anderen steigen soll,
    bis der letzte den Schneider erreicht hat. Er selbst — er ist
    ein kräftiger Alter — Will die Basis dieser Pyramide machen.
    Die Wölfe tun so, aber der Schneider hat den gezüchtigten
    Besucher erkannt und ruft plötzlich wie damals: Padst den
    Grauen beim Sd1wanz. Der sd1wanzlose Wolf erschridrt bei
    dieser Erinnerung, läuft davon und die anderen purzeln alle
    herab. >
    In dieser Erzählung findet sich der Baum vor, auf dem im
    Traume die Wölfe sitzen. Sie enthält aber auch eine unzwei-
    deutige Ankniipfung an den Kastrationskomplex. Der alte
    Wolf ist vom Schneider um den Schwanz gebracht werden.
    Die Fuchsschwänze der Wölfe im Traum: sind wohl Kom—
    pensationen dieser Schwanzlosigkeit.

    Warum sind es sechs oder sieben Wölfe? Diese Frage sdiieti
    nicht zu beantworten, bis ich den Zweifel aufwarf, ob sich
    sein Angstbild auf das Rotkäppchenmärd1en bezogen haben

  • S.

    314 Märdznulofle

    könne. Dies Märchen gibt nur Anlaß zu zwei Illustrationen,
    zur Begegnung des Rotkäppdxens mit dem Wolf im Walde
    und zur Szene, wo der Wolf mit der Haube der Großmutter
    im Bene liegt. Es müsse Sidi also ein anderes Märdien hinter
    der Erinnerung an das Bild verbergen. Er fand dann bald,
    daß es nur die Geschichte vom Wolf und den sieben
    G eiß 1 e i n sein könne. Hier findet sich die Siebenzahl, aber
    auch die Sechs, denn der Wolf frißt nur sechs Geißlein auf,
    das siebente versteckt sich im Uhrkasten. Auch das Weiß
    kommt in dieser Geschichte vor, denn der Wolf läßt sid: beim
    Bäcker die Pfote weiß machen, nadidem ihn die Geißlein bei
    seinem ersten Besuch an der grauen Pfote erkannt haben.
    Beide Märd1en haben übrigens viel Gemeinsames. In beiden
    findet sich das Auffressen, das Baud-raufsd‘meiden, die Heraus—
    beförderung der gefressenen Personen, deren Ersatz durch
    schwere Steine, und endlich kommt in beiden der böse Wolf
    um. Im Märdien von den Geißlein kommt auch noch der
    Baum vor. Der Wolf legt sidi nadi der Mahlzeit unter einen
    Baum und 4sd1nardit.

    ld: werde midi mit diesem Traum wegen eines besonderen
    Umstandes noch an anderer Stelle besd'1äftigen müssen und
    ihn dann eingehender deuten und würdigen.4 Es ist ja ein
    erster aus der Kindheit erinnerter Angsttraum, dessen Inhalt
    im Zusammenhang mit anderen Träumen, die bald nachher
    erfolgten, und mit gewissen Begebenheiten in der KinderZeit
    des Träumers ein Interesse von ganz besonderer Art wad1ru&.
    Hier beschränken wir uns auf die Beziehung des Traumes zu
    zwei Märchen, die viel Gemeinsames haben, zum „Rotkäpp—
    d1en“ und zum „Wolf und die sieben Geißlein“. Der Eindruck
    dieser Märchen äußerte sich bei dem kindlichen Träumer in
    einer richtigen Tierphobie, die sich von anderen ähnlichen

    4) Siehe „Aus der Geschichte einer infantilen Neurose“ in
    Band VIII der Ges. Schriften.

  • S.

    in Träumen 31 ;

    Fällen nur daduräi auszeiclmete, daß das Angsttier nicht ein
    der Wahrnehmung leién: zugängliehes Objekt war (wie etwa
    Pferd und Hund), sondern nur‘aus Erzählung und Bilderbud1
    gekannt war. ’

    Iä1 werde ein andermal auseinandersetzen, welche Er-
    klärung diese Tierphobien haben und welche Bedeutung ihnen
    zukommt. Vorgreifend bemerke ich nur, daß diese Erklärung
    sehr zu dem Haupteharakter stimmt, welchen die Neurose des
    Träumers in späteren Lebenszeiten erkennen ließ. Die Angst
    vor dem Vater war das stärkste Motiv seiner Erkrankung
    gewesen, und die ambivalente Einstellung zu jedem Vater-
    ersatz beherrschte sein Leben wie sein Verhalten in der Be-
    handlung.

    Wenn der Wolf bei meinem Patienten nur der erste Vater-
    ersatz war, so fragt es sich, ob die Märdren vom Wolf, der
    die Geißlein auffrißt, und vom Rotkäppchen etwas anderes
    als die infantile Angst vor dem Vater zum geheimen Inhalt
    haben.“ Der Vater meines Patienten hatte übrigens die Eigen-
    tümlichkeit des „zättliehen Schimpfiens“, die so
    viele Personen im Umgang mit ihren Kindern zeigen, und die
    scherzhafte Drohung: „Ich fress’ did] auf“, mag in den ersten
    Jahren, als der später strenge Vater mit dem Söhnlein zu
    spielen und zu kusen pflegte, mehr als einmal geäußert werden
    sein. Eine meiner Patientinnen erzählte mir, daß ihre beiden
    Kinder den Großvater nie liebgewinnen konnten, weil er sie
    in seinem zärtlid'1en Spiel zu schrecken pflegte, er werde ihnen
    den Bauch aufsdmeiden.

    ;) Vgl. die von O. Rank hervorgehobene Ähnlichkeit dieser
    beiden Märchen mit dem Mythus von Krems (Völkerpsydmlogisdne
    Parallelen zu den infantilcn Sexualtheorien; Zentralblatt für Psycho-
    analyse, II, r9u); abgedruckt in Rank‚ „Psydxoanalytisehe Beiv
    träge zur Mythenforsd1ung“, :. Auflage, Wien 1921).