Märchenstoffe in Träumen 1913-006/1918
  • S.

    VIH.
    MÄRCHENSTOFFE IN TRÄUMEN.‘)

    Es ist keine Überraschung, auch aus der Psychoanalyse
    zu erfahren, welche Bedeutung unsere Volksmärchen für das
    Seelenleben unserer Kinder gewonnen haben. Bei einigen
    Menschen hat sich die Erinnerung an ihre Lieblingsmärchen
    an die Stelle eigener Kindheitserinnerungen gesetzt; sie haben
    die Märchen zu Deckerinnerungen erhoben.

    Elemente und Situationen, die aus diesen Märchen kom—
    men, finden sich nun auch häufig in Träumen. Zur Deutung
    der betreffenden Stellen fällt den Analysierten das für sie
    bedeutungsvolle Märchen ein. Von diesem sehr gewöhnlichen
    Vorkommnis will ich hier zwei l3eispiele anfiihren. Die Be—
    ziehungen der Märchen zur Kindheitsgeschichte und zur
    Neurose der Träumer werden aber nur angedeutet werden
    können, auf die Gefahr hin, die dem Analytiker wertvollsten
    Zusammenhänge zu zerreißen.

    I.

    Traum einer jungen Frau, die vor wenigen Tagen den
    Besuch ihres Mannes empfangen hat: Sie ist in einem
    ganz braunen Zimmer. Durch eine kleine Tür
    kommt man auf eine steile Stiege, und über diese
    kommt ein sonderbares Männlein ins Zimmer,

    *) Intern. Zeitschr. für ärztl. Psychoanalyse, I, 1913.

  • S.

    VIII. MÄRCHENSTOFFE m TRÄUMEN. 169

    klein, mit weißen Haaren, Glatze und roter Nase,
    des im Zimmer vor ihr herumtanzt, sich sehr
    komisch' gebä.rdet und. dann wieder zur Stiege
    herabgeht. Es ist in ein graues Gewand geklei—
    det, welches alle Formen erkennen läßt. (Kor-
    rektur: Es trägt einen langen schwarzen Rock
    und eine graue Hose.) V

    Analyse: Die Personsbeschreibung des Männleins paßt
    ohne weitere Veränderung*) auf ihren Schwiegervater. Dann
    fällt ihr aber sofort das Märchen von Rumpelstilzchen
    ein, der so komisch wie der Mann im Traume hemmtanzt
    und dabei der Königin seinen Namen verrät. Dadurch hat
    er aber seinen Anspruch auf das erste Kind der Königin ver-
    loren und reißt sich in der Wut selbst mitten entzwei.

    Am Traumta‚g war sie selbst so wütend auf ihren Mann
    und äußerte: Ich könnte ihn mitten entzweireißen.

    Das braune Zimmer macht zunächst Schwierigkeiten. Es
    fällt ihr nur das Speisezimmer ihrer Eltern ein, das so —
    holzbraun — getäfelt ist, und dann erzählt sie Geschichten
    von Betten, in denen man zu zweien so unbequem schläft.
    Vor einigen Tagen hat sie, als von Betten in anderen Län—
    dern die Rede war, etwas sehr Ungeschicktes gesagt — in
    harmloser Absicht, meint sie —‚ worüber ihre Gesellschaft
    fürchterlich lachen mußte.

    Der Traum ist nun bereits verständlich. Das holzbra.une
    Zimmer**) ist zunächst das Bett, durch die Beziehung auf
    das Speisezinuner ein Ehebett.***‚) Sie befindet sich also im

    *) Bis auf das Detail kungeschnittener Haare, wihrend der Schwie-
    gervater das Haar lang trägt.

    **) Holz wie bekannt häufig weibliches, miitterliches Symbol (materia,
    M ad eine. usw.).

    ***) Tisch und Bett repräsentieren je. die Ehe.

  • S.

    170 SCHRIFI‘EN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.

    Ehebett. Der Besucher sollte ihr junger Mann sein, der nach
    mehrmonatlicher Abwesenheit zu ihr gekommen war, um seine
    Rolle im Ehebett zu spielen. Es ist; aber zunächst der Vater
    des Mannes, der Schwiegervater.

    Hinter dieser ersten Deutung blickt man auf eine tiefer
    liegende, rein sexuellen Inhaltes. Das Zimmer ist jetzt die
    Vagina. (Das Zimmer ist in ihr, im Traume umgekehrt.)
    Der kleine Mann, der seine Grimassen macht und sich so
    komisch benimmt, ist der Penis; die enge Tür und die steile
    Treppe bestätigen die Auffassung der Situation als einer
    Koit—usdarstellung. Wir sind sonst gewöhnt, daß das Kind
    den Penis symbolisiert, werden aber verstehen, daß es einen
    guten Sinn hat, wenn hier der Vater zur Vertretung des
    Penis herangezogen wird.

    Die Auflösung des noch zurückgehaltenen Bestes vom
    Traume wird uns in der Deutung ganz sicher machen. Das
    durchscheinende graue Gewand erklärt sie selbst als Kondom.
    ‚Wir dürfen erfahren, daß Interessen der Kinderverhütung,
    Besorgnisse, ob nicht dieser Besuch des Mannes den Keim
    zu einem zweiten Kind gelegt, zu den Anlegern dieses Trau-
    mes gehören. }

    Der schwarze Rock: Ein solcher steht ihrem Marine aus-
    gezeichnet. Sie will ihn beeinflussen, daß er ihn immer trage
    anstatt seiner gewöhnlicher Kleidung. Im schwarzen Rock
    ist ihr Mann also so, wie sie ihn gern sieht. Schwarzer Rock
    und graue Hose: das heißt aus zwei verschiedenen, einander
    überdeekenden Schichten. So gekleidet will ich dich haben.
    So geiällst du mir

    Rumpelstilzchen verknüpft sich mit den aktuellen Ge-
    danken des Traumes — den Tagesresten —— durch eine schöne
    Gegensatzbeziehung. Er kommt im Märchen, um der Königin

  • S.

    VIII. MÄRCH.ENSTOFFE m TRÄUMEN. 171

    das erste Kind zu nehmen; der kleine Mann im Traum kommt
    als Vater, weil er wahrscheinlich ein zweites Kind gebracht
    hat. Aber Rumpelstilzchen vermittelt auch den Zugang zur
    tieferen, infantilen Schicht der Traumgedanken. Der passier-
    1iche kleine Kerl, dessen Namen man nicht einmal weiß,
    dessen Geheimnis man kennen möchte, der so außerordent—
    liche Kunststiicke kann (im Märchen Stroh in Gold ver-
    wiiaindcln) — die Wut, die man gegen ihn hat, eigentlich
    gegen seinen Besitzer, den man um diesen Besitz beneidet,
    der Penisneid der Mädchen ——-, das sind Elemente, deren
    Beziehung zu den Grundlagen der Neurose, wie gesagt, hier
    nur gestreift werden soll. Zum Kastrationsthema‚ gehören
    wohl auch die geschnittenen Haare des Männchens im Traume.

    Wenn man in durchsichtigen Beispielen darauf achten
    wird, was der Träumer rnit dem Märchen macht,» und an
    welche Stelle er es setzt, so wird man dadurch vielleicht
    auch Winke für die noch ausstehende Deutung dieser Mär-
    chen selbst gewinnen.

    II.

    Ein junger Mann, der einen Anhalt für seine Kindheits—
    erinnerungen in dem Umstande findet, daß seine Eltern ihr
    bisheriges Landgut gegen ein anderes verteuschten, als er
    noch nicht fünf Jahre war, erzählt als seinen frühesten Traum,
    der noch auf dem ersten Gut vorgefellen, folgendes:

    „Ich habe geträumt, daß es Nacht ist und ich
    in meinem Bett liege (mein Bett stand mit; dem
    Fußende gegen das Fenster, vor dem Fenster
    befand sich eine Reihe alter Nußbäume. Ich
    weiß, es war Winter, als ich träumte und Nacht-
    zeit). Plötzlich geht das Fenster von selbst
    auf, und ich sehe mit großem Schrecken, daß

  • S.

    172 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHBE. IV.

    auf dem großen Nußbaum vor dem Fenster ein
    paar weiße Wölfe sitzen. Es waren sechs oder
    sieben Stück. Die Wölfe waren ganz weiß und.
    sahen eher aus wie Füchse oder Schäferhunde,
    denn sie hatten große Schwänze wie Füchse und.
    ihre Ohren waren aufgestellt wie bei den Hun—
    den, wenn sie auf etwas passen. Unter großer
    Angst, offenbar von den Wölfen aufgefressen zu
    werden, schrie ich au f und erwachte_. Meine Kin-
    derfrau eilte zu meinem Bett, um nachzusehen, was mit mir
    geschehen war. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich über-
    zeugt war, es sei nur ein Traum gewesen, so natürlich und
    deutlich war mir das Bild vorgekommen, wie das Fenster
    aufgeht und die Wölfe auf dem Baume sitzen. Endlich be-
    ruhigte ich mich, fühlte mich wie von einer Gefahr befreit
    und schlief wieder ein.“

    „Die einzige Aktion im Traume war das Aufgehen des
    Fensters, denn die Wölfe saßen ganz ruhig ohne jede Be—
    wegung auf den Ästen des Baumes, rechts und links vom
    Stamm und schauten mich an. Es sah so aus, als ob sie
    ihre ganze Aufmerksamkeit auf mich gerichtet hätten. ——
    Ich glaube, dies war mein erster Angsttraum. Ich war da-
    mals drei, vier, höchstens fünf Jahre alt. Bis in mein elftes
    oder zwölftes Jahr hatte ich von da an immer Angst, etwas
    Schreckliches im Traume zu sehen.“

    Er gibt dann noch eine Zeichnung des Baumes mit den
    Wölfen, die seine Beschreibung bestätigt. Die Analyse des
    Traum es fördert nachstehendes Material zu Tage.

    Er hat diesen Traum immer in Beziehung zu der Er—
    innerung gebracht, daß er in diesen Jahren der Kindheit eine
    ganz ungeheuerliche Angst vor dem Bilde eines Wolfes in

  • S.

    VIII. MÄRCHENSTOFFE IN 'I‘RÄUM‘EN. 173

    einem Märchenbuche zeigte. Die ältere, ihm recht überlegene
    Schwester pflegte ihn zu necken7 indem sie ihm unter irgend
    einem Vorwand gerade dieses Bild vorhielt, worauf er ent-
    setzt zu schreien begann. Auf diesem Bilde stand der Wolf
    aufrecht, mit einem Fuß ausschreitend, die Tatzen ausge-
    streckt und die Ohren aufgestellt. Er meint, dieses Bild habe
    als Illustration zum Märchen von Rotkäppchen gehört.

    Warum sind die Wölfe weiß? Das läßt ihn an die
    Schafe denken, von denen große Herden in der Nähe des
    Gutes gehalten wurden. Der Vater nahm ihn gelegentlich
    mit, diese Herden zu besuchen, und. er war dann jedesmal
    sehr stolz und selig. Später — nach eingezogenen Erkun-
    digungen kann es leicht kurz vor der Zeit dieses Traumes
    gewesen sein —, brach unter diesen Schafen eine Seuche aus.
    Der Vater ließ einen Pasteurschüler kommen, der die Tiere
    impfte, aber sie starben nach der Impfung noch zahlreicher
    als vorhin. _

    Wie kommen die Wölfe auf den Baum? Dazu fällt ihm
    eine Geschichte ein, die er den Großvater erzählen gehört.
    Er kann sich nicht erinnern, ob vor oder nach dem Traume,
    aber ihr Inhalt spricht entschieden fiir das erstere. Die Ge-
    schichte lautet: Ein Schneider sitzt in seinem Zimmer bei
    der Arbeit, da, öffnet sich das Fenster und ein Wolf springt
    herein. Der Schneider schlägt mit derElle nach ihm —— nein,
    verbessert er sich, packt ihn beim Schwanz und reißt ihm
    diesen aus, so daß der Wolf erschreckt davonrennt. Eine
    Weile später geht der Schneider in den Wald und sieht
    plötzlich ein Rudel Wölfe herankommen, vor denen er sich
    auf einen Baum flüchtet. Die Wölfe sind zunächst ratlos,
    aber der verstümmelte, der unter ihnen ist und sich am
    Schneider rä.chen will, macht den Vorschlag, daß einer auf

  • S.

    174 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.

    den anderen steigen soll, bis der letzte den Schneider er-
    reicht hat. Er selbst — es ist ein kräftiger Alter —— will
    die Basis dieser Pyramide machen. Die Wölfe tun so, aber
    der Schneider hat den gezüchtigten Besucher erkannt und
    ruft plötzlich wie damals: Packt den Grauen beim Schwanz.
    Der schwanzlose Wolf erschrickt bei dieser Erinnerung, läuft
    davon und die anderen purzeln alle herab. ‘ —'

    In dieser Erzählung findet sich der Baum vor, auf dem
    im Traume die Wölfe sitzen. Sie enthält aber auch eine un-
    zweideutige Anknüpfung an den Kastrationskomplex. Der
    alte Wolf ist vom Schneider um den Schwanz gebracht
    worden. Die Fuchsschwänze der Wölfe im Traume sind wohl
    Kompensationen dieser Schwanzlosigkeit.

    Warum sind es sechs oder sieben Wölfe? Diese Frage
    schien nicht zu beantworten, bis ich den Zweifel aufwarf,
    ob sich sein Angstbild auf das Rotkäppchenmärchen bezogen
    haben könne. Dies Märchen gibt nur Anlaß zu zwei Illustra„
    tionen, zur Begegnung des Rotkäppchens mit dem Wolf im
    Walde und zur Szene, wo der Wolf mit der Haube der Groß-
    mutter im Bette liegt. Es müsse sich also ein anderes Mär—
    chen hinter der Erinnerung an das Bild verbergen. Er fand
    dann bald, daß es nur die Geschichte vom Wolf und den
    sieben Geißlein sein könne. Hier findet sich die Sieben—
    zahl, aber auch die sechs, denn der Wolf frißt nur sechs
    Geißlein auf, das siebente versteckt sich im Uhrkasten. Auch
    das Weiß kommt in dieser Geschichte vor, denn der Wolf
    läßt sich beim Bäcker die Pfote weiß machen, nachdem ihn
    die Geißlein bei seinem ersten Besuch an der grauen Pfote
    erkannt haben. Beide Märchen haben übrigens viel Gemein-
    sames. In beiden findet sich das Auffressen, das Bauch—
    aufschneiden, die Herausbeförderung der gefressenen Per-

  • S.

    VIII. Mäncnmmrorrn IN TRÄUMEN. 175

    sonen, deren Ersatz durch schwere Steine, und endlich kommt
    in beiden der böse Wolf um. Im Märchen von den Geißlein
    kommt auch noch der Baum vor. Der Wolf legt sich nach
    der Mahlzeit unter einen Baum und schnarcht,

    Ich werde mich mit diesem Traum wegen eines beson-
    deren Umstandes noch an anderer Stelle beschäftigen müssen
    und ihn dandeingehender deuten und. würdigen. Es ist ja.
    ein erster aus der Kindheit erinnerter Angsttraum, dessen
    Inhalt im Zusammenhang mit anderen Träumen, die bald
    nachher erfolgten, und mit gewissen Begebenheiten in der
    Kinderzeit des Träumers ein Interesse von ganz besonderer
    Art wachruft. Hier beschränken wir uns auf die Beziehung
    des Traumes zu zwei Märchen, die viel Gemeinsames haben,
    zum „Rotkäppchen“ und zum „Wolf und die sieben Geißlein“.
    Der Eindruck dieser Märchen äußerte sich bei dem kindlichen
    Träumer in einer richtigen Tierphobie, die sich von anderen
    ähnlichen Fällen nur dadurch auszeichnete, daß das Angst-
    tier nicht ein der Wahrnehmung leicht zugängliches Objekt
    war (wie etwa. Pferd und Hund), sondern nur aus Erzählung
    und Bilderbuch gekannt war.

    Ich werde ein andermal auseinandersetzeu, welche Er-
    klärung diese Tierphobien haben und. welche Bedeutung ihnen
    zukommt. Vorgreifend bemerke ich nur, daß diese Erklärung
    sehr zu dem Hauptcharakter stimmt, welchen die Neurose
    des Träumen; in späteren Lebenszeiten erkennen ließ. Die
    Angst vor dem Vater war das stärkste Motiv seiner Erkran-
    kung gewesen, und die ambivalente Einstellung zu jedem
    Vaterersatz beherrschte sein Leben wie sein Verhalten in der
    Behandlung.

    Wenn der Wolf bei meinem Patienten nur der erste
    Vaterersatz war, so fragt es sich, ob die Märchen vom Wolf,

  • S.

    176 SCHRIFTEN ZUR NEUBOSENLEHRE. IV.

    der die Geißlein auffrißt, und vom Rotkäppchen etwas an-
    deres als die infantile Angst vor dem Vater zum geheimen
    Inhalt haben.*) Der Vater meines Patienten hatte übrigens
    die Eigentümlichkeit des „zärtlichen Schimpfens“, die
    so viele Personen im Umgang mit ihren Kindern zeigen, und
    die scherzha.fte Drohung: „Ich fress’ dich auf“ mag in den
    ersten Jahren, als der später strenge Vater mit dem Söhnlein
    zu spielen und zu kosen pflegte, mehr als einmal geäußert
    werden sein. Eine meiner Patientinnen erzählte mir, daß ihre
    beiden Kinder den Großvater nie lieb gewinnen konnten, weil
    er sie in seinem zärtlichen Spiel zu schrecken pflegte, er
    werde ihnen den Bauch aufschneiden.

    *) Vgl. die von 0, Rank hervorgehobene Ähnlichkeit dieser beiden
    Märchen mit dem Mythus von Kronos. (Völkerpsychologische Parallelen
    zu den infiuitilen Sexualtheorien; Zentralblatt für Psychoanalyse, II, 8.)