S.
VIH.
MÄRCHENSTOFFE IN TRÄUMEN.‘)Es ist keine Überraschung, auch aus der Psychoanalyse
zu erfahren, welche Bedeutung unsere Volksmärchen für das
Seelenleben unserer Kinder gewonnen haben. Bei einigen
Menschen hat sich die Erinnerung an ihre Lieblingsmärchen
an die Stelle eigener Kindheitserinnerungen gesetzt; sie haben
die Märchen zu Deckerinnerungen erhoben.Elemente und Situationen, die aus diesen Märchen kom—
men, finden sich nun auch häufig in Träumen. Zur Deutung
der betreffenden Stellen fällt den Analysierten das für sie
bedeutungsvolle Märchen ein. Von diesem sehr gewöhnlichen
Vorkommnis will ich hier zwei l3eispiele anfiihren. Die Be—
ziehungen der Märchen zur Kindheitsgeschichte und zur
Neurose der Träumer werden aber nur angedeutet werden
können, auf die Gefahr hin, die dem Analytiker wertvollsten
Zusammenhänge zu zerreißen.I.
Traum einer jungen Frau, die vor wenigen Tagen den
Besuch ihres Mannes empfangen hat: Sie ist in einem
ganz braunen Zimmer. Durch eine kleine Tür
kommt man auf eine steile Stiege, und über diese
kommt ein sonderbares Männlein ins Zimmer,*) Intern. Zeitschr. für ärztl. Psychoanalyse, I, 1913.
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VIII. MÄRCHENSTOFFE m TRÄUMEN. 169
klein, mit weißen Haaren, Glatze und roter Nase,
des im Zimmer vor ihr herumtanzt, sich sehr
komisch' gebä.rdet und. dann wieder zur Stiege
herabgeht. Es ist in ein graues Gewand geklei—
det, welches alle Formen erkennen läßt. (Kor-
rektur: Es trägt einen langen schwarzen Rock
und eine graue Hose.) VAnalyse: Die Personsbeschreibung des Männleins paßt
ohne weitere Veränderung*) auf ihren Schwiegervater. Dann
fällt ihr aber sofort das Märchen von Rumpelstilzchen
ein, der so komisch wie der Mann im Traume hemmtanzt
und dabei der Königin seinen Namen verrät. Dadurch hat
er aber seinen Anspruch auf das erste Kind der Königin ver-
loren und reißt sich in der Wut selbst mitten entzwei.Am Traumta‚g war sie selbst so wütend auf ihren Mann
und äußerte: Ich könnte ihn mitten entzweireißen.Das braune Zimmer macht zunächst Schwierigkeiten. Es
fällt ihr nur das Speisezimmer ihrer Eltern ein, das so —
holzbraun — getäfelt ist, und dann erzählt sie Geschichten
von Betten, in denen man zu zweien so unbequem schläft.
Vor einigen Tagen hat sie, als von Betten in anderen Län—
dern die Rede war, etwas sehr Ungeschicktes gesagt — in
harmloser Absicht, meint sie —‚ worüber ihre Gesellschaft
fürchterlich lachen mußte.Der Traum ist nun bereits verständlich. Das holzbra.une
Zimmer**) ist zunächst das Bett, durch die Beziehung auf
das Speisezinuner ein Ehebett.***‚) Sie befindet sich also im*) Bis auf das Detail kungeschnittener Haare, wihrend der Schwie-
gervater das Haar lang trägt.**) Holz wie bekannt häufig weibliches, miitterliches Symbol (materia,
M ad eine. usw.).***) Tisch und Bett repräsentieren je. die Ehe.
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170 SCHRIFI‘EN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.
Ehebett. Der Besucher sollte ihr junger Mann sein, der nach
mehrmonatlicher Abwesenheit zu ihr gekommen war, um seine
Rolle im Ehebett zu spielen. Es ist; aber zunächst der Vater
des Mannes, der Schwiegervater.Hinter dieser ersten Deutung blickt man auf eine tiefer
liegende, rein sexuellen Inhaltes. Das Zimmer ist jetzt die
Vagina. (Das Zimmer ist in ihr, im Traume umgekehrt.)
Der kleine Mann, der seine Grimassen macht und sich so
komisch benimmt, ist der Penis; die enge Tür und die steile
Treppe bestätigen die Auffassung der Situation als einer
Koit—usdarstellung. Wir sind sonst gewöhnt, daß das Kind
den Penis symbolisiert, werden aber verstehen, daß es einen
guten Sinn hat, wenn hier der Vater zur Vertretung des
Penis herangezogen wird.Die Auflösung des noch zurückgehaltenen Bestes vom
Traume wird uns in der Deutung ganz sicher machen. Das
durchscheinende graue Gewand erklärt sie selbst als Kondom.
‚Wir dürfen erfahren, daß Interessen der Kinderverhütung,
Besorgnisse, ob nicht dieser Besuch des Mannes den Keim
zu einem zweiten Kind gelegt, zu den Anlegern dieses Trau-
mes gehören. }Der schwarze Rock: Ein solcher steht ihrem Marine aus-
gezeichnet. Sie will ihn beeinflussen, daß er ihn immer trage
anstatt seiner gewöhnlicher Kleidung. Im schwarzen Rock
ist ihr Mann also so, wie sie ihn gern sieht. Schwarzer Rock
und graue Hose: das heißt aus zwei verschiedenen, einander
überdeekenden Schichten. So gekleidet will ich dich haben.
So geiällst du mirRumpelstilzchen verknüpft sich mit den aktuellen Ge-
danken des Traumes — den Tagesresten —— durch eine schöne
Gegensatzbeziehung. Er kommt im Märchen, um der KöniginS.
VIII. MÄRCH.ENSTOFFE m TRÄUMEN. 171
das erste Kind zu nehmen; der kleine Mann im Traum kommt
als Vater, weil er wahrscheinlich ein zweites Kind gebracht
hat. Aber Rumpelstilzchen vermittelt auch den Zugang zur
tieferen, infantilen Schicht der Traumgedanken. Der passier-
1iche kleine Kerl, dessen Namen man nicht einmal weiß,
dessen Geheimnis man kennen möchte, der so außerordent—
liche Kunststiicke kann (im Märchen Stroh in Gold ver-
wiiaindcln) — die Wut, die man gegen ihn hat, eigentlich
gegen seinen Besitzer, den man um diesen Besitz beneidet,
der Penisneid der Mädchen ——-, das sind Elemente, deren
Beziehung zu den Grundlagen der Neurose, wie gesagt, hier
nur gestreift werden soll. Zum Kastrationsthema‚ gehören
wohl auch die geschnittenen Haare des Männchens im Traume.Wenn man in durchsichtigen Beispielen darauf achten
wird, was der Träumer rnit dem Märchen macht,» und an
welche Stelle er es setzt, so wird man dadurch vielleicht
auch Winke für die noch ausstehende Deutung dieser Mär-
chen selbst gewinnen.II.
Ein junger Mann, der einen Anhalt für seine Kindheits—
erinnerungen in dem Umstande findet, daß seine Eltern ihr
bisheriges Landgut gegen ein anderes verteuschten, als er
noch nicht fünf Jahre war, erzählt als seinen frühesten Traum,
der noch auf dem ersten Gut vorgefellen, folgendes:„Ich habe geträumt, daß es Nacht ist und ich
in meinem Bett liege (mein Bett stand mit; dem
Fußende gegen das Fenster, vor dem Fenster
befand sich eine Reihe alter Nußbäume. Ich
weiß, es war Winter, als ich träumte und Nacht-
zeit). Plötzlich geht das Fenster von selbst
auf, und ich sehe mit großem Schrecken, daßS.
172 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHBE. IV.
auf dem großen Nußbaum vor dem Fenster ein
paar weiße Wölfe sitzen. Es waren sechs oder
sieben Stück. Die Wölfe waren ganz weiß und.
sahen eher aus wie Füchse oder Schäferhunde,
denn sie hatten große Schwänze wie Füchse und.
ihre Ohren waren aufgestellt wie bei den Hun—
den, wenn sie auf etwas passen. Unter großer
Angst, offenbar von den Wölfen aufgefressen zu
werden, schrie ich au f und erwachte_. Meine Kin-
derfrau eilte zu meinem Bett, um nachzusehen, was mit mir
geschehen war. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich über-
zeugt war, es sei nur ein Traum gewesen, so natürlich und
deutlich war mir das Bild vorgekommen, wie das Fenster
aufgeht und die Wölfe auf dem Baume sitzen. Endlich be-
ruhigte ich mich, fühlte mich wie von einer Gefahr befreit
und schlief wieder ein.“„Die einzige Aktion im Traume war das Aufgehen des
Fensters, denn die Wölfe saßen ganz ruhig ohne jede Be—
wegung auf den Ästen des Baumes, rechts und links vom
Stamm und schauten mich an. Es sah so aus, als ob sie
ihre ganze Aufmerksamkeit auf mich gerichtet hätten. ——
Ich glaube, dies war mein erster Angsttraum. Ich war da-
mals drei, vier, höchstens fünf Jahre alt. Bis in mein elftes
oder zwölftes Jahr hatte ich von da an immer Angst, etwas
Schreckliches im Traume zu sehen.“Er gibt dann noch eine Zeichnung des Baumes mit den
Wölfen, die seine Beschreibung bestätigt. Die Analyse des
Traum es fördert nachstehendes Material zu Tage.Er hat diesen Traum immer in Beziehung zu der Er—
innerung gebracht, daß er in diesen Jahren der Kindheit eine
ganz ungeheuerliche Angst vor dem Bilde eines Wolfes inS.
VIII. MÄRCHENSTOFFE IN 'I‘RÄUM‘EN. 173
einem Märchenbuche zeigte. Die ältere, ihm recht überlegene
Schwester pflegte ihn zu necken7 indem sie ihm unter irgend
einem Vorwand gerade dieses Bild vorhielt, worauf er ent-
setzt zu schreien begann. Auf diesem Bilde stand der Wolf
aufrecht, mit einem Fuß ausschreitend, die Tatzen ausge-
streckt und die Ohren aufgestellt. Er meint, dieses Bild habe
als Illustration zum Märchen von Rotkäppchen gehört.Warum sind die Wölfe weiß? Das läßt ihn an die
Schafe denken, von denen große Herden in der Nähe des
Gutes gehalten wurden. Der Vater nahm ihn gelegentlich
mit, diese Herden zu besuchen, und. er war dann jedesmal
sehr stolz und selig. Später — nach eingezogenen Erkun-
digungen kann es leicht kurz vor der Zeit dieses Traumes
gewesen sein —, brach unter diesen Schafen eine Seuche aus.
Der Vater ließ einen Pasteurschüler kommen, der die Tiere
impfte, aber sie starben nach der Impfung noch zahlreicher
als vorhin. _Wie kommen die Wölfe auf den Baum? Dazu fällt ihm
eine Geschichte ein, die er den Großvater erzählen gehört.
Er kann sich nicht erinnern, ob vor oder nach dem Traume,
aber ihr Inhalt spricht entschieden fiir das erstere. Die Ge-
schichte lautet: Ein Schneider sitzt in seinem Zimmer bei
der Arbeit, da, öffnet sich das Fenster und ein Wolf springt
herein. Der Schneider schlägt mit derElle nach ihm —— nein,
verbessert er sich, packt ihn beim Schwanz und reißt ihm
diesen aus, so daß der Wolf erschreckt davonrennt. Eine
Weile später geht der Schneider in den Wald und sieht
plötzlich ein Rudel Wölfe herankommen, vor denen er sich
auf einen Baum flüchtet. Die Wölfe sind zunächst ratlos,
aber der verstümmelte, der unter ihnen ist und sich am
Schneider rä.chen will, macht den Vorschlag, daß einer aufS.
174 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.
den anderen steigen soll, bis der letzte den Schneider er-
reicht hat. Er selbst — es ist ein kräftiger Alter —— will
die Basis dieser Pyramide machen. Die Wölfe tun so, aber
der Schneider hat den gezüchtigten Besucher erkannt und
ruft plötzlich wie damals: Packt den Grauen beim Schwanz.
Der schwanzlose Wolf erschrickt bei dieser Erinnerung, läuft
davon und die anderen purzeln alle herab. ‘ —'In dieser Erzählung findet sich der Baum vor, auf dem
im Traume die Wölfe sitzen. Sie enthält aber auch eine un-
zweideutige Anknüpfung an den Kastrationskomplex. Der
alte Wolf ist vom Schneider um den Schwanz gebracht
worden. Die Fuchsschwänze der Wölfe im Traume sind wohl
Kompensationen dieser Schwanzlosigkeit.Warum sind es sechs oder sieben Wölfe? Diese Frage
schien nicht zu beantworten, bis ich den Zweifel aufwarf,
ob sich sein Angstbild auf das Rotkäppchenmärchen bezogen
haben könne. Dies Märchen gibt nur Anlaß zu zwei Illustra„
tionen, zur Begegnung des Rotkäppchens mit dem Wolf im
Walde und zur Szene, wo der Wolf mit der Haube der Groß-
mutter im Bette liegt. Es müsse sich also ein anderes Mär—
chen hinter der Erinnerung an das Bild verbergen. Er fand
dann bald, daß es nur die Geschichte vom Wolf und den
sieben Geißlein sein könne. Hier findet sich die Sieben—
zahl, aber auch die sechs, denn der Wolf frißt nur sechs
Geißlein auf, das siebente versteckt sich im Uhrkasten. Auch
das Weiß kommt in dieser Geschichte vor, denn der Wolf
läßt sich beim Bäcker die Pfote weiß machen, nachdem ihn
die Geißlein bei seinem ersten Besuch an der grauen Pfote
erkannt haben. Beide Märchen haben übrigens viel Gemein-
sames. In beiden findet sich das Auffressen, das Bauch—
aufschneiden, die Herausbeförderung der gefressenen Per-S.
VIII. Mäncnmmrorrn IN TRÄUMEN. 175
sonen, deren Ersatz durch schwere Steine, und endlich kommt
in beiden der böse Wolf um. Im Märchen von den Geißlein
kommt auch noch der Baum vor. Der Wolf legt sich nach
der Mahlzeit unter einen Baum und schnarcht,Ich werde mich mit diesem Traum wegen eines beson-
deren Umstandes noch an anderer Stelle beschäftigen müssen
und ihn dandeingehender deuten und. würdigen. Es ist ja.
ein erster aus der Kindheit erinnerter Angsttraum, dessen
Inhalt im Zusammenhang mit anderen Träumen, die bald
nachher erfolgten, und mit gewissen Begebenheiten in der
Kinderzeit des Träumers ein Interesse von ganz besonderer
Art wachruft. Hier beschränken wir uns auf die Beziehung
des Traumes zu zwei Märchen, die viel Gemeinsames haben,
zum „Rotkäppchen“ und zum „Wolf und die sieben Geißlein“.
Der Eindruck dieser Märchen äußerte sich bei dem kindlichen
Träumer in einer richtigen Tierphobie, die sich von anderen
ähnlichen Fällen nur dadurch auszeichnete, daß das Angst-
tier nicht ein der Wahrnehmung leicht zugängliches Objekt
war (wie etwa. Pferd und Hund), sondern nur aus Erzählung
und Bilderbuch gekannt war.Ich werde ein andermal auseinandersetzeu, welche Er-
klärung diese Tierphobien haben und. welche Bedeutung ihnen
zukommt. Vorgreifend bemerke ich nur, daß diese Erklärung
sehr zu dem Hauptcharakter stimmt, welchen die Neurose
des Träumen; in späteren Lebenszeiten erkennen ließ. Die
Angst vor dem Vater war das stärkste Motiv seiner Erkran-
kung gewesen, und die ambivalente Einstellung zu jedem
Vaterersatz beherrschte sein Leben wie sein Verhalten in der
Behandlung.Wenn der Wolf bei meinem Patienten nur der erste
Vaterersatz war, so fragt es sich, ob die Märchen vom Wolf,S.
176 SCHRIFTEN ZUR NEUBOSENLEHRE. IV.
der die Geißlein auffrißt, und vom Rotkäppchen etwas an-
deres als die infantile Angst vor dem Vater zum geheimen
Inhalt haben.*) Der Vater meines Patienten hatte übrigens
die Eigentümlichkeit des „zärtlichen Schimpfens“, die
so viele Personen im Umgang mit ihren Kindern zeigen, und
die scherzha.fte Drohung: „Ich fress’ dich auf“ mag in den
ersten Jahren, als der später strenge Vater mit dem Söhnlein
zu spielen und zu kosen pflegte, mehr als einmal geäußert
werden sein. Eine meiner Patientinnen erzählte mir, daß ihre
beiden Kinder den Großvater nie lieb gewinnen konnten, weil
er sie in seinem zärtlichen Spiel zu schrecken pflegte, er
werde ihnen den Bauch aufschneiden.*) Vgl. die von 0, Rank hervorgehobene Ähnlichkeit dieser beiden
Märchen mit dem Mythus von Kronos. (Völkerpsychologische Parallelen
zu den infiuitilen Sexualtheorien; Zentralblatt für Psychoanalyse, II, 8.)
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