Nachtrag zur Arbeit über den Moses des Michelangelo 1914-002/1928
  • S.

    NACHTRAG ZUR ARBEIT ÜBER DEN
    MOSES DES MICHELANGELO
     

    Mehrere Jahre nach dem Erscheinen meiner Arbeit über den
    Moses des Michelangelo, die 1914 in der Zeitschrift „Imago"
    ohne Nennung meines Namens abgedruckt wurde,' geriet durch
    die Güte von E. Jones eine Nummer des „Burlington Magazine
    for Connoisseurs" in meine Hand (Nr. CCXVII, Vol. XXXVIII.,
    April 1921), durch welche mein Interesse von neuem auf die
    vorgeschlagene Deutung der Statue gelenkt werden mußte. In
    dieser Nummer findet sich ein kurzer Artikel von H. P. Mitchell
    über zwei Bronzen des zwölften Jahrhunderts, gegenwärtig im
    Ashmolean Museum, Oxford, die einem hervorragenden Künstler
    jener Zeit, Nicholas von Verdun, zugeschrieben werden. Von
    diesem Manne sind noch andere Werke in Tournay, Arras und
    Klosterneuburg bei Wien erhalten; als sein Meisterwerk gilt der
    Schrein der heiligen drei Könige in Köln.
     

    Eine der beiden von Mitchell gewürdigten Statuetten ist nun
    ein Moses (über 23 Zentimenter hoch), über jeden Zweifel ge-
    kennzeichnet durch die ihm beigegebenen Gesetzestafeln. Auch
    dieser Moses ist sitzend dargestellt, von einem faltigen Mantel
    umhüllt, sein Gesicht zeigt einen leidenschaftlich bewegten, vielleicht
     

    1) Abgedruckt in Band X dieser Gesamtausgabe.
     

    Freud XI.
     

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  • S.

    Schriften aus den Jahren 1926-1928
     

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    bekümmerten Ausdruck und seine rechte Hand umgreift den langen
    Kinnbart und preßt dessen Strähne zwischen Hohlhand und Daumen
    wie in einer Zange zusammen, führt also dieselbe Bewegung aus,
    die in Figur meiner Abhandlung als Vorstufe jener Stellung
    supponiert wird, in welcher wir jetzt den Moses des Michelangelo
    erstarrt sehen.
     

    Ein Blick auf die beistehende Abbildung läßt den Hauptunterschied
    der beiden, durch mehr als drei Jahrhunderte getrennten Dar-
    stellungen erkennen. Der Moses des lothringischen Künstlers hält
    die Tafeln mit seiner linken Hand bei ihrem oberen Rand und
    stützt sie auf sein Knie; überträgt man die Tafeln auf die andere
    Seite und vertraut sie dem rechten Arm an, so hat man die
    Ausgangssituation für den Moses des Michelangelo hergestellt. Wenn
    meine Auffassung der Geste des In-den-Bart-Greifens zulässig ist,
    so gibt uns der Moses aus dem Jahre 1180 einen Moment aus
    dem Sturm der Leidenschaften wieder, die Statue in S. Pietro in
    vincoli aber die Ruhe nach dem Sturme.
     

    Ich glaube, daß der hier mitgeteilte Fund die Wahrscheinlich-
    keit der Deutung erhöht, die ich in meiner Arbeit 1914 versucht
    habe. Vielleicht ist es einem Kunstkenner möglich, die zeitliche
    Kluft zwischen dem Moses des Nicholas von Verdun und dem des
    Meisters der italienischen Renaissance durch den Nachweis von
    Mosestypen aus der Zwischenzeit auszufüllen.