S.
[1]
Neurose und Psychose
von
Sigm. Freud
In meiner kürzlich erschienenen Schrift
„Das Ich und das Es“ habe ich eine Gliederung
des seelischen Apparate angegeben, auf deren
Grund sich eine Reihe von Beziehungen
in einfacher und übersichtlicher Weise
darstellen läßt. In anderen Punkten, zB
was die Herkunft und Rolle des Über‑
Ichs betrifft, bleibt genug des Dunkeln
und Unerledigten. Man darf nun fordern,
daß eine solche Aufstellung sich auch für
andere Dinge als brauchbar und förder-
lich erweise, wäre es auch nur, um bereits
Bekanntes in neuer Auffassung zu sehen,
es anders zu gruppiren und überzeugender
zu beschreiben. Mit solcher Anwendung
könnte auch eine vorteilhafte Rückkehr
von der grauen Theorie zur ewig grünenden
Erfahrung verbunden sein.Am
angegebenengenannten Orte sind die vielfältigen Ab-
hängigkeiten des Ichs geschildert, seine Mittel-
stellung zwischen Außenwelt und Es und
sein Bestreben, all seinen Herren gleichzeitig
zu Willen zu sein. Im Zusammenhange eines
von anderer Seite angeregten Gedankenganges,
der sich mit der Entstehung und Verhütung der
Psychosen beschäftigte, ergab sich mir nun
einedieeinfache Formel, welche die vielleicht
wichtigste, möglicherweise einzige, genetische
Differenz zwischen Neurose und Psychose be-
handelt: die Neurose sei der Erfolg eines
Konflikts zwischen dem Ich und seinem
Es, die Psychose aber der analoge Aus-
gang einer solchen Störung in den Be-
ziehungen zwischen Ich und Außenwelt.Es ist sicherlich eine berechtigte Mahnung,
daß man gegen so einfache Problemlösungen
mißtrauisch sein soll. Auch wird unsere
äußerste Erwartung nicht weiter gehen
als daß diese Formel sich im Gröbsten
als richtig erweise. Aber auch das wäre
schon etwas. Man besinnt sich auch sofortS.
an eine ganze Reihe von Einsichten und
Funden, welche unseren Satz zu bekräft-
igen scheinen. Die Übertragungsneurosen
entstehen nach dem Ergebnis aller unserer
Analysen dadurch, daß das Ich eine im
Es mächtige Triebregung nicht aufnehmen
und nicht zur motorischen Erledigung beförd-
ern will, oder ihr das Objekt bestreitet,
auf das sie zielt. Das Ich erwehrt sich ihrer dann
durch den Mechanismus der Verdräng-
ung; das Verdrängte sträubt sich gegen
dieses Schicksal, schafft sich auf Wegen, über
die das Ich keine Macht hat, eine Ersatz-
vertretung, die sich dem Ich auf dem Wege
des Kompromißes aufdrängt, das
Symptom; das Ich findet seine Einheitlich-
keit durch diesen Eindringling be-
droht und geschädigt, setzt den Kampf
gegen das Symptom fort, wie es sich
gegen die ursprüngliche Triebregung
gewehrt hatte, und dies alles ergiebt
das Bild der Neurose. Es ist kein Ein-
wand, daß das Ich, wenn es die Verdräng-
ung vornimmt, im Grunde den Geboten
seines Überichs folgt, die wiederum
solchen Einflüßen der realen Außen-
welt entstammen, welche im Überich
ihre Vertretung gefunden haben. Es
bleibt doch dabei daß das Ich sich auf die
Seite dieser Mächte geschlagen hat, daß
in ihmdiederen Anforderungen stärker
sind als die Triebansprüche des Es, und
daß das Ich die Macht ist, welche die
Verdrängung gegen jenen Anteil des
Es ins Werk setzt und durch die Gegen-
besetzung des Widerstandes befestigt.
Im Dienste des Überichs und der Realität
ist das Ich in Konflikt mit dem Es
geraten und dies ist der Sachverhalt
bei allen Übertragungsneurosen.Auf der anderen Seite wird es uns
ebenso leicht, aus unserer bisherigen Einsicht
in den Mechanismus der Psychosen Bei-
spiele anzuführen, welche auf die StörungS.
des Verhältnißes zwischen Ich und Außenwelt
hinweisen. Bei der Amentia Meynert’s, der
akuten halluzinatorischen Verworrenheit,
der vielleicht extremsten und frappant-
esten Form von Psychose, wird die
Außenwelt entweder gar nicht wahrge-
nom̄en oder ihre Wahrnehmung bleibt
völlig unwirksam Normaler Weise
beherrscht ja die Außenwelt das Ich auf
zwei Wegen: erstens durch die immer
von neuem möglichen aktuellen Wahrnehm-
ungen, zweitens durch den Erinnerungsschatz
früherer Wahrnehmungen, die als „Innen-
welt“ einen Besitz und Bestandteil des Ichs
bilden. In der Amentia wird nun nicht nur
die Annahme neuer Wahrnehmungen
verweigert, es wird auch der Innenwelt,
welche die Außenwelt als ihr Abbild
bisher vertrat, die Bedeutung (Besetzung)
entzogen; das Ich schafft sich selbstherrlich
eine neue Außen- und Innenwelt,
und es ist kein Zweifel an zwei Tatsachen,
daß diese neue Welt im Sinne der
Wunschregungen des Es aufgebaut ist, und
daß eine schwere, unerträglich erschein-
ende Wunschversagung der Realität
das Motiv dieses Zerfalls mit der
Außenwelt ist. Die innere Verwandtschaft
dieser Psychose mit dem normalen Traum
ist nicht zu verkennen. Die Bedingung des Träumens
ist aber der Schlafzustand, zu dessen Charakteren
die volle Abwendung von Wahrnehmung
und Außenwelt gehört.Von anderen Formen von Psychose, den
Schizophrenien, weiß man, daß sie zum Ausgang
in affektiven Stumpfsinn, d. h. zum Verlust
alles Anteils an der Außenwelt tendiren.
Über die Genese der Wahnbildungen haben uns
einige Analysen gelehrt, daß der Wahn wie
ein aufgesetzter Fleck dort gefunden wird,
wo ursprünglich ein Einriß in der Bezieh-
ung des Ichs zur Außenwelt entstanden
war. Wenn die Bedingung des Konflikts
mit der Außenwelt nicht noch weit augen-
fälliger ist, als wir sie jetzt erkennen, so
hat dies seinen Grund in der Tatsache, daß
im Krankheitsbild der Psychose die Erscheinungen
des pathogenen Vorgangs oft von denen
eines Heilungs- oder Rekonstruktions-S.
versuches überdeckt werden.
Die gemeinsame Ätiologie für den Ausbruch einer
Psychoneurose oder Psychose bleibt immer die
Versagung, die Nichterfüllung eines jener
ewig unbezwungenen Kindheitswünsche
die so tief in unserer phylogenetisch¿¿bestimmten
Organisation wurzeln. Diese Versagung
ist im letzten Grunde immer eine äußere,
im einzelnen Fall kann sie von jener inneren
Instanz (im Über‑Ich) ausgehen, welche die
Vertretung der Realitätsforderung über-
nommen hat. Der pathogene Effekt hängt
nun davon ab, ob das Ich in solcher Kon-
fliktspannung seiner Abhängigkeit von der
Außenwelt treu bleibt und das Es zu
knebeln versucht, oder ob es sich vom Es
überwältigen und damit von der Realität los-
reißen läßt. Eine Komplikation wird
in diese anscheinend einfache Lage aber
durch die Existenz des Überichs eingetragen,
welches in noch nicht durchschauter Verknüpf-
ung Einflüße aus dem Es wie aus der
Außenwelt in sich vereinigt, gewissermaßen
ein Idealvorbild für das ist, worauf alles
Streben des Ichs abzielt, die Versöhnung
seiner mehrfachen Abhängigkeiten. Das Ver-
halten desIchsÜberichs wäre, was bisher
nicht geschehen ist, bei allen Formen psych-
ischer Erkrankung in Betracht zu ziehen.
Wir können aber vorläufig postuliren, es
muß auch Affektionen geben, denen
¿¿ein Konflikt zwischen Ich und Überich
zu Grunde liegt. Die Analyse giebt uns
ein Recht anzunehmen, daß die Melan-
cholie ein Muster dieser Gruppe ist,
und dann würden wir für solche Störungen
den Namen „narzißtische Psychoneu-
rosen“ in Anspruch nehmen. Es stimmt
ja nicht übel zu unseren Eindrücken,
wenn wir Motive finden, Zustände wie
die Melancholie von den anderen
Psychosen zu sondern. Dann merken wir
aber, daß wir unsere einfache genetische
Formel vervollständigen konnten, ohne
sie fallen zu lassen. Die Übertragungs-
neurose entspricht dem Konflikt zwischen
Ich und Es, die narzißtische Neurose dem
zwischen Ich und Über-Ich, die Psychose dem
zwischen Ich und Außenwelt. Wir wissenS.
freilich zunächst nicht zu sagen, ob wir wirklich neue
Einsichten gewonnen oder nur unseren For-
melschatz bereichert haben, aber ich meine,
diese Anwendungsmöglichkeit muß uns
doch Mut machen, die vorgeschlagene Glied-
erung des seelischen Apparats in Ich, Über-
ich und Es weiter im Auge zu behalten.Die Behauptung, daß Neurosen und
Psychosen durch die Konflikte des Ichs
mit seinen verschiedenen herrschenden
Instanzen entstehen, also einem Fehlschlagen
in der Funktion des Ichs entsprechen,
¿¿das doch das Bemühen zeigt, all die
verschiedenen Ansprüche miteinander
zu versöhnen, fordert eine andere
Erörterung zu ihrer Ergänzung heraus.
Man möchte wissen, unter welchen Umständen
und durch welche Mittel es dem Ich gelingt,
aus solchen gewiß immer vorhandenen
Konflikten ohne Erkrankung zu entkommen.
Dies ist nun ein neues Forschungsgebiet auf dem
sich gewiß die verschiedensten Faktoren
zur Berücksichtigungerforderneinfinden
werden. Zwei Momente lassen sich aber
sofort herausheben. Der Ausgang aller
solcher Situationen wird unzweifelhaft
von ökonomischen Verhältnißen, von
den relativen Größen der mit einander
ringenden Strebungen abhängen. Und ferner:
es wird dem Ich möglich sein, den Bruch
nach irgendeiner Seite dadurch zu ver-
meiden, daß es sich selbst deformirt
sich Einbußen an seiner Einheitlichkeit
gefallen läßt, eventuell sogar sich zer-
klüftet oder zerteilt. Damit rückten
die Inkonsequenzen, Verschrobenheiten und
Narrheiten der Menschen in ein ähnliches
Licht wie ihre sexuellen Perversionen,
durch deren Annahme sie sich ja Verdräng-
ungen ersparen.Zum Schluße ist der Frage zu gedenken, welches
der einer Verdrängung analoge Mechanismus sein
mag, durch den Ich sich von der Außenwelt
ablöst. Ich meine, dies ist ohne neue Untersuch-
ungen nicht zu beantworten, aber er müßte
wie die Verdrängung, eine Abziehung der
vom Ich ausgeschickten Besetzung zum Inhalt
haben.
Box OV 8 Folder 19