Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung 1912-003/1931
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    druck die dauernde Genesung von der Neurose ist. Es ist
    unleugbar, daß die Bezwingung der Übertragungsphänomene
    dem Psychoanalytiker die größten Schwierigkeiten bereitet,
    aber man darf nicht vergessen, daß gerade sie uns den un-
    schätzbaren Dienst erweisen, die verborgenen und ver-
    gessenen Liebesregungen der Kranken aktuell und manifest
    zu machen, denn schlieflich kann niemand in absentia oder
    in effigie erschlagen werden.

    RATSCHLAGE FUR DEN ARZT
    BEI DER PSYCHOANALYTISCHEN
    BEHANDLUNG
    (1912)

    Die technischen Regeln, die ich hier in Vorschlag bringe,
    haben sich mir aus der langjåhrigen eigenen Erfahrung er-
    geben, nachdem ich durch eigenen Schaden von der Ver-
    folgung anderer Wege zurückgekommen war. Man wird
    leicht bemerken, daf sie sich, wenigstens viele von ihnen,
    zu einer einzigen Vorschrift zusammensetzen. Ich hoffe, daß
    ihre Berücksichtigung den analytisch tätigen Arzten viel
    unniitzen Aufwand ersparen und sie vor manchem Uber-
    sehen behüten wird; aber ich muß ausdrücklich sagen, diese
    Technik hat sich als die einzig zweckmäfige fiir meine
    Individualitit ergeben; ich wage es nicht in Abrede zu
    stellen, daß eine ganz anders konstituierte ärztliche Persön-
    lichkeit dazu gedringt werden kann, eine andere Einstellung
    gegen den Kranken und gegen die zu lósende Aufgabe zu
    bevorzugen.

    a) Die nächste Aufgabe, vor die sich der Analytiker ge-
    stellt sieht, der mehr als einen Kranken im Tage so behandelt,

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    wird ihm auch als die schwierigste erscheinen. Sie besteht ja
    darin, alle die unzähligen Namen, Daten, Einzelheiten der
    Erinnerung, Einfälle und Krankheitsproduktionen während
    der Kur, die ein Patient im Laufe von Monaten und Jahren
    vorbringt, im Gedächtnis zu behalten und sie nicht mit ähn-
    lichem Material zu verwechseln, das von anderen gleichzeitig
    oder früher analysierten Patienten herrührt. Ist man gar
    genötigt, täglich sechs, acht Kranke oder selbst mehr zu
    analysieren, so wird eine Gedächtnisleistung, der solches
    gelingt, bei Außenstehenden Unglauben, Bewunderung oder
    selbst Bedauern wecken. In jedem Fall wird man auf die
    Technik neugierig sein, welche die Bewältigung einer solchen
    Fülle gestattet, und wird erwarten, daß dieselbe sich be-
    sonderer Hilfsmittel bediene.

    Indes ist diese Technik eine sehr einfache. Sie lehnt alle
    Hilfsmittel, wie wir hören werden, selbst das Niederschreiben
    ab und besteht einfach darin, sich nichts besonders merken
    zu wollen und allem, was man zu hören bekommt, die
    nämliche „gleichschwebende Aufmerksamkeit", wie ich es
    schon einmal genannt habe, entgegenzubringen. Man erspart
    sich auf diese Weise eine Anstrengung der Aufmerksamkeit,
    die man doch nicht durch viele Stunden tiglich festhalten
    könnte, und vermeidet eine Gefahr, die von dem absicht-
    lichen Aufmerken unzertrennlich ist. Sowie man nämlich
    seine Aufmerksamkeit absichtlich bis zu einer gewissen Hohe
    anspannt, beginnt man auch unter dem dargebotenen
    Materiale auszuwählen; man fixiert das eine Stück besonders
    scharf, eliminiert dafiir cin anderes, und folgt bei dieser Aus-
    wahl seinen Erwartungen oder seinen Neigungen. Gerade
    dies darf man aber nicht; folgt man bei der Auswahl seinen
    Erwartungen, so ist man in Gefahr, niemals etwas anderes
    zu finden, als was man bereits weiß; folgt man seinen
    Neigungen, so wird man sicherlich die mögliche Wahr-

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    342 Ratschläge für den Arzt

    nehmung fälschen. Man darf nicht daran vergessen, daß
    man ja zumeist Dinge zu hören bekommt, deren Bedeutung
    erst nachträglich erkannt wird.

    Wie man sieht, ist die Vorschrift, sich alles gleichmäßig
    zu merken, das notwendige Gegenstück zu der Anforderung
    an den Analysierten, ohne Kritik und Auswahl alles zu er-
    zählen; was ihm einfällt. Benimmt sich der Arzt anders, so
    macht er zum großen Teile den Gewinn zunichte, der aus
    der Befolgung der „psychoanalytischen Grundregel“ von
    seiten des Patienten resultiert. Die Regel fiir den Arzt läßt
    sich so aussprechen: Man halte alle bewußten Einwirkungen
    von seiner Merkfähigkeit ferne und iberlasse sich völlig
    seinem „unbewußten Gedächtnisse“, oder rein technisch aus-
    gedrückt: Man höre zu und kümmere sich nicht darum, ob
    man sich etwas merke.

    Was man auf diese Weise bei sich erreicht, genügt allen
    Anforderungen während der Behandlung. Jene Bestandteile
    des Materials, die sich bereits zu einem Zusammenhange
    fügen, werden für den Arzt auch bewußt verfügbar; das
    andere, noch zusammenhanglose, chaotisch ungeordnete,
    scheint zunächst versunken, taucht aber bereitwillig im Ge-
    dächtnisse auf, sobald der Analysierte etwas Neues vorbringt,
    womit es sich in Bezichung bringen und wodurch es sich
    fortsetzen kann. Man nimmt dann lichelnd das unverdiente
    Kompliment des Analysierten wegen eines „besonders guten
    Gedåchtnisses" entgegen, wenn man nach Jahr und Tag eine
    Einzelheit reproduziert, die der bewußten Absicht, sie im
    Gedächtnisse zu fixieren, wahrscheinlich entgangen wäre.

    Irrtümer in diesem Erinnern ereignen sich nur zu Zeiten
    und an Stellen, wo man durch die Eigenbeziehung gestört
    wird (siehe unten), hinter dem Ideale des Analytikers also in
    arger Weise zuriickbleibt. Verwechslungen mit dem Materiale
    anderer Patienten kommen recht selten zustande. In einem

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    Streite mit dem Analysierten, ob und wie er etwas einzelnes
    gesagt habe, bleibt der Arzt zumeist im Rechte."

    b) Ich kann es nicht empfehlen, wihrend der Sitzungen mit
    dem Analysierten Notizen in größerem Umfange zu machen,
    Protokolle anzulegen u. dgl. Abgesehen von dem ungünstigen
    Eindruck, den dies bei manchen Patienten hervorruft, gelten
    dagegen die nämlichen Gesichtspunkte, die wir beim Merken
    gewürdigt haben. Man trifft notgedrungen eine schädliche
    Auswahl aus dem Stoffe, während man nachschreibt oder
    stenographiert, und man bindet ein Stück seiner eigenen
    Geistestätigkeit, das in der Deutung des Angehörten eine bes-
    sere Verwendung finden soll. Man kann ohne Vorwurf Aus-
    nahmen von dieser Regel zulassen für Daten, Traumtexte
    oder einzelne bemerkenswerte Ergebnisse, die sich leicht aus
    dem Zusammenhange lösen lassen und für eine selbständige
    Verwendung als Beispiele geeignet sind. Aber ich pflege auch
    dies nicht zu tun. Beispiele schreibe ich am Abend nach Ab-
    schluß der Arbeit aus dem Gedächtnis nieder; Traumtexte,
    an denen mir gelegen ist, lasse ich von den Patienten nach
    der Erzählung des Traumes fixieren.

    c) Die Niederschrift während der Sitzung mit dem Patienten
    könnte durch den Vorsatz gerechtfertigt werden, den behan-
    delten Fall zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Publika-
    tion zu machen. Das kann man ja prinzipiell kaum versagen.
    Aber man muß doch im Auge behalten, daß genaue Protokolle
    in einer analytischen Krankengeschichte weniger leisten, als

    11) Der Analysierte behauptet oft, eine gewisse Mitteilung be-
    reits früher gemacht zu haben, während man ihm mit ruhiger
    Überlegenheit versichern kann, sie erfolge jetzt zum erstenmal.
    Es stellt sich dann heraus, daß der Analysierte früher einmal die
    Intention zu dieser Mitteilung gehabt hat, an ihrer Ausführung
    aber durch einen noch bestehenden Widerstand gehindert wurde.
    Die Erinnerung an diese Intention ist fiir ihn ununterscheidbar
    von der Erinnerung an deren Ausführung.

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    344 Ratschläge fiir den Arzt

    man von ihnen erwarten sollte. Sie gehören, streng genommen,
    jener Scheinexaktheit an, für welche uns die „moderne“
    Psychiatrie manche auffällige Beispiele zur Verfügung stellt.
    Sie sind in der Regel ermüdend für den Leser und bringen es
    doch nicht dazu, ihm die Anwesenheit bei der Analyse zu
    ersetzen, Wir haben überhaupt die Erfahrung gemacht, daß
    der. Leser, wenn er dem Analytiker glauben will, ihm auch
    Kredit für das bißchen Bearbeitung einräumt, das er an seinem
    Material vorgenommen hat; wenn er die Analyse und den
    Analytiker aber nicht ernst nehmen will, so setzt er sich auch
    über getreue Behandlungsprotokolle hinweg. Dies scheint nicht
    der Weg, um dem Mangel an Evidenz abzuhelfen, der an den
    psychoanalytischen Darstellungen gefunden wird.

    d) Es ist zwar einer der Ruhmestitel der analytischen Arbeit,
    daß Forschung und Behandlung bei ihr zusammenfallen, aber
    die Technik, die der einen dient, widersetzt sich von einem
    gewissen Punkte an doch der anderen. Es ist nicht gut, einen
    Fall wissenschaftlich zu bearbeiten, solange seine Behandlung
    noch nicht abgeschlossen ist, seinen Aufbau zusammenzusetzen,
    seinen Fortgang erraten zu wollen, von Zeit zu Zeit Auf-
    nahmen des gegenwärtigen Status zu machen, wie das wissen-
    schaftliche Interesse es fordern würde. Der Erfolg leidet in
    solchen Fällen, die man von vornherein der wissenschaftlichen
    Verwertung bestimmt und nach deren Bedürfnissen behandelt;
    dagegen gelingen jene Fälle am besten, bei denen man wie
    absichtslos verfährt, sich von jeder Wendung überraschen läßt,
    und denen man immer wieder unbefangen und voraussetzungs-
    los entgegentritt. Das richtige Verhalten für den Analytiker
    wird darin bestehen, sich aus der einen psychischen Einstellung
    nach Bedarf in die andere zu schwingen, nicht zu spekulieren
    und zu grübeln, solange er analysiert, und erst dann das ge-
    wonnene Material der synthetischen Denkarbeit zu unterziehen,
    nachdem die Analyse abgeschlossen ist. Die Unterscheidung:

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    bei der psychoanalytischen Behandlung 345

    der beiden Einstellungen würde bedeutungslos, wenn wir
    bereits im Besitze aller oder doch der wesentlichen Erkennt-
    nisse über die Psychologie des Unbewuften und über die
    Struktur der Neurosen wiren, die wir aus der psychoanalyti-
    schen Arbeit gewinnen können. Gegenwärtig sind wir von
    diesem Ziele noch weit entfernt und dürfen uns die Wege
    nicht verschließen, um das bisher Erkannte nachzupriifen und
    Neues dazu zu finden.

    e) Ich kann den Kollegen nicht dringend genug empfehlen,
    sich wåhrend der psychoanalytischen Behandlung den Chirur-
    gen zum Vorbild zu nehmen, der alle seine Affekte und selbst
    sein menschliches Mitleid beiseite drångt und seinen geistigen
    Kräften ein einziges Ziel setzt: die Operation so kunstgerecht
    als möglich zu vollziehen. Für den Psychoanalytiker wird
    unter den heute waltenden Umstånden eine Affektstrebung
    am gefåhrlichsten, der therapeutische Ehrgeiz, mit seinem
    neuen und viel angefochtenen Mittel etwas zu leisten, was
    überzeugend auf andere wirken kann. Damit bringt er nicht
    nur sich selbst in eine fiir die Arbeit ungünstige Verfassung,
    er setzt sich auch wehrlos gewissen Widerständen des Patienten
    aus, von dessen Kräftespiel ja die Genesung in erster Linie.
    abhängt. Die Rechtfertigung dieser vom Analytiker zu for-
    dernden Gefühlskälte liegt darin, daß sie für beide Teile die
    vorteilhaftesten Bedingungen schafft, für den Arzt die wiin-
    schenswerte Schonung seines eigenen Affektlebens, für den
    Kranken das größte Ausmaß von Hilfeleistung, das uns heute
    måglich ist. Ein alter Chirurg hatte zu seinem Wahlspruch
    die Worte. genommen: Je le pansai, Dien le guérit. Mit etwas
    Ahnlichem sollte sich der Analytiker zufrieden geben.

    f) Es ist leicht zu erraten, in welchem Ziele diese einzeln
    vorgebrachten Regeln zusammentreffen. Sie wollen alle beim
    Arzte das Gegenstück zu der fiir den Analysierten aufgestellten
    „psychoanalytischen Grundregel“ schaffen. Wie der Analysierte

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    346 Ratschlige fiir den Arzt

    alles mitteilen soll, was er in seiner Selbstbeobachtung er-
    hascht, mit Hintanhaltung aller logischen und affektiven Ein-
    wendungen, die ihn bewegen wollen, eine Auswahl zu treffen,
    so soll sich der Arzt in den Stand setzen, alles ihm Mitgeteilte
    fiir die Zwecke der Deutung, der Erkennung des verborgenen
    Unbewuften zu verwerten, ohne die vom Kranken aufge-
    gebene Auswahl durch eine eigene Zensur zu ersetzen, in eine
    Formel gefaßt: er soll dem gebenden Unbewufiten des Kranken
    sein eigenes Unbewußtes als empfangendes Organ zuwenden,
    sich auf den Analysierten einstellen wie der Receiver des
    Telephons zum Teller eingestellt ist. Wie der Receiver die
    von Schallwellen angeregten elektrischen Schwankungen der
    Leitung wieder in Schallwellen verwandelt, so ist das Unbe-
    wußte des Arztes befähigt, aus den ihm mitgeteilten Abkómm-
    lingen des Unbewufiten dieses Unbewufte, welches die Ein-
    fille des Kranken determiniert hat, wiederherzustellen.

    Wenn der Arzt aber imstande sein soll, sich seines Unbe-
    wuften in solcher Weise als Instrument bei der Analyse zu
    bedienen, so muß er selbst eine psychologische Bedingung in
    weitem Ausmaße erfüllen. Er darf in sich selbst keine Wider-
    stinde dulden, welche das von seinem Unbewuften Erkannte
    von seinem Bewußtsein abhalten, sonst würde er eine neue
    Art von Auswahl und Entstellung in die Analyse einführen,
    welche weit schädlicher wire als die durch Anspannung seiner
    bewuften Aufmerksamkeit hervorgerufene. Es genügt nicht
    hiefiir, daß er selbst ein annähernd normaler Mensch sei, man
    darf vielmehr die Forderung aufstellen, daß er sich einer
    psychoanalytischen Purifizierung unterzogen und von jenen
    Eigenkomplexen Kenntnis genommen habe, die geeignet wären,
    ihn in der Erfassung des vom Analysierten Dargebotenen zu
    stören. An der disqualifizierenden Wirkung solcher eigener
    Defekte kann billigerweise nicht gezweifelt werden; jede unge-
    löste Verdrängung beim Arzte entspricht nach einem treffenden

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    bei der psychoanalytischen Behandlung 347

    Worte von W. Stekel einem „blinden Fleck" in seiner
    analytischen Wahrnehmung.

    Vor Jahren erwiderte ich auf die Frage, wie man ein
    Analytiker werden könne: Durch die Analyse seiner eigenen
    Träume. Gewiß reicht diese Vorbereitung für viele Personen
    aus, aber nicht fiir alle, die die Analyse erlernen möchten.
    Auch gelingt es nicht allen, die eigenen Träume ohne fremde
    Hilfe zu deuten. Ich rechne es zu den vielen Verdiensten der
    Ziiricher analytischen Schule, daß sie die Bedingung verschärft
    und in der Forderung niedergelegt hat, es solle sich jeder, der
    Analysen an anderen ausführen will, vorher selbst einer
    Analyse bei einem Sachkundigen unterziehen. Wer es mit der
    Aufgabe ernst meint, sollte diesen Weg wählen, der mehr als
    einen Vorteil verspricht; das Opfer, sich ohne Krankheits-
    zwang einer fremden Person eröffnet zu haben, wird reichlich
    gelohnt. Man wird nicht nur seine Absicht, das Verborgene
    der eigenen Person kennen zu lernen, in weit kürzerer Zeit
    und mit geringerem affektiven Aufwand verwirklichen, son-
    dern auch Eindriicke und Uberzeugungen am eigenen Leibe
    gewinnen, die man durch das Studium von Biichern und An-
    hören von Vorträgen vergeblich anstrebt. Endlich ist auch
    der Gewinn aus der dauernden seelischen Beziehung nicht
    gering anzuschlagen, die sich zwischen dem Analysierten und
    seinem Einführenden herzustellen pflegt.

    Eine solche Analyse eines praktisch Gesunden wird begreif-
    licherweise unabgeschlossen bleiben. Wer den hohen Wert der
    durch sie erworbenen Selbsterkenntnis und Steigerung der
    Selbstbeherrschung zu würdigen weiß, wird die analytische
    Erforschung seiner eigenen Person nachher als Selbstanalyse
    fortsetzen und sich gerne damit bescheiden, daß er in sich
    wie außerhalb seiner immer Neues zu finden erwarten muß.
    Wer aber als Analytiker die Vorsicht der Eigenanalyse ver-
    schmåht hat, der wird nicht nur durch die Unfähigkeit be-

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    348 Ratschläge für den Arzt

    straft, über ein gewisses Maß an seinen Kranken zu lernen,
    er unterliegt auch einer ernsthafteren Gefahr, die zur Gefahr
    für andere werden kann. Er wird leicht in die Versuchung
    geraten, was er in dumpfer Selbstwahrnehmung von den
    Eigentümlichkeiten seiner eigenen Person erkennt, als allge-
    meingültige Theorie in die Wissenschaft hinauszuprojizieren,
    er wird die psychoanalytische Methode in Mißkredit bringen
    und Unerfahrene irreleiten.

    g) Ich füge noch einige andere Regeln an, in welchen der
    Übergang gemacht wird von der Einstellung des Arztes zur
    Behandlung des Analysierten.

    Es ist gewiß verlockend fiir den jungen und eifrigen Psycho-
    analytiker, daß er viel von der eigenen Individualität einsetze,
    um den Patienten mit sich fortzureifen und ihn im Schwung
    über die Schranken seiner engen Persönlichkeit zu erheben.
    Man sollte meinen, es sei durchaus zulässig, ja zweckmäßig
    fiir die Uberwindung der beim Kranken bestehenden Wider-
    stånde, wenn der Arzt ihm Einblick in die eigenen seelischen
    Defekte und Konflikte gestattet, ihm durch vertrauliche Mit-
    teilungen aus seinem Leben die Gleichstellung ermöglicht. Ein
    Vertrauen ist doch das andere wert, und wer Intimitåt vom
    anderen fordert, muß ihm doch auch solche bezeugen.

    Allein im psychoanalytischen Verkehre läuft manches
    anders ab, als wir es nach den Voraussetzungen der Bewufit-
    seinspsychologie erwarten dürfen. Die Erfahrung spricht nicht
    für die Vorzüglichkeit einer solchen Technik. Es ist auch
    nicht schwer einzusehen, daß man mit ihr den psycho-
    analytischen Boden verläßt und sich den Suggestionsbehand-
    lungen annåhert. Man erreicht so etwa, daß der Patient eher
    und leichter mitteilt, was ihm selbst bekannt ist, und was er
    aus konventionellen Widerständen noch eine Weile zurück-
    gehalten hätte. Für die Aufdeckung des dem Kranken Unbe-
    wußten leistet diese Technik nichts, sie macht ihn nur noch

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    bei der psychoanalytischen Behandlung 349

    unfähiger, tiefere Widerstände zu überwinden, und sie ver-
    sagt in schwereren Fällen regelmäßig an der rege gemachten
    Unersättlichkeit des Kranken, der dann gerne das Verhältnis
    umkehren möchte und die Analyse des Arztes interessanter
    findet als die eigene. Auch die Lösung der Übertragung, eine
    der Hauptaufgaben der Kur, wird durch die intime Einstel-
    lung des Arztes erschwert, so daß der etwaige Gewinn zu
    Anfang schließlich mehr als wettgemacht wird. Ich stehe
    darum nicht an, diese Art der Technik als eine fehlerhafte
    zu verwerfen. Der Arzt soll undurchsichtig für die Analysier-
    ten sein und wie eine Spiegelplatte nichts anderes zeigen, als
    was ihm gezeigt wird. Es ist allerdings praktisch nichts da-
    gegen zu sagen, wenn ein Psychotherapeut ein Stück Analyse
    mit einer Portion Suggestivbeeinflussung vermengt, um in
    kürzerer Zeit sichtbare Erfolge zu erzielen, wie es zum Bei-
    spiel in Anstalten notwendig wird, aber man darf verlangen,
    daß er selbst nicht im Zweifel darüber sei, was er vornehme,
    und daß er wisse, seine Methode sei nicht die der richtigen
    Psychoanalyse.

    h) Eine andere Versuchung ergibt sich aus der erzieheri-
    schen Tätigkeit, die dem Arzte bei der psychoanalytischen
    Behandlung ohne besonderen Vorsatz zufällt. Bei der Lösung
    von Entwicklungshemmungen macht es sich von selbst, daß
    der Arzt in die Lage kommt, den freigewordenen Strebun-
    gen neue Ziele anzuweisen. Es ist dann nur ein begreiflicher
    Ehrgeiz, wenn er sich bemüht, die Person, auf deren Be-
    freiung von der Neurose er soviel Mühe aufgewendet hat,
    auch zu etwas besonders vortrefflichem zu machen, und ihren
    Wiinschen hohe Ziele vorschreibt. Aber auch hiebei sollte
    der Arzt sich in der Gewalt haben und weniger die eigenen
    Wünsche als die Eignung des Analysierten zur Richtschnur
    nehmen. Nicht alle Neurotiker bringen viel Talent zur
    Sublimierung mit; von vielen unter ihnen kann man an-

  • S.

    350 Ratschläge fiir den Arzt

    nehmen, daß sie überhaupt nicht erkrankt wären, wenn sie
    die Kunst, ihre Triebe zu sublimieren, besessen hätten. Drängt
    man sie übermäßig zur Sublimierung und schneidet ihnen die
    nächsten und bequemsten Triebbefriedigungen ab, so macht
    man ihnen das Leben meist noch schwieriger, als sie es ohne-
    dies empfinden. Als Arzt muß man vor allem tolerant sein
    gegen die Schwäche des Kranken, muß sich bescheiden, auch
    einem nicht Vollwertigen ein Stück Leistungs- und Genuß-
    fähigkeit wiedergewonnen zu haben. Der erzieherische Ehr-
    geiz ist so wenig zweckmäßig wie der therapeutische. Es
    kommt außerdem in Betracht, daß viele Personen gerade an
    dem Versuche erkrankt sind, ihre Triebe über das von ihrer
    Organisation‘ gestattete Maß hinaus zu sublimieren, und daß
    sich bei den zur Sublimierung Befähigten dieser Prozeß von
    selbst zu vollziehen pflegt, sobald ihre Hemmungen durch
    die Analyse überwunden sind. Ich meine also, das Bestreben,
    die analytische Behandlung regelmäßig zur Triebsublimie-
    rung zu verwenden, ist zwar immer lobenswert, aber keines-
    wegs in allen Fällen empfehlenswert.

    i) In welchen Grenzen soll man die intellektuelle Mit-
    arbeit des Analysierten bei der Behandlung in Anspruch
    nehmen? Es ist schwer, hierüber etwas allgemein Gültiges
    auszusagen. Die Persönlichkeit des Patienten entscheidet in
    erster Linie. Aber Vorsicht und Zurückhaltung sind hiebei
    jedenfalls zu beobachten. Es ist unrichtig, dem Analysierten
    Aufgaben zu stellen, er solle seine Erinnerung sammeln, über
    eine gewisse Zeit seines Lebens nachdenken u. dgl. Er hat
    vielmehr vor allem zu lernen, was keinem leicht fällt anzu-
    nehmen, daß durch geistige Tätigkeit von der Art des Nach-
    denkens, daß durch Willens- und Aufmerksamkeitsanstren-
    gung keines der Rätsel der Neurose gelöst wird, sondern nur
    durch die geduldige Befolgung der psychoanalytischen Regel,
    welche die Kritik gegen das Unbewußte und dessen Ab-

  • S.

    bei der psychoanalytischen Behandlung 351

    kémmlinge auszuschalten gebietet. Besonders unerbittlich
    sollte man auf der Befolgung dieser Regel bei jenen Kranken
    bestehen, die die Kunst üben, bei der Behandlung ins
    Intellektuelle auszuweichen, dann viel und oft sehr weise
    über ihren Zustand reflektieren, und es sich so ersparen,
    etwas zu seiner Bewältigung zu tun. Ich nehme darum bei
    meinen Patienten auch die Lektüre analytischer Schriften
    nicht gern zu Hilfe; ich verlange, daß sie an der eigenen
    Person lernen sollen, und versichere ihnen, daß sie dadurch
    mehr und Wertvolleres erfahren werden, als ihnen die ge-
    samte psychoanalytische Literatur sagen könnte. Ich sehe
    aber ein, daß es unter den Bedingungen eines Anstaltsauf-
    enthaltes sehr vorteilhaft werden kann, sich der Lektüre zur
    Vorbereitung der Analysierten und zur Herstellung einer
    Atmosphäre von Beeinflussung zu bedienen.

    Am dringendsten möchte ich davor warnen, um die Zu-
    stimmung und Unterstützung von Eltern oder Angehörigen
    zu werben, indem man ihnen ein — einführendes oder tiefer
    gehendes — Werk unserer Literatur zu lesen gibt. Meist
    reicht dieser wohlgemeinte Schritt hin, um die naturgemäße,
    irgendeinmal unvermeidliche Gegnerschaft der Angehörigen
    gegen die psychoanalytische Behandlung der Ihrigen vor-
    zeitig losbrechen zu lassen, so daß es überhaupt nicht zum
    Beginne der Behandlung kommt.

    Ich gebe der Hoffnung Ausdruck, daß die fortschreitende
    Erfahrung der Psychoanalytiker bald zu einer Einigung über
    die Fragen der Technik führen wird, wie man am zweck-
    mäßigsten die Neurotiker behandeln solle. Was die Behand-
    lung der „Angehörigen“ betrifft, so gestehe ich meine völlige
    Ratlosigkeit ein und setze auf deren individuelle Behand-
    lung überhaupt wenig Zutrauen.