Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung 1912-003/1918
  • S.

    XXIII.

    RATSCHLAGE FUR DEN ARZT
    BEI DER PSYCHOANALYTISCHEN BEHANDLUNG. *

    Die technischen Regeln, die ich hier in Vorschlag bringe,
    haben sich mir aus der langjåhrigen eigenen Erfahrung er-
    geben, nachdem ich durch eigenen Schaden von der Verfol-
    gung anderer Wege zuriickgekommen war. Man wird leicht
    bemerken, daß sie sich, wenigstens viele von ihnen, zu einer
    einzigen Vorschrift zusammensetzen. Ich hoffe, daß ihre Be-
    rücksichtigung den analytisch tätigen Ärzten viel unnützen
    Aufwand ersparen und sie vor manchem Ubersehen behiiten
    wird; aber ich muß ausdrücklich sagen, diese Technik hat
    sich als die einzig zweckmäBige für meine Individualität er-
    geben; ich wage es nicht in Abrede zu stellen, daß eine ganz
    anders konstituierte ärztliche Persönlichkeit dazu gedrängt
    werden kann, eine andere Einstellung gegen den Kranken und
    gegen die zu lösende Aufgabe zu bevorzugen.

    a) Die nächste Aufgabe, vor die sich der Analytiker
    gestellt sieht, der mehr als einen Kranken im Tage so be-
    handelt, wird ihm auch als die schwierigste erscheinen. Sie
    besteht ja darin, alle die unzähligen Namen, Daten, Einzel-
    heiten der Erinnerung, Einfälle und Krankheitsproduktionen

    *) Zentralblatt fir Psychoanalyse, II, 1912.

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    400 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.

    während der Kur, die ein Patient im Laufe von Monaten
    und Jahren vorbringt, im Gedächtnis zu behalten und sie
    nicht mit ähnlichem Material zu verwechseln, das von anderen
    gleichzeitig oder früher analysierten Patienten herriihrt. Ist
    man gar genötigt, täglich sechs, acht Kranke oder selbst
    mehr zu analysieren, so wird eine Gedächtnisleistung, der
    solches gelingt, bei Außenstehenden Unglauben, Bewunderung
    oder selbst Bedauern wecken, In jedem Falle wird man auf
    die Technik neugierig sein, welche die Bewältigung einer
    solchen Fülle gestattet, und wir erwarten, daß dieselbe sich
    besonderer Hilfsmittel bediene,

    Indes ist diese Technik eine sehr einfache. Sie lehnt
    alle Hilfsmittel, wie wir hören werden, selbst das Nieder-
    schreiben ab und besteht einfach darin, sich nichts beson-
    ders merken zu wollen und allem, was man zu hören bekommt,
    die nämliche „gleichschwebende Aufmerksamkeit“, wie ich es
    schon einmal genannt habe, entgegen zu bringen. Man er-
    spart sich auf diese Weise eine Anstrengung der Aufmerk-
    samkeit, die man doch nicht durch viele Stunden täglich fest-
    halten könnte, und vermeidet eine Gefahr, die von dem ab-
    sichtlichen Aufmerken unzertrennlich ist. Sowie man näm-
    lich seine Aufmerksamkeit absichtlich bis zu einer gewissen
    Höhe anspannt, beginnt man auch unter dem dargebotenen
    Materiale auszuwählen; man fixiert das eine Stück besonders
    scharf, eliminiert dafür ein anderes, und folgt bei dieser
    Auswahl seinen Erwartungen oder seinen Neigungen. Gerade
    dies darf man aber nicht; folgt man bei der Auswahl seinen
    Erwartungen, so ist man in Gefahr, niemals etwas anderes
    zu finden, als was man bereits weiß; folgt man seinen Nei-
    gungen, so wird man sicherlich die mögliche Wahrnehmung
    fälschen. Man darf nicht darauf vergessen, daß man ja zu-

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    XXII. RATSCHLÄGE FUR DEN ARZT, 401

    meist Dinge zu hören bekommt, deren Bedeutung erst nach-
    träglich erkannt wird.

    Wie man sieht, ist die Vorschrift, sich alles gleichmäßig
    zu merken, das notwendige Gegenstück zu der Anforderung
    an den Analysierten, ohne Kritik und Auswahl alles zu er-
    zählen, was ihm einfällt. Benimmt sich der Arzt anders, so
    macht er zum großen Teile den Gewinn zu nichte, der aus
    der Befolgung der „psychoanalytischen Grundregel“ von seiten
    des Patienten resultiert. Die Regel für den Arzt läßt sich
    so aussprechen: Man halte alle bewußten Einwirkungen von
    seiner Merkfähigkeit ferne und überlasse sich völlig seinem
    „unbewußten Gedächtnisse“, oder rein technisch ausgedrückt:
    Man höre zu und kümmere sich nicht darum, ob man sich etwas
    merke. ( i

    Was man auf diese Weise bei sich erreicht, genügt allen
    Anforderungen wihrend der Behandlung. Jene Bestandteile
    des Materials, die sich bereits zu einem Zusammenhange fiigen,
    werden für den Arzt auch bewußt verfügbar; das andere, noch
    zusammenhanglose, chaotisch ungeordnete, scheint zunächst
    versunken, taucht aber bereitwillig im Gedåchtnisse auf, so-
    bald der Analysierte etwas Neues vorbringt, womit es sich
    in Beziehung bringen und wodurch es sich fortsetzen kann.
    Man nimmt dann låchelnd das unverdiente Kompliment des
    Analysierten wegen eines „besonders guten Gedächtnisses“
    entgegen, wenn man nach Jahr und Tag eine Einzelheit
    reproduziert, die der bewuBten Absicht, sie im Gedåchtnisse
    zu fixieren, wahrscheinlich entgangen wire.

    Irrtiimer in diesem Brinnern ereignen sich nur zu Zeiten
    und an Stellen, wo man durch die Eigenbeziehung gestört
    wird (s. unten), hinter dem Ideale des Analytikers also in
    arger Weise zuriickbleibt, Verwechslungen mit dem Materiale

    Freud, Neurosenlohre. IV. 26

  • S.

    402 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.

    anderer Patienten kommen recht selten zu stande. In einem
    Streite mit dem Analysierten, ob und wie er etwas einzelnes
    gesagt habe, bleibt der Arzt zumeist im Rechte.*)

    b) Ich kann es nicht empfehlen, während der Sitzungen
    mit dem Analysierten Notizen in größerem Umfange zu ma-
    chen, Protokolle anzulegen u. dgl. Abgesehen von dem un-
    günstigen Eindruck, den dies bei manchen Patienten hervor-
    ruft, gelten dagegen die nämlichen Gesichtspunkte, die wir
    beim Merken gewürdigt haben. Man trifft notgedrungen eine
    schädliche Auswahl aus dem Stoffe, während man nachschreibt
    oder stenographiert, und man bindet ein Stück seiner eigenen
    Geistestätigkeit, das in der Deutung des Angehörten eine
    bessere Verwendung finden soll. Man kann ohne Vorwurf
    Ausnahmen von dieser Regel zulassen für Daten, Traumtexte
    oder einzelne bemerkenswerte Ergebnisse, die sich leicht. aus
    dem Zusammenhange lösen lassen und für eine selbständige
    Verwendung als Beispiele geeignet sind. Aber ich pflege auch
    dies nicht zu tun. Beispiele schreibe ich am Abend nach Ab-
    schluB der Arbeit aus dem Gedächtnis nieder; Traumtexte,
    an denen mir gelegen ist, lasse ich von den Patienten nach
    der Erzählung des Traumes fixieren.

    c) Die Niederschrift während der Sitzung mit dem Pa-
    tienten konnte durch den Vorsatz gerechtfertigt werden, den
    behandelten Fall zum Gegenstande einer wissenschaftlichen
    Publikation zu machen. Das kann man ja prinzipiell kaum

    *) Der Analysierte behauptet oft, eine gewisse Mitteilung bereits
    früher gemacht zu haben, während man ihm mit ruhiger Uberlegenheit
    versichern kann, sie erfolge jetzt zum erstenmal. Es stellt sich dann
    heraus, daß der Analysierte früher einmal die Intention zu dieser Mit-
    teilung gehabt hat, an ihrer Ausführung aber durch einen noch bestehen-

    den Widerstand gehindert wurde. Die Erinnerung an diese Intention ist
    für ihn ununterscheidbar von der Erinnerung an deren Ausführung.

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    XXIII. RATSCHLÄGE FUR DEN ARZT. 403

    versagen. Aber man muß doch im Auge behalten, daß genaue
    Protokolle in einer analytischen Krankengeschichte weniger
    leisten, als man von ihnen erwarten sollte. Sie gehören, streng
    genommen, jener Scheinexaktheit an, fiir welche uns die „mo-
    derne" Psychiatrie manche auffällige Beispiele zur Verfügung
    stellt. Sie sind in der Regel ermüdend für den Leser und
    bringen es doch nicht dazu, ihm die Anwesenheit bei der
    Analyse zu ersetzen, Wir haben überhaupt die Erfahrung ge-
    macht, daß der Leser, wenn er dem Analytiker glauben will,
    ihm auch Kredit für das bißchen Bearbeitung einräumt, das
    er an seinem Material vorgenommen hat; wenn er die Analyse
    und den Analytiker aber nicht ernst nehmen will, so setzt
    er sich auch über getreue Behandlungsprotokolle hinweg. Dies
    scheint nicht der Weg, um dem Mangel an Evidenz abzu-
    helfen, der an den psychoanalytischen Darstellungen gefun-
    den wird,

    d) Es ist zwar einer der Ruhmestitel der analytischen
    Arbeit, daß Forschung und Behandlung bei ihr zusammen-
    fallen, aber die Technik, die der einen dient, widersetzt sich
    von einem gewissen Punkte an doch der anderen. Es ist nicht
    gut, einen Fall wissenschaftlich zu bearbeiten, solange seine
    Behandlung noch nicht abgeschlossen ist, seinen Aufbau
    zusammenzusetzen, seinen Fortgang erraten zu wollen, von
    Zeit zu Zeit Aufnahmen des gegenwärtigen Status zu machen,
    wie das wissenschaftliche Interesse es fordern würde, Der
    Erfolg leidet in solchen Fällen, die man von vornherein der
    wissenschaftlichen Verwertung bestimmt und nach deren Be-
    dürfnissen behandelt; dagegen gelingen jene Fälle am besten,
    bei denen man wie absichtslos verfährt, sich von jeder Wen-
    dung überraschen läßt, und denen man immer wieder unbe-
    fangen und voraussetzungslos entgegentritt. Das richtige Ver-

    26%

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    404 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE, IV.

    halten fiir den Analytiker wird darin bestehen, sich aus der
    einen psychischen Einstellung nach Bedarf in die andere zu
    schwingen, nicht zu spekulieren und zu griibeln, solange er
    analysiert, und erst dann das gewonnene Material der syn-
    thetischen Denkarbeit zu unterziehen, nachdem die Analyse
    abgeschlossen ist, Die Unterscheidung der beiden Einstel-
    lungen wiirde bedeutungslos, wenn wir bereits im Besitze aller
    oder doch der wesentlichen Erkenntnisse tiber die Psychologie
    des UnbewuDten und über die Struktur der Neurosen wären,
    die wir aus der psychoanalytischen Arbeit gewinnen können.
    Gegenwårtig sind wir von diesem Ziele noch weit entfernt,
    und diirfen uns die Wege nicht verschlieBen, um das bisher
    Erkannte nachzupriifen und Neues dazu zu finden.

    e) Ich kann den Kollegen nicht dringend genug emp-
    fehlen, sich wåhrend der psychoanalytischen Behandlung den
    Chirurgen zum Vorbild zu nehmen, der alle seine Affekte
    und selbst sein menschliches Mitleid beiseite drängt und
    scinen geistigen Kråften ein einziges Ziel setzt, die Operation
    so kunstgerecht als möglich zu vollziehen, Für den Psycho-
    analytiker wird unter den heute waltenden Umstånden eine
    Affektstrebung am gefährlichsten, der therapeutische Ehrgeiz,
    mit seinem neuen und viel angefochtenen Mittel etwas zu
    leisten, was überzeugend auf andere wirken kann. Damit
    bringt er nicht nur sich selbst in eine fiir die Arbeit un-
    ginstige Verfassung, er setzt sich auch wehrlos gewissen
    Widerständen des Patienten aus, von dessen Kråftespiel ja
    dic Genesung in erster Linie' abhångt. Die Rechtfertigung
    dieser vom Analytiker zu fordernden Gefiihlskålte liegt darin,
    daß sie fir beide Teile die vorteilhaftesten Bedingungen
    schafft, får den Arzt die wiinschenswerte Schonung seines
    eigenen Affektlebens, fiir den Kranken das größte Ausmaß

  • S.

    XXIII. RATSCHLÄGE FUR DEN ARZT. 405

    von Hilfeleistung, das uns heute möglich ist. Ein alter Chi-
    rurg hatte zu seinem Wahlspruch die Worte genommen: Je
    le pansai, Dieu le guérit. Mit etwas Ahnlichem sollte sich
    der Analytiker zufrieden geben.

    f) Es ist leicht zu erraten, in welchem Ziele diese einzeln
    vorgebrachten Regeln zusammentreffen, Sie wollen alle beim
    Arzte das Gegenstück zu der fiir den Analysierten aufgestell-
    ten ,psychoanalytischen Grundregel“ schaffen. Wie der Ana-
    lysierte alles mitteilen soll, was er in seiner Selbstbeobach-
    tung erhascht, mit Hintanhaltung aller logischen und affek-
    tiven Einwendungen, die ihn bewegen wollen, eine Auswahl
    zu treffen, so soll sich der Arzt in den Stand setzen, alles
    ihm Mitgeteilte für die Zwecke der Deutung, der Erkennung
    des verborgenen Unbewulten zu verwerten, ohne die vom
    Kranken aufgegebene Auswahl durch eine eigene Zensur zu
    ersetzen, in eine Formel gefaßt: Er soll dem gebenden Un-
    bewuBten des Kranken sein eigenes Unbewubtes als emp-
    fangendes Organ zuwenden, sich auf den Analysierten cin-
    stellen wie der Recciver des Telephons zum Teller eingestellt
    ist. Wie der Receiver die von Schallwellen angeregten elek-
    trischen Schwankungen der Leitung wieder in Schallwellen
    verwandelt, so ist das Unbewubte des Arztes befähigt, aus
    den ihm mitgeteilten Abkómmlingen des Unbewuften dies
    Unbewubte, welches die Einfälle des Kranken determiniert
    hat, wiederherzustellen.

    Wenn der Arzt aber im stande sein soll, sich seines Un-
    bewufiten in solcher Weise als Instrument bei der Analyse
    zu bedienen, so muß er selbst eine psychologische Bedingung
    in weitem Ausmafe erfüllen. Er darf in sich selbst keine
    Widerstände dulden, welche das von seinem UnbewuBten Er-
    kannte von seinem Bewuftsein abhalten, sonst würde er eine

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    406 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.

    neue Art von Auswahl und Entstellung in die Analyse ein-
    führen, welche weit schådlicher wäre als die durch Anspan-
    nung seiner bewuBten Aufmerksamkeit hervorgerufene. Es
    genügt nicht hiefür, daß er selbst ein annähernd normaler
    Mensch sei, man darf vielmehr die Forderung aufstellen, daß
    er sich einer psychoanalytischen Purifizierung unterzogen und
    von jenen Eigenkomplexen Kenntnis genommen habe, die ge-
    eignet wären, ihn in der Erfassung des vom Analysierten
    Dargebotenen zu stören. An der disqualifizierenden Wirkung
    solcher eigener Defekte kann billigerweise nicht gezweifelt
    werden; jede ungelöste Verdrängung beim Arzte entspricht
    nach einem treffenden Worte von W. Stekel einem „blin-
    den Fleck“ in seiner analytischen Wahrnehmung.

    | Vor Jahren erwiderte ich auf die Frage, wie man ein
    Analytiker werden könne: Durch die Analyse seiner eigenen
    Träume, GewiB reicht diese Vorbereitung fiir viele Personen
    aus, aber nicht für alle, die die Analyse erlernen möchten.
    Auch gelingt es nicht allen, die eigenen Träume ohne fremde
    Hilfe zu deuten. Ich rechne es zu den vielen Verdiensten der
    Züricher analytischen Schule, daß sie die Bedingung ver-
    schårft und in der Forderung nicdergelegt hat, es solle sich
    jeder, der Analysen an anderen ausführen will, vorher selbst
    einer Analyse bei einem Sachkundigen unterziehen, Wer es
    mit der Anfgabe ernst meint, sollte diesen Weg wåhlen, der
    mehr als einen Vorteil verspricht; das Opfer, sich ohne Krank-
    heitszwang einer fremden Person eröffnet zu haben, wird
    reichlich gelohnt. Man wird nicht nur seine Absicht, das
    Verborgene der eigenen Person kennen zu lernen, in weit
    kürzerer Zeit und mit geringem affektiven Aufwand verwirk-
    lichen, sondern auch Eindrücke und Überzeugungen am eigenen
    Leibe gewinnen, die man durch das Studium von Biichern

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    XXIII. RATSCHLÄGE FUR DEN ARZT. 407

    und Anhören von Vorträgen vergeblich anstrebt. Endlich ist
    auch der Gewinn aus der dauernden seelischen Beziehung
    nicht gering anzuschlagen, die sich zwischen dem Analysier-
    ten und seinem Einführenden herzustellen pflegt.

    Eine solehe Analyse eines praktisch Gesunden wird be-
    greiflicherweise unabgeschlossen bleiben, Wer den hohen Wert
    der durch sie erworbenen Selbsterkenntnis und Steigerung
    der Selbstbeherrschung zu würdigen weiß, wird die analytische
    Erforschung seiner eigenen Person nachher als Selbstanalyse
    fortsetzen und sich gerne damit bescheiden, daß er in sich
    wie außerhalb seiner immer Neues zu finden erwarten muß,
    Wer aber als Analytiker die Vorsicht der Eigenanalyse ver-
    schmåht hat, der wird nicht nur durch die Unfähigkeit be-
    straft, über ein gewisses Maß an seinen Kranken zu lernen,
    er unterliegt auch einer ernsthafteren Gefahr, die zur Ge-
    fahr für andere werden kann. Er wird leicht in die Ver-
    suchung geraten, was er in dumpfer Selbstwahrnehmung von
    den Eigentümlichkeiten seiner eigenen Person erkennt, als
    allgemeingültige Theorie in die Wissenschaft hinauszuproji-
    zieren, er wird die psychoanalytische Methode in MiBkredit
    bringen und Unerfahrene irre leiten.

    g) Ich füge noch einige andere Regeln an, in welchen
    der Übergang gemacht wird von der Einstellung des Arztes
    zur Behandlung des Analysierten.

    Es ist gewiB verlockend für den jungen und eifrigen
    Psychoanalytiker, daß er viel von der eigenen Individualität
    einsetze, um den Patienten mit sich fortzureiBen und ihn im
    Schwung über die Schranken seiner engen Persónlichkeit zu
    erheben. Man sollte meinen, es sei durchaus zulässig, ja
    zweckmáfig für die Überwindung der beim Kranken bestehen-
    den Widerstände, wenn der Arzt ihm Einblick in die eigenen

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    408 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV.

    seelischen Defekte und Konflikte gestattet, ihm durch ver-
    trauliche Mitteilungen aus seinem Leben die Gleichstellung
    ermöglicht. Hin Vertrauen ist doch das andere wert, und
    wer Intimitåt vom anderen fordert, muß ihm doch auch solche
    bezeugen. 2

    Allein im psychoanalytischen Verkehre läuft manches
    anders ab, als wir es nach den Voraussetzungen der Bewuft-
    seinspsychologie erwarten dürfen. Die Erfahrung spricht nicht
    für die Vorzüglichkeit einer solchen affektiven Technik, Es
    ist auch nicht schwer einzusehen, daf man mit ihr den psy-
    choanalytischen Boden verläßt und sich den Suggestions-
    behandlungen annühert. Man erreicht so etwa, daf der Patient
    eher und leichter mitteilt, was ihm selbst bekannt ist, und
    was er aus konventionellen Widerstånden noch eine Weile
    zurückgehalten hátte. Für die Aufdeckung des dem Kranken
    Unbewuften leistet diese Technik nichts, sie macht ihn nur
    noch unfáhiger, tiefere Widerstände zu überwinden, und sic
    versagt in schwereren Fällen regelmäßig an der rege gemach-
    ten Unersåttlichkeit des Kranken, der dann gerne das Ver-
    håltnis umkehren möchte und die Analyse des Arztes inter-
    essanter findet als die eigene. Auch die Lósung der Über-
    tragung, eine der Hauptaufgaben der Kur, wird durch die
    intime Einstellung des Arztes erschwert, so daß der etwaige
    Gewinn zu Anfang schließlich mehr als wett gemacht wird.
    Ich stehe darum nicht an, diese Art der Technik als eine
    fehlerhafte zu verwerfen. Der Arzt soll undurchsichtig für
    den Analysierten sein und wie eine Spiegelplatte nichts ans
    deres zeigen, als was ihm gezeigt wird. Es ist allerdings
    praktisch nichts dagegen zu sagen, wenn ein Psychothera-
    peut ein Stück Analyse mit einer Portion Suggestivbeein-
    flussung vermengt, um in kürzerer Zeit sichtbare Erfolge zu

  • S.

    XXIII. RATSCHLAGE FUR DEN ARZT; 409

    erzielen, wie es z. В. in Anstalten notwendig wird, aber man "
    darf verlangen, daß er selbst nicht im Zweifel darüber sei,
    was er vornehme, und daß er wisse, seine Methode sei nicht
    die der richtigen Psychoanalyse.

    h) Eine andere Versuchung ergibt sich aus der erzieheri-
    schen Tätigkeit, die dem Arzte bei der psychoanalytischen
    Behandlung ohne besonderen Vorsatz zufällt. Bei der Lösung
    von Entwicklungshemmungen macht es sich von selbst, daß
    der Arzt in die Lage kommt, den frei gewordenen Strebungen
    neue Ziele anzuweisen. Es ist dann nur ein begreiflicher
    Ehrgeiz, wenn er sich bemüht, die Person, auf deren Be-
    freiung von der Neurose er soviel Mühe aufgewendet hat,
    auch zu etwas besonders vortrefflichem zu machen, und ihren
    Wünschen. hohe Ziele vorschreibt. Aber auch hiebei sollte
    der Arzt sich in der Gewalt haben und weniger die eigenen
    Wiinsche als die Eignung des Analysierten zur Richtschnur
    nehmen, Nicht alle Neurotiker bringen viel Talent zur Subli-
    mierung mit; von vielen unter ihnen kann man annehmen,
    daß sie überhaupt nicht erkrankt wären, wenn sie die Kunst,
    ihre Triebe zu sublimieren, besessen håtten. Drångt man sie
    übermäßig zur Sublimierung und schneidet ihnen die nåch-
    sten und bequemsten Triebbefriedigungen ab, so macht man
    ihnen das Leben meist noch schwieriger, als sie es ohnedies
    empfinden. Als Arzt muB man vor allem tolerant sein gegen
    die Schwäche des Kranken, muß sich bescheiden, auch einem
    nicht Vollwertigen ein Stück Leistungs- und Genuffáhigkeit
    wiedergewonnen zu haben. Der erzieherische Ehrgeiz ist so
    wenig zweckmäßig wie der therapeutische. Es kommt auBer-
    dem in Betracht, daß viele Personen gerade an dem Versuche
    erkrankt sind, ihre Triebe über das von ihrer Organisation
    gestattete Maß hinaus zu sublimieren, und daß sich bei den

  • S.

    410 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. IV,

    zur Sublimierung Befähigten dieser Prozeß von selbst zu voll-
    ziehen pflegt, sobald ihre Hemmungen durch die Analyse
    überwunden sind. Ich meine also, das Bestreben, die ana-
    Iytische Behandlung regelmäßig zur Triebsublimierung zu
    verwenden, ist zwar immer lobenswert, aber keineswegs in
    allen Fällen empfehlenswert.

    i) In welchen Grenzen soll man die intellektuelle Mit-
    arbeit des Analysierten bei der Behandlung in Anspruch
    nehmen? Es ist schwer, hierüber etwas allgemein Gültiges
    auszusagen. Die Persönlichkeit des Patienten entscheidet in
    erster Linie. Aber Vorsicht und Zurückhaltung sind hiebei
    jedenfalls zu beobachten. Es ist unrichtig, dem Analysierten
    Aufgaben zu stellen, er solle seine Erinnerung sammeln, über
    eine gewisse Zeit seines Lebens nachdenken u. dgl. Er hat
    vielmehr vor allem zu lernen, was keinem leicht fällt anzu-
    nehmen, daß durch geistige Tätigkeit von der Art des Nach-
    denkens, daß durch Willens- und Aufmerksamkeitsanstrengung
    keines der Rätsel der Neurose gelöst wird, sondern nur durch
    die geduldige Befolgung der psychoanalytischen Regel, welche
    die Kritik gegen das Unbewußte und dessen Abkömmlinge
    auszuschalten gebietet. Besonders unerbittlich. sollte man auf
    der Befolgung dieser Regel bei jenen Kranken bestehen, die
    die Kunst üben, bei der Behandlung ins Intellektuelle auszu-
    weichen, dann viel und oft sehr weise über ihren Zustand
    reflektieren, und es sich so ersparen, etwas zu seiner Be-
    wältigung zu tun. Ich nehme darum bei meinen Patienten
    auch die Lektüre analytischer Schriften nicht gerne zu Hilfe;
    ich verlange, daß sie an der eigenen Person lernen sollen,
    und versichere ihnen, daß sie dadurch mehr und Wertvol-
    leres erfahren werden, als ihnen die gesamte psychoanalytische
    Literatur sagen könnte. Ich sehe aber ein, daß es unter den

  • S.

    XXIII. RATSCHLÄGE FUR DEN ARZT. 411

    Bedingungen eines Anstaltsaufenthaltes sehr vorteilhaft wer-
    den kann, sich der Lektüre zur Vorbereitung der Analysier-
    ten und zur Herstellung einer Atmosphäre von Beeinflussung
    zu bedienen.

    Am dringendsten möchte ich davor warnen, um die Zu-
    stimmung oder Unterstützung von Eltern oder Angehörigen
    Zu werben, indem man ihnen ein — einführendes oder tiefer
    gehendes — Werk unserer Literatur zu lesen gibt. Meist
    reicht dieser wohlgemeinte Schritt hin, um die naturgemäße,
    irgendeinmal unvermeidliche, Gegnerschaft der Angehörigen
    gegen die psychoanalytische Behandlung der Ihrigen vor-
    zeitig losbrechen zu lassen, so daß es überhaupt nicht zum
    Beginne der Behandlung kommt.

    Ich gebe der Hoffnung Ausdruck, daß die fortschreitende
    Erfahrung der Psychoanalytiker bald zu einer Einigung über
    die Fragen der Technik führen wird, wie man am zweck-
    mäßigsten die Neurotiker behandeln solle, Was die Behand-
    lung der „Angehörigen“ betrifft, so gestehe ich meine völ-
    lige Ratlosigkeit ein und setze auf deren individuelle Be-
    handlung überhaupt wenig Zutrauen, ⑧