Rezension von: Edinger, [Ludwig] ›Eine neue Theorie über die Ursachen einiger Nervenkrankheiten, insbesondere der Neuritis und der Tabes‹ 1895-201/1895
  • S.

    Kritische Besprechungen und literarische Anzeigen.
    Eine neue Theorie über die Ursachen einiger
    Nervenkrankheiten, insbesondere der Neuritis
    und der Tabes.
    Von L. Edinger.
    (Volkmann’s Vorträge Nr. 106, 1894).

    Dass es vorwiegend aetiologische Fragen sind, welche die
    Neuropathologie unserer Tage beschäftigen, geht auch aus der
    interessanten Schrift des rühmlich bekannten Verfassers hervor.
    Wir hoffen das allgemeine Interesse zu erregen, wenn wir den Ge-
    dankengang der hier angezeigten Arbeit in Kürze wiedergeben.
    Edinger knüpft an die Räthsel an, welche sich in dem
    gegenwärtigen Stande unserer Kenntniss von der Verursachung der
    Nervenkrankheiten dem denkenden Beobachter so reichlich ergeben.
    Da stösst man einerseits auf die sozusagen banalen aetiologischen
    Momente: Trauma, Erkältung, Ueberanstrengung, Intoxication u. dgl.,
    die in den verschiedenartigsten Nervenkrankheiten eine ätiologische
    Bedeutung beanspruchen, andererseits auf die Behauptung, dass
    dieselbe Affection jedesmal eine andere aetiologische Herleitung, von
    einem anderen der aufgezählten Momente zulasse. Wie ist es möglich,
    dass die gleiche Ursache so verschiedene Krankheiten erzeugt, und
    dass der gleiche Symptomcomplex Folge so mannigfaltiger Schädigungen
    sein kann? Das Bedürfniss nach einer engeren, specifischen Be-
    ziehung zwischen Ursache und Wirkung macht sich hier unab-
    weisbar geltend.

    Neben diesen häufigen und allgegenwärtigen aetiologischen
    Factoren verzeichnet unsere derzeitige Kenntniss Beispiele von
    selteneren und nur in bestimmten Fällen wirksamen Aetiologien, die
    unserem Verständniss noch mehr als jene ersteren entrückt sind.
    So z. B. kennen wir strangförmige Degenerationen des Rücken-
    markes nach Drehen auf Centrifugen und bei perniciösen Anämien.
    Wer vermöchte wohl diese Beziehung unter den gleichen Gesichts-
    punkt zu rücken, wie er sich für die banale Aetiologie des Traumas,
    der Infection u. dgl. darbietet? Ein anderes Räthsel liegt nicht so
    sehr in der Verursachung der Krankheiten als in der Auswahl
    einer bevorzugten Localität für dieselbe. So befällt die post-
    diphtheritische Lähmung mit besonderer Vorliebe Gaumensegel und

    Augenmuskeln, die Bleihlähmung hat ihre charakteristische Localisation
    u. dgl. allbekannte Verhältnisse mehr.
    Diese unbeleugbar vorhandenen Lücken in unserem aetiologischen
    Verständniss der Nervenkrankheiten verspricht der Autor auszufüllen,
    indem er uns auf eine Theorie hinweist, die er seit drei Jahren
    an den Beobachtungen der täglichen Praxis geprüft und als be-
    langreich erprobt hat. Wir wollen den Versuch machen, in den
    Inhalt dieser Theorie einzudringen, indem wir die Darstellung des
    Autors nicht sowohl wörtlich wiedergeben als dem Sinne nach
    umschreiben.
    Es verlohnt sich wohl, sich einmal in philosophischer Absicht
    mit dem Thema Aetiologie der Nervenkrankheiten zu beschäftigen,
    um die Formeln für die hier sich ergebenden Complicationen zu
    finden. Man kann den Satz aufstellen, wenn zwei oder mehrere
    Momente in der Aetiologie einer Nervenkrankheit angetroffen werden,
    so kann die Beziehung dieser Momente zur Krankheit z. B. doch
    sehr mannigfacher Art sein. Das eine Moment kann z. B. dem
    Krankheitszustand direct bevorrufen, bei der Wirkung eines anderen
    wird zunächst ein Zustand des Nervensystems erzeugt, der seinerseits
    unter gewissen neuen Bedingungen in den Krankheitszustand über-
    geht. Ein drittes Moment endlich gehorcht erst zur Wirkung, indem
    sich eine ganze Kette von aetiologischen Mitgliedern einschaltet.
    Man kann sich nun die unbefriedigende Thatsache, dass so viele
    verschiedene Momente doch dieselbe Krankheit
    produciren verständlicher machen, wenn man annimmt, diese
    aetiologischen Momente seien zumeist indirect wirksame, und sie
    dienen trotz aller Verschiedenheit einem aetiologischen Mittelglied
    zusammen, welches die directe, aber auch die specifische
    Ursache der Krankheit ist. Man hätte so die Anforderung einer
    specifischen Aetiologie, mit den Angaben der Erfahrung in Einklang
    gebracht, und was uns Edinger verspricht geht auch dahin, uns
    einen dieser Mittelglieder aufzudecken, in denen die mannigfaltigen
    indirecten Aetiologien zusammentragen.
    In sehr vielen Fällen von Erkrankung führt Edinger aus,
    könnte neben den bekannten groben Schädlichkeiten eine besondere
    meist übersehene Schädlichkeit vorhanden sein, die sich aus dem
    Functionen des Nervensystems herleiten. Denn die Function der
    Nervengewebe, behauptet er, in Anlehnung an Gedankengänge
    von Weigert und Brux, geht mit einem Verbrauch einher, der
    einen Ersatz fordert. Wo der normale Thätigkeit des Nerven-
    gewebes nicht ein normales Maass von Ersatz durch den Stoff-
    wechsel folgt, oder wo bei normaler Ersatzmöglichkeit die Function
    übermässig gesteigert wird, da wird die Function eine Schädigung
    und somit ein möglicher Factor in der Aetiologie der Nerven-
    krankheiten.
    Der «Verbrauch» oder, wie wir mit Edinger
    sagen wollen, «mangelnder Ersatz» unter die aetiologischen Momente
    der Nervenkrankheiten aufzunehmen ist, wird wohl keinem Einspruch
    begegnen, ja dürfte Vielen als Wiederholung einer bereits erfüllten
    Forderung erscheinen. Edinger’s Bedeutung, seinen bei seiner Theorie
    aber mehr, er hat die Absicht, den «mangelnden Ersatz» als
    aetiologischen Factor einem, der anerkanntern Factoren wie Trauma
    u. dgl. gleichzustellen, welchen eine objectiv nachweisbare Schä-
    digung der Nervensubstanz, eine morphologische Veränderung der
    Nervenzellen und Fasern erzeugen. Er erachtet diesen Nachweis
    geliefert durch die Existenz des Arbeits-Ersatzes, die sich als
    atrophische Lähmungen darstellen und auf Neuritis zu beziehen sind.
    Dies ist der Punkt ist, in welchem die aetiologische Theorie
    des Autors zuerst den Boden der Erfahrung betritt, darf hier
    auch die Kritik ein ernstes Wort einwerfen. Für eine ganze Reihe
    von «Arbeitsparen» bleibt es zweifelhaft, ob die Ueberarbeitung
    als die einzige und wesentliche Ursache der Neuritis zu gelten hat
    oder nicht vielmehr der Druck, welchen der Nerv in der durch
    die Beschäftigung erlittenen Position ausgesetzt ist, so zu
    dessert sich z. B. **Oppenheim** in seinem neu erschienenen
    Lehrbuch in Betreff dieser Affectionen. Für manche andere Fälle
    halte ich es für wahrscheinlich, dass es sich um eine malage-
    Affection handelt, welche die Ueberschäftigung nicht verträgt,
    analog **Charcot’s** intermittirendem Hinken. Doch dürften bei
    strengster Sichtung doch zahlreiche Arbeitsparesen übrig bleiben,
    die auf «Ersatzmangel» in Sinne Edinger’s zurückzuführen sind.

  • S.

    Somit hätten wir uns an den Gedanken gewöhnt, dass der
    «Ersatzmangel» die Ursache von atrophischen Processen im Nerven-
    system, also eine grobe Schädlichkeit wie jede andere sein könne.
    Der Autor fügt aber alsbald die warnenden, aber seine Theorie
    günstigsten Beschränkung hinzu, solche Arbeitsparesen fänden viel
    zuerst bei cachektischen, irgendwie internistischen, Individuen.
    Für mein Urtheil enthüllt durch diesen Zusatz das Verhältniss der
    vorhergehenden Beweisführung und bleibt doch höchst zweifel-
    haft, welche Rolle als aetiologisches Moment die Ueberfunction be-
    anspruchen darf, da sie für sich allein atrophische Lähmung zu
    allermeist nicht erzeugt.
    Ich muss behaupten, dass im Verlaufe des Aufsatzes
    keinem anderen Beispiele begegnen, welches die aetiologische Be-
    deutung des «mangelnden Ersatzes» unzweideutiger erweisen würde,
    als dies durch die «Arbeitsparesen» geschieht. Denn die Zulassung
    der Neuritis nach Infectionskrankheiten, Diabetes u. dgl.
    als Folge des mangelnden Ersatzes durch Stoffwechselstörung hat
    ebensowenig Zwingendes, wie die Zurückführung gewisser centraler
    Strangaffectionen, der grauen Degeneration bei perniciöser Anämie z. B.
    auf dieselbe Aetiologie. Edinger misst seine Hypothese selbst gegen
    die Tabes, da es sich in solchen Fällen um eine Giftwirkung
    handelt, und behauptet, dass seine Auffassung etwa erklären könne,
    was sich nach der Hypothese der Giftwirkung nicht aufklären lasse,
    nämlich die Eigenthümlichkeiten der Localisation und Election in
    diesen Affectionen. Da er aber seine Sätze an der Tabes exemplifizirt,
    stützt sich die Darstellung daraufhin, u. zw. die Theorie des
    «mangelnden Ersatzes» in der absoluten oder relativen Ueberfunction
    etwas von den eigenthümlichen Prädilectionen des tabischen Processes
    erklären könne, deren Determinirung unserem Verständniss sonst
    fast völlig entgeht.
    Edinger lässt die Syphilis als häufigste Veranlassung der
    Tabes gelten, aber nicht als einzige; er findet einen starken Einwand
    gegen die reine «Functionirer-Lehre» in der Thatsache, dass
    Tabes bei puellis publicis relativ selten ist. Es müsse noch andere
    dispositionirende Factoren neben der Lues geben, die die Geschlechtstube
    in Beziehung zu dieser Krankheit. Denn diese, nach der
    «Functionshypothese» befriedigend erklären; z. B. über
    die häufigsten Localisationen der Tabes, abgesehen von der durch
    automatische Centren vermittelten Bewegungen und Sensationen
    gebe es eine Anzahl von Nervenapparaten, die in ungewöhnlicher
    Weise ständig oder doch sehr häufig in Anspruch genommen seien,
    sehr viel mehr jedenfalls als andere Körpernerven. Hier kommen
    zunächts all die Nervenapparate in Betracht, die beim aufrechten
    Gang des Menschen zur Erhaltung des Gleichgewichtes nothwendig
    sind. Dies ist die Hypothese des Autors richtig, so müssen dabei Tabes
    zuerst leiden und so Ataxie entstehen. Diese Störungen müssten
    sich vorwiegend einstellen bei Leuten, die speciell die Beine mehr
    anstrengen, und müssten trotz Syphilis oder anderer Prädisposition
    selten sein bei solchen, die ungewöhnlich viel ruhen. Die relativ
    grosse Häufigkeit der Tabes bei Offizieren, Bahnbearbeitern etc.,
    die auffallende Seltenheit bei den Puellis mit relativ zu den
    oben Ständen selteneren Lebensweise fände hier eine befriedigende
    Erklärung. In den Fällen, wo Ataxie an den Armen beginnt, wäre
    künftighin auf die Art der Beschäftigung zu achten.
    Ebenso fordert die Functionstheorie als nächst häufiges Symptom
    das Vorkommen von Pupillar- und Augenmuskelstörungen, da diese
    Muskeln zu den am meisten in Anspruch genommenen Apparaten
    gehören. Ja, selbst dass die Blasen, welche dem Lichtreflex ver-
    mitteln, früher erkranken als die dem Accomodation dienen, fordert
    die Theorie, denn die ersteren sind die häufiger in Anspruch ge-
    nommenen. Jede Wolke, die am Himmel einherzieht, beeinflusst
    die Pupillenweite.
    Der Functionstheorie passt auch, dass Esophagsplichen gebe
    und «zuerst diejenigen Organe die Blase ein Organ, das ständig in Anspruch
    genommen, allmählich eintretende Störungen erwarten lässt. Die
    Erfahrung hat bekanntlich des häufige Vorkommen von Blasen-
    störungen bei der Tabes erwiesen.»
    Ich will nun versuchen an demselben Material von Thatsachen
    einen Satz zu erweisen, welchen dem von Edinger sehr schreck-
    zuzustimmen. Ich werde nämlich die Behauptung aufstellen, dass
    übersichtlichen und continuirlichen Functionen einen Nervenapparat

    vor der tabischen Erkrankung schützt, während seltene und unter-
    brochene Function die Tabes befördert. Wenn es Nervenapparate
    gibt, die ruhelos arbeiten und mehr als andere in Anspruch ge-
    nommen werden, so sind es die der Athmung und des Herzschlages,
    an diese wagt sich die tabische Erkrankung kaum je heran. Jene
    Apparate dagegen, welche nur während des Wachsens in Anspruch
    genommen werden, sich also während eines Drittels der Lebenszeit
    ausruhen dürfen, wie die, welche die Muskelemfindungen leiten
    und die Augenbewegungen besorgen, diese Apparate gerade sehen
    wir am häufigsten der Tabes verfallen. Ein lehrreicher Gegensatz
    zeigt sich ferner im Verhalten der Blasen- und der Genitalfunctionen.
    Es gibt kaum einen Muskelapparat, dem weniger im Leben zu
    gemuthet würde als dem der Blase; mässige tonische Spannung
    einerseits, andererseits 4–6 Mal im Tage eine langsame Zusammen-
    ziehung, und siehe, dieser Apparat wird bei der Tabes fast regel-
    mässig mit-ergriffen. Dagegen scheint übermässige Anstrengung zu
    sexuellen Functionen das Lendenmark geradezu immun gegen
    Tabes zu machen, denn bei den **Puellis publicis** ist, trotz der nie
    mangelnden Syphilis, Tabes eine Seltenheit!

    Gegen beide Theorien, die jetzt von mir aufgestellte und die
    von Edinger wird ein Dritter mit Recht einwenden, wir befänden
    uns augenscheinlich auf unfruchtbaren Wegen, denn wir zögern
    zur Erklärung etwas sich gleich bleibendes, wie die Rangordnung
    der Leistung nervöser Apparate heran, während das zu Erklärende,
    die Prädilectionen der verschiedenen Nervenkrankheiten, doch eine grosse
    Mannigfaltigkeit bietet. Dieser Einwand ist Edinger keineswegs
    entgangen, er bringt ihn selbst bei der Besprechung der **Fried-
    reich'**schen Krankheit vor, wo die Frage entsteht, warum Pupillen
    und Blase hier durch die ganze Dauer des Leidens intakt bleiben.
    Er versäumt es aber, den einzigen Schluss zu ziehen, der unter
    solchen Umständen erübrigt, dass nämlich die «**Functionstheorie**»
    nicht das leistet, was Edinger von ihr erwartet, und dass fast
    alle aetiologischen Räthsel nach wie vor weiterbestehen.

    Der Autor verspricht uns an anderer Stelle eine ein-
    gehende Darlegung seiner Theorie zu liefern. Wir können uns nur
    der Gelegenheit freuen, die uns dann geboten würde, um uns mit
    einer aetiologischen Anschauung auseinander zu setzen, welche
    offenbar die Schranken zwischen der Aetiologie der organischen
    Nervenkrankheiten und jener der Neurosen nicht beachten wird,
    zumal wenn ein Mann vom Range unseres Autors sich zum Ver-
    treter einer solchen Lehre macht. Vorläufig will es uns scheinen,
    als hätten wir Grund, ihm für die Hervorhebung eines interessanten
    aetiologischen Momentes dankbar zu sein, aber auch als wären wir
    eher in der vorgefassten Meinung bestärkt worden, die «Ueber-
    function», der «mangelnde Ersatz» sei den groben Schädlichkeiten
    für’s Nervensystem nicht gleichzustellen und nicht als Ursache
    morphologisch nachweisbaren Nervenverfalles anzusehen.

    Sigmund Freud.