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Literarische Anzeigen.
Anleitung beim Studium des Baues der nervösen Central
organe im gesunden und kranken Zustande. Von Dr.
H. Obersteiner. 406 pp. Leipzig und Wien, Toeplitz und
Deuticke, 1888.
Besprochen vom Dozenten Dr. Sigm. Freud.
Die letzten drei Jahre haben uns mit drei Darstellungen der
Lehre vom Gehirnbaue béschenkt, in welchen die didaktische Ab-
sicht in den Vordergrund tritt. Die erste derselben Edin ger's
,Zehn Vorlesungen über den Bau der nervösen Centralorgane, 18854
ist ein kurzer, aber vortrefflich gelungener Versuch, welcher aus
der Anatomie des Centralorgans alles dasjenige hervorhebt, was
derzeit physiologisch oder pathologisch verwerthbar erscheint, und
sich dabei wesentlich auf die Resultate stützt, die man der An-
wendung der Flechsig'schen Methode (Studium des Faserverlaufes
am frontalen Centralorgane) verdankt. Das zweite Werk, der Traité
6lémentaire d'Anatomie médicale du système nerveux von Féré
(dem Adjunkten der Salpêtrière), ist schätzenswerth, wo es di
klinischen und pathologisch-anatomischen Ermittlungen der Char-
cot'schen Schule zusammengestellt, aber unselbstäändig und selbst
armselig, sobald es den feineren Bau des Centralorgans und den
Faserverlauf in demselben behandelt.
Das hier vorliegende nene Buch von Obersteiner ist hin-
gegen als die - soweit sie reicht- zuverlässigste und vollstän-
2S.
digste unter den neueren Darstellungen des Gehirnbanes zu be-
zeichnen. Bei der Reichhaltigkit, der klaren Anordnung und der
unparteischen Haltung des Werkes darf man die Erwartung aus-
sprechen, dass dasselbe in kurzer Zeit allen Jenen ein vertrauter
Helfer werden wird, welehe eine gute anatomische Kenntniss des
Nervensystems zu erwerben suchen.
Es wird nicht überflüssig erscheinen, durch einige allgemeine
Bemerkungen und näheres Eingehen auf den Inhalt einzelner Ab-
schnitte den ärztlichen Kreisen eine bessere Charakteristik des
werthvollen Buches zu geben. Ein erster Abschnitt behandelt die
technischen Methoden der Gehirnanatomie, sowie die verschiedenen
anderen Quellen, aus denen die Kenntniss des Gehirnbaues geschöpft
ist. Bei der Besprechung der letzteren (Studium des nicht voll
ständig ausgebildeten und des pathologisch veränderten Central
organs, vergleichend-anatomische, experimentell-physiologische Unter
suchung) wird man die beigefügten kritischen Bemerkungen als
hochwillkommen begrüssen. Insbesondere die Verwerthung der nach
der Gudden'schen Methode gewonnenen Resultate erfordert eine
kritische Ueberlegung, welche man bei den Forschern, die sich ;
dieser Methode bedient haben, nicht immer findet. Obers tein er
begnügt sich aber in der Regel damit, gewisse Punkte als zweifel-
haft zu bezeichnen, anstatt dieselben einer Widerlegung zu unter-
ziehen, wie er denn überhaupt in den mächtigen streitigen Fragen
eine grosse Zurückhaltung des eigenen Urtheiles zeigt. Der zweite
Abschnitt, welcher die Morphologie des Centralnervensystems be-
handelt, enthält eine grosse Anzahl neuer, sehr gut in Holzschnitt|
ausgeführter Abbildungen und einige Bemerkungen über die pbysio-
logische Bedeutung der Grosslhirnwindungen. Als ganz besonders ge-
lungen muss man den dritten A bschnitt des Buches bezeichnen,
welcher die Beschreibung der histologischen Elemente des Central-
nervensystems im gesunden und kranken Zustande bringt und mit
durchaus originalen, überaus zutreffenden Abbildungen geziert ist.
Man findet in diesen wie in anderen Theilen des Werkes, dass der
Autor eine Erwähnung des eigenen Namens sorgfältig vermeidet,
was vielleicht nicht unbedingt zu loben ist. Der vierte Abschnitt
über den feineren Bau des Rickenmarkes bringt als Einleitung
eine Reihe von interessanten Ansätzen zu einer allgemeinen Ana-
tomie des Centralnervensystems. Es werden darin Definitionen jener|
Termini gegeben, welche die Beschreibung des (Gehirnes fortwährend
anwendet, wie: Kern, Wurzel, Kommissur, Bahn u. dgl. Man ver
misst darunter die Frwähnung des ,Fasersystems", jenes schemati-
schen Begrifes, welcher der fruchtbarste für eine künftige ,all-
gemeine Gehirnanatomie" sein müsste. Ein tieferes Eingehen auf die
wissenschaftlichen Vorstellungen, denen das Material der Gehirn-
anatomie sich dereinst wird unterordnen müssen, liegt aber offenbar
nicht im Plane des Obersteiner'schen Buches, das sich selbst|
als eine Anleitung zum Studium des nervösen Centralorganes"
einführt. Dementsprechend sind auch die Versuche einer Gesammt-
darstellung des Gehirnbaues, das System von Meynert, die Sche-
mata von Luys, A eby und Flechs ig in wenigen Zeilen abge-
handelt. Der fiünfte Abschnitt, die ,topographische Durchsicht des
Gehirnes", erledigt den schwierigsten Theil der Aufgabe eines der
artigen Lehrbuches, als welchen man die Orientirung des Schiülers
in einer Querschnittsreihe durch den Hirnstamm bezeichnen darf.
Die der Beschreibung beigegebenen Figuren 110-131 sind nach
Karminpräparaten gefertigt, sie zeigen demnach in erster Linie die
Vertheilung grauer und weisser Substanzen und sind erst in zweiter
Linie Darstellungen des auf Querschnitten ersichtlichen Faser-
verlaufes. Insoferne sind diese Abbildungen minder instruktiv als
sie sein könnten und als z. B. die Abbildungen im ersten Bande der
Psychiatrie von Meynert sind. Der Autor war sich dieses Um-
standes, wie aus der Vorrede hervorgeht, wohlbewusst. Er hat
sich schliesslich durch den Wunsch leiten lassen, in den Abbildun-
gen getreue Wiedergabe der Präparate zu bringen, welche sich der
Schüler am leichtesten selbst verschaffen können wird. Weigert'sche
Präparate vom erwachsenen Menschen, welche die Faserung in so
vorzüglicher Weise zeigen, lassen sich aber bei schwacher Ver-
grösserung nicht genügend instruktiv abbilden (?) und zweierlei|
Reihen von Abbildungen zu geben, hätte den Preis des Buches bis
zu ener für ein Lehrbuch unzweckmässigen Höhe verthenert. (Den
Abbildungen in Meyn erts Psychiatrie liegen Goldpräparate zu
Grunde, welche sich vortrefflich zur Darstellung der Faserung beischwachen Vergrösserungen eignen.) Der sechste Abschnitt enthält
unter der Ueberschrift,Faserziüge und Bahnen" eine zusammen-
hängende Darstellung des bisher bekannt gewordenen Faserverlaufes
und stützt sich dem entsprechend vorwiegend auf die Ergebnisse der
sekundären Degeneration und der ungleichseitigen Markscheiden-
bildung. Es ist eine iüberaus sehwierige Aufgabe, derzeit eine solehe
Darstellung zu liefern. Das dafiür vorliegende Material ist spärlich,
lässt selbst in den Kapiteln, welche am besten ausgefüllt echeinen,
breite Ltücken, und ein guter Theil der angeblichen Thatsachen
ruht noch auf Behauptungen einzelner Untersueher. Der Autor,
welcher den Inhalt der anderen Abschnitte des Buches aus aut
optischer Erfahrung vertreten konnte, muss in dem Kapitel über
,Faserzüge und Bahnen" nothwendigerweise als Kompilator auf
treten. Doch zeigt gerade dieser Theil des Buches, in welch' um
eingeschränkter Weise der Autor den Stof und die Literatur des
selben beherrscht. Das Kapitel über Faserzüge und Bahnen enthält
eine Reihe von schematischen Zeichnungen, darunter einige nene,
. B. das Schema des centralen Riechapparates und einige Ab
bildungen der Gehirnrinde, z. B. Fig. 163 (Weigertpräparat der
Rinde des Stirnlappens), welche sehr schön und instruktiv aus-
gefallen sind. Das der Abschnitt über das Kleinhirn besonders
reichhaltig geworden ist, versteht sich durch die langjührige Be-
sehäftigung Oberstein er's mit diesem seit Stilling ziemlich
vernachlässigten Hirntheile. Ein Abschnitt über die Hüllen und Ge-
fässe des Centralorgans macht den Schluss des neuen, im Ganzen
wie im Einzelnen treflichen Lehrbuches, welches von der Verlags
buchhandlung eine würdige Ausstattung erhalten hat.
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