Rezension von: Obersteiner, H[einrich] ›Anleitung beim Studium des Baues der nervösen Centralorgane im gesunden und kranken Zustande‹ 1887-242/1887
  • S.

    Literarische Anzeigen.    
    Anleitung beim Studium des Baues der nervösen Central    
    organe im gesunden und kranken Zustande. Von Dr.    
    H. Obersteiner. 406 pp. Leipzig und Wien, Toeplitz und    
    Deuticke, 1888.    
    Besprochen vom Dozenten Dr. Sigm. Freud.    
    Die letzten drei Jahre haben uns mit drei Darstellungen der    
    Lehre vom Gehirnbaue béschenkt, in welchen die didaktische Ab-    
    sicht in den Vordergrund tritt.    Die erste derselben Edin ger's    
    ,Zehn Vorlesungen über den Bau der nervösen Centralorgane, 18854    
    ist ein kurzer, aber vortrefflich gelungener Versuch,    welcher aus    
    der Anatomie des Centralorgans    alles dasjenige hervorhebt, was    
    derzeit physiologisch oder pathologisch verwerthbar erscheint, und    
    sich dabei wesentlich auf die Resultate stützt, die man der An-    
    wendung der Flechsig'schen Methode (Studium des Faserverlaufes    
    am frontalen Centralorgane) verdankt. Das zweite Werk, der Traité    
    6lémentaire d'Anatomie médicale du système nerveux von Féré    
    (dem Adjunkten der Salpêtrière), ist schätzenswerth, wo es di    
    klinischen und pathologisch-anatomischen Ermittlungen der Char-    
    cot'schen Schule zusammengestellt, aber unselbstäändig und selbst    
    armselig, sobald es den feineren Bau des Centralorgans und den    
    Faserverlauf in demselben behandelt.    
    Das hier vorliegende nene Buch von Obersteiner ist hin-    
    gegen als die - soweit sie reicht- zuverlässigste und vollstän-    
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    digste unter den neueren Darstellungen des Gehirnbanes zu be-    
    zeichnen.    Bei der Reichhaltigkit, der klaren Anordnung und der    
    unparteischen Haltung des Werkes darf man die Erwartung aus-    
    sprechen, dass dasselbe in kurzer Zeit allen Jenen ein vertrauter    
    Helfer werden wird, welehe eine gute anatomische Kenntniss des    
    Nervensystems zu erwerben suchen.    
    Es wird nicht überflüssig erscheinen, durch einige allgemeine    
    Bemerkungen und näheres Eingehen auf den Inhalt einzelner Ab-    
    schnitte den ärztlichen Kreisen eine bessere Charakteristik des    
    werthvollen Buches zu geben.    Ein erster Abschnitt behandelt die    
    technischen Methoden der Gehirnanatomie, sowie die verschiedenen    
    anderen Quellen, aus denen die Kenntniss des Gehirnbaues geschöpft    
    ist.    Bei der Besprechung der letzteren (Studium des nicht voll    
    ständig ausgebildeten und des pathologisch veränderten Central    
    organs, vergleichend-anatomische, experimentell-physiologische Unter    
    suchung) wird man die beigefügten kritischen Bemerkungen als    
    hochwillkommen begrüssen. Insbesondere die Verwerthung der nach    
    der Gudden'schen Methode gewonnenen Resultate erfordert eine    
    kritische Ueberlegung, welche man bei den Forschern, die sich ;    
    dieser Methode bedient haben, nicht immer findet. Obers tein er    
    begnügt sich aber in der Regel damit, gewisse Punkte als zweifel-    
    haft zu bezeichnen, anstatt dieselben einer Widerlegung zu unter-    
    ziehen, wie er denn überhaupt in den mächtigen streitigen Fragen    
    eine grosse Zurückhaltung des eigenen Urtheiles zeigt. Der zweite    
    Abschnitt, welcher die Morphologie des Centralnervensystems be-    
    handelt, enthält eine grosse Anzahl neuer, sehr gut in Holzschnitt|    
    ausgeführter Abbildungen und einige Bemerkungen über die pbysio-    
    logische Bedeutung der Grosslhirnwindungen. Als ganz besonders ge-    
    lungen muss man den dritten A bschnitt des Buches bezeichnen,    
    welcher die Beschreibung der histologischen Elemente des Central-    
    nervensystems im gesunden und kranken Zustande bringt und mit    
    durchaus originalen, überaus zutreffenden Abbildungen geziert ist.    
    Man findet in diesen wie in anderen Theilen des Werkes, dass der    
    Autor eine Erwähnung des eigenen Namens sorgfältig vermeidet,    
    was vielleicht nicht unbedingt zu loben ist. Der vierte Abschnitt    
    über den feineren Bau des Rickenmarkes bringt als Einleitung    
    eine Reihe von interessanten Ansätzen zu einer allgemeinen Ana-    
    tomie des Centralnervensystems. Es werden darin Definitionen jener|    
    Termini gegeben, welche die Beschreibung des (Gehirnes fortwährend    
    anwendet, wie: Kern, Wurzel, Kommissur, Bahn u. dgl. Man ver    
    misst darunter die Frwähnung des ,Fasersystems", jenes schemati-    
    schen Begrifes, welcher der fruchtbarste für eine künftige ,all-    
    gemeine Gehirnanatomie" sein müsste. Ein tieferes Eingehen auf die    
    wissenschaftlichen Vorstellungen, denen das Material der Gehirn-    
    anatomie sich dereinst wird unterordnen müssen, liegt aber offenbar    
    nicht im Plane des Obersteiner'schen Buches, das sich selbst|    
    als eine Anleitung zum Studium des nervösen Centralorganes"    
    einführt. Dementsprechend sind auch die Versuche einer Gesammt-    
    darstellung des Gehirnbaues, das System von Meynert, die Sche-    
    mata von Luys, A eby und Flechs ig in wenigen Zeilen abge-    
    handelt. Der fiünfte Abschnitt, die ,topographische Durchsicht des    
    Gehirnes", erledigt den schwierigsten Theil der Aufgabe eines der    
    artigen Lehrbuches, als welchen man die Orientirung des Schiülers    
    in einer Querschnittsreihe durch den Hirnstamm bezeichnen darf.    
    Die der Beschreibung beigegebenen Figuren 110-131 sind nach    
    Karminpräparaten gefertigt, sie zeigen demnach in erster Linie die    
    Vertheilung grauer und weisser Substanzen und sind erst in zweiter    
    Linie Darstellungen des auf Querschnitten ersichtlichen Faser-    
    verlaufes. Insoferne sind diese Abbildungen minder instruktiv als    
    sie sein könnten und als z. B. die Abbildungen im ersten Bande der    
    Psychiatrie von Meynert sind. Der Autor war sich dieses Um-    
    standes, wie aus der Vorrede hervorgeht, wohlbewusst.    Er hat    
    sich schliesslich durch den Wunsch leiten lassen, in den Abbildun-    
    gen getreue Wiedergabe der Präparate zu bringen, welche sich der    
    Schüler am leichtesten selbst verschaffen können wird. Weigert'sche    
    Präparate vom erwachsenen Menschen, welche die Faserung in so    
    vorzüglicher Weise zeigen, lassen sich aber bei schwacher Ver-    
    grösserung nicht genügend instruktiv abbilden (?) und zweierlei|    
    Reihen von Abbildungen zu geben, hätte den Preis des Buches bis    
    zu ener für ein Lehrbuch unzweckmässigen Höhe verthenert. (Den    
    Abbildungen in Meyn erts Psychiatrie liegen Goldpräparate zu    
    Grunde, welche sich vortrefflich zur Darstellung der Faserung bei    

    schwachen Vergrösserungen eignen.) Der sechste Abschnitt enthält    
    unter der Ueberschrift,Faserziüge und Bahnen" eine zusammen-    
    hängende Darstellung des bisher bekannt gewordenen Faserverlaufes    
    und stützt sich dem entsprechend vorwiegend auf die Ergebnisse der    
    sekundären Degeneration und der ungleichseitigen Markscheiden-    
    bildung. Es ist eine iüberaus sehwierige Aufgabe, derzeit eine solehe    
    Darstellung zu liefern. Das dafiür vorliegende Material ist spärlich,    
    lässt selbst in den Kapiteln, welche am besten ausgefüllt echeinen,    
    breite Ltücken, und ein guter Theil der angeblichen Thatsachen    
    ruht noch auf Behauptungen einzelner Untersueher. Der Autor,    
    welcher den Inhalt der anderen Abschnitte des Buches aus aut    
    optischer Erfahrung vertreten konnte, muss in dem Kapitel über    
    ,Faserzüge und Bahnen" nothwendigerweise als Kompilator auf    
    treten.    Doch zeigt gerade dieser Theil des Buches, in welch' um    
    eingeschränkter Weise der Autor den Stof und die Literatur des    
    selben beherrscht. Das Kapitel über Faserzüge und Bahnen enthält    
    eine Reihe von schematischen Zeichnungen, darunter einige nene,    
    . B. das Schema des centralen Riechapparates und einige Ab    
    bildungen der Gehirnrinde, z. B. Fig. 163 (Weigertpräparat der    
    Rinde des Stirnlappens), welche sehr schön und instruktiv aus-    
    gefallen sind.    Das der Abschnitt über das Kleinhirn besonders    
    reichhaltig geworden ist, versteht sich durch die langjührige Be-    
    sehäftigung Oberstein er's mit diesem seit Stilling ziemlich    
    vernachlässigten Hirntheile. Ein Abschnitt über die Hüllen und Ge-    
    fässe des Centralorgans macht den Schluss des neuen, im Ganzen    
    wie im Einzelnen treflichen Lehrbuches, welches von der Verlags    
    buchhandlung eine würdige Ausstattung erhalten hat.