S.
11.
Tatbestandsdiagnostik und Psychoanalyse ').Meine Herren! Die wachsende Einsicht in die Umverlässig-
keit der Zeugenaussage, welehe doch gegenwärtig die Grundlage
so vieler Verurteilungen in Straffällen bildet, hat bei Ihnen allen,
künftigen Richtern und Verteidigern, das Interesse für ein neues
Untersuchungsverfahren gesteigert, welches den Angeklagten selbst
nötigen soll, seine Schuld oder Unschuld durch objektive Zeichen
zu erweisen. Dieses Verfahren besteht in einem psychologischen
Experimente und ist auf psychologische Arbeiten begründet; es
hängt innig mit gewissen Anschauungen zusammen, die in der
medizinischen Psychologie erst kürzlich zur Geltung gekommen
sind. Ich weiß, daß Sie damit beschäftigt sind, die Handhabung
und Tragweite dieser neuen Methode zunächst in Versuchen, die
man „Phantomiibungen“ nennen könnte, zu prüfen, und bin
bereitwillig der Auflorderung Ihres Vorsitzenden, Prof. Löffler,
gefolgt, Ihnen die Beziehungen dieses Verfahrens zur Psychologie _
ausführlicher auseinander zu setzen.Ihnen allen ist das Gesellschafts- und Kinderspiel bekannt,
in dem der eine dem andern ein beliebiges Wort zuruft, zu
welchem dieser ein zweites Wort fügen soll, das mit dem ersten
ein zusammengesetztes Wort ergibt. Z. B. Dampf—Schiff; also
Dampfschiff. Nichts anderes als eine Modifikation dieses Kinder-
spieles ist der von der Wundtechen Schule in die Psychologie
eingeführte Assoziationsversuch, der bloß auf eine Bedingtheit
jenes Spieles verzichtet hat. Er besteht also darin, daß man‘
einer Person ein Wort zuruft — das Reizwort —, worauf sieI) Vortrag, gehalten in Prof. Löfflers Seminar im Juni 1906. -—
Archiv {. Kriminalanthropologie u. Kriminalistik von M. Gross. Bd. 26, 1906. »;S.
112
möglichst rasch mit einem zweiten Worte antwortet, das ihr
dazu einfällt, der sogenannten „Reaktion“, ohne daß sie in
der Wahl dieser Reaktion durch irgend etwas beengt werden
wäre. Die Zeit, die zur Reaktion verbraucht wird, und des Ver-
hältnis von Reizwort und Reaktion, des sehr mannigfaltig sein
kann, sind die Gegenstände der Beobachtung. Man kann nun
nicht behaupten, daß bei diesen Versuchen zunächst viel heraus-
gekommen ist. Begreiflich, denn sie waren ohne sichere Frage-
stellung gemacht, und es fehlte an einer Idee, die auf die Er-
gebnisse anzuwenden wäre. Sinnvoll und fruchtbar wurden sie
erst, als Bleuler in Zürich und seine Schüler, insbesondere
Jung, sich mit solchen „Assoziatiomexperimenten“ zu beschäf-
tigen begannen. Wert erhielten ihre Versuche aber durch die
Voraussetzung, daß die Reaktion auf das Reizwort nichts Zu-
fälliges sein könne, sondern durch einen beim Reagierenden
vorhandenen Vorstellungsinhslt determiniert sein müsse.Man hat sich gewöhnt, einen solchen Vorstellungsinhalt,
der imstande ist die Reaktion auf das Reizwort zu beeinflussen,
einen „Komplex“ zu heißen. Die Beeinflussung geht entweder
so vor sich, indem das Reizwort den Komplex direkt streift,
oder indem es letzterem gelingt, sich durch Mittelglieder rnit
dem Reizworte in Verbindung zu setzen. Diese Determinierung
der Reaktion ist eine sehr merkwürdige Tatsache; Sie können
die Verwunderung darüber in der Literatur des Gegenstandes
unverhohlen ausgedrückt finden. Aber an ihrer Richtigkeit ist
nicht zu zweifeln, denn Sie können in der Regel den beein-
flussenden Komplex nachweisen und die sonst unverständlichen
Reaktionen aus ihm verstehen, wenn Sie die reagierende Person
selbst nach den Gründen ihrer Reaktion befragen. Beispiele wie
die auf Seite 6 und 8—9 der J ungschen Abhendlung‘) sind
sehr geeignet, uns am anslle und an der angeblichen Willkür
im seelischen Geschehen zweifeln zu machen.Nun werfen Sie mit mir einen Blick auf die Vorgeschichte
des Bleuler-Jungschen Gedankens von der Determim'erung
der Reaktion durch den Komplex bei der examinierten Person.‘) Jun g‚Die psychologische Diagnose des Tntbestsndes, 1908. (Juristisch-
pqohistrische Grenzfrsgen IV, 2.)S.
113
Im Jahre 1901 habe ich in einer Abhandlung‘) dargetan‚ daß
eine ganze Reihe von Aktionen, die man fiir unmotiviert hielt,
vielmehr strenge determiniert sind, und. um soviel die psychische
Willkür einschränken geholfen. Ich habe die kleinen Fehl-
leistungen des Vergessens, Versprechens, Verschreibens, Verlegens
zum Gegenstande genommen und gezeigt, daß wenn ein Mensch
sich verspricht, nicht der Zufall, auch nicht allein Artikulations-
schwierigkeiten und Lautä.hnlichkeiten dafiir verantwortlich zu
machen sind, sondern daß jedesmal ein störender Vorstellungs—
inhalt — Komplex —— nachweisbar ist, welcher die intendierte
Rede in seinem Sinne, anscheinend zum Fehler, abändert. Ich
habe ferner die kleinen, anscheinend absichtslosen und zufälligen
Handlungen der Menschen, ihr Tändeln, Spielen usw. in Betracht
gezogen und sie als „Symptomhandlungen“ entlarvt, die mit
einem verborgenen Sinn in Beziehung stehen und diesem einen
nnauffii.lligen Ausdruck verschaffen sollen. Es hat sich mir ferner
ergeben, daß man sich nicht einmal einen Vornamen willkürlich
einfallen lassen kann, der sich nicht als durch einen mächtigen
Vorstellungskomplex bestimmt erwiese; ja daß Zahlen, die man
anscheinend willkürlich wählt, sich auf einen solchen verborgenen
Komplex zurückfiihren lassen. Mein Kollege Dr. Alfred
Adler hat einige Jahre später diese befremdendste meiner
Aufstellungen durch einige schöne Beispiele belegen können”).
Hat man sich nun an solche Auffassung der Bedingtheit im
psychischen Lehen gewöhnt, so ergibt sich als eine berechtigte
Ableitung aus den Resultaten der Psychopathologie des Alltags-
lebens, daß auch die Einfa'‚lle der Person beim Assoziatione-
experimente nicht willkürlich, sondern durch einen in ihr wirk-
samen Vorstellungsinhalt bedingt sein mögen.Nun, meine Herren, kehren wir zum Assoziationsexperi-
mente zurück! In den bisher betrachteten Fällen war es die
examinierte Person, die uns über die Herkunft der Reaktionen
aufklärte, und diese Bedingung macht den Versuch eigentlich1) Zur Psychopnthologie des Alltagslebens. Monatachrift f. Psychiatrie
und Neurologie, Bd. X. (1904 als Buch erschienen bei S.Karger, Berlin,
2. Aufl., 1907.)’) Adler, Drei Psychomalysen von Zahleneinfillen und obsedierendeu
Zahlen. Psychiatrisch-neurologische Wochenschrift von Bre : 1 er, 1905, Nr. 28.Freud, Neuronenlehre. 11 8
S.
114
für die Rechtspflege uninteressant. Wie aber, wenn wir die Ver-
suehsanordnungen abändern, etwa wie man eine Gleichung mit
mehreren Größen nach der einen oder der andern auflösen,
das a oder das I; in ihr zum gesuchten a; machen kann? Bisher
war uns Prüfern der Komplex unbekannt, wir prüften mit be-
liebig gewählten Beizworten, und die Versuchsperson denunzierte
uns den Komplex, der durch die Reizwoxte zur Außerung
gebracht worden war, Machen wir es nun anders, nehmen wir
einen uns bekannten Komplex her, reagieren auf ihn mit ab-
sichtlich gewählten Reizworten, wälzen das a: auf die Seite der
reagierenden Person, ist es dann möglich, aus dem Ausfalle
der Reaktionen zu entscheiden, ob die examinierte Person den
gewählten Komplex gleichfalls in sich trägt? Sie sehen ein,
diese Versuchsanordnung entspricht genau dem Falle des Unter-
suchungsrichters, der erfahren möchte, ob ein gewisser ihm be-
kannter Tatbestand auch dem Angeklagten als Täter bekannt
ist. Es scheint, daß Wertheimer und Klein, zwei Schüler
des Strafrechtslehrers Hans Groß in Prag, zuerst diese für
Sie bedeutsame Abänderung der Versuchsordnung vorgenommen
baben‘).Sie wissen bereits aus Ihren eigenen Versuchen, daß sich
bei solcher Fragestellung an den Reaktionen viererlei Anhalts-
punkte zur Ent.soheidung der Frage ergeben, ob die examinierte
Person den Komplex besitzt, auf den Sie mit den Reizworten
reagieren. Ich will Ihnen dieselben der Reihe nach aufzählen:
1. Der ungewöhnliche Inhalt der Reaktion, der ja. Aufklärung
fordert. 2. Die Verlängerung der Reaktionszeit, indem es sich
herausstellt, daß Reizworte, welche den Komplex getroffen haben,
erst nach deutlicher Verspätung (oft das Mehrfaohe der sonstigen
Reaktionszeit) mit der Reaktion beantwortet werden. 3. Der
Irrtum bei der Reproduktion. Sie wissen, welche merkwürdige
Tatsache damit gemeint ist. Wenn man eine kurze Zeit nach
dem Abschlusse des Versuches mit einer längeren Reihe von
Reizwörtern dieselben dem Examinierten nochmals verlegt, so
wiederholt er die nämlichen Reaktionen wie beim ersten Male.
Nur bei denjenigen Reizworten, welche den Komplex direkt1) Nach Jung, l. c.
S.
115
getrofl'en haben, ersetzt er die frühere Reaktion leicht durch
eine andere. 4. Die Tatsache der Perseverntion (vielleicht sagten
wir besser: Nachwirkung). Es kommt nämlich häufig vor, daß
die Wirkung der Erweckung des Komplexes durch ein ihn be-
treffendes („kritisches“) Reizwort, also z. B. die Verlängerung
der Reaktionszeit, anhält und noch die Reaktionen auf die
nächsten nicht kritischen Worte verändert. Wu nun alle oder
mehrere dieser Anzeichen zusammentreflen, da hat sich der
uns bekannte Komplex als beim Angenifeneu störend vorhanden
erwiesen. Sie verstehen diese Störung in der Weise, daß der:
beim Angemfenen vorhandene Komplex mit Afl'ekt besetzt und
befähigt ist, der Aufgabe des Beagierens Aufmerksamkeit zu
entziehen, finden also in dieser Störung einen „psychischen
Selbstverrat“.Ich weiß, daß Sie gegenwärtig mit den Chancen und
Schwierigkeiten dieses Verfahrens, welches den Beschuldigten
zum objektiven Selbstverrat bringen soll, beschäftigt sind, und
lenke Ihre Aufinerksamkeit darum auf die Mitteilung, daß ein
ganz analoges Aufdeckungsverfshren für verborgenes oder ver-
heimlicth Seelisches seit länger als einem Dezennium auf einem
anderen Gebiete in Übung ist. Es soll meine Aufgabe sein, Ihnen
die Ähnlichkeit und die Verschiedenheit der Verhältnisse hier
und dort vorzuführenDies Gebiet ist ein von dem Ihrigen wohl recht ver—
schiedenes. Ich meine nämlich die Therapie gewisser „Nerven—
krankheiten“ der sogenannten Psychoneurosen, fiir welche Sie
Hysterie und Zwangsvorstellen als Muster nehmen können. Das
Verfahren heißt dort Psychoanalyse und ist von mir aus deni
zuerst von J. Breuer‘) inWien geübten „kathnrtischen“ Heil-
verfahren entwickelt worden. Um Ihrer Verwunderung zu be-
gegnen, muß ich eine Analogie zwischen dem Verbrecher und
dem Hysteriker durchführen. Bei beiden handelt es sich um ein
Geheimnis, um etwas Verburgenes. Aber, um nicht paradox zii
werden, muß ich auch gleich den Unterschied hervorheben. Beiui
Verbrecher handelt es sich um ein Geheimnis, das er weiß und
vor Ihnen verbirgt, beim Hysteriker um ein Geheimnis, das*) J. Breuer und S. Freud, Studien iiber Hysterie, 1895, 2. Aufl., 1909.
goS.
116
auoh er selbst nicht weiß, das sich vor ihm selbst verbirgt. Wie
ist das möglich? Nun, wir wissen durch mühevolle Erforschungen,
daß alle diese Erkrankungen darauf beruhen, daß solche Per-
sonen es zustande gebracht haben, gewisse stark affektbesetzte
Vorstellungen und Erinnerungen und die auf sie gebauten
Wünsche so zu verdrängen, daß sie in ihrem Denken keine
Rolle spielen, in ihrem Bewußtsein nicht auftreten und somit
ihnen selbst geheim bleiben. Aus diesem verdrängten psychischen
Material, aus diesen „Komplexen“ rühren aber die sometischen
und psychischen Symptome her, welche ganz nach Art eines
bösen Gewissens die Kranken quälen. Der Unterschied zwischen
dem Verbrecher und dem Hysteriker ist also in diesem einen
Punkte fundamental.Die Aufgabe des Therapeuten ist aber die nämliche wie die
des Untersuchungsriehters; wir sollen das verborgene Psychische
aufdecken und haben zu diesem Zwecke eine Reihe von Detektiv-
kiinsten erfunden, von denen uns also jetzt die Herren Juristen
einige nachahmen werden.. Es wird Sie „fiir Ihre Arbeit interessieren zu hören, in
welcher Weise wir Arzte bei der Psychoanalyse vorgehen. N ach—
dem der Kranke ein erstes Mal seine Geschichte erzählt hat,
fordern wir ihn auf, sich ganz seinen Einfä.llen zu überlassen
und ohne jeden kritischen Rückhalt vorzubringen, was ihm in
den Sinn kommt. Wir gehen also von der Voraussetzung aus,
die er gar nicht teilt, daß diese Einfaille nicht vn'llkiirliche,
sondern durch die Beziehung zu seinem Geheimnisse, seinem
„Komplex“ bestimmt sein werden, sozusagen als Abkömmlinge
dieses Komplexes aufgefaßt werden können. Sie sehen, es ist
die nämliche Voraussetzung, mit deren Hilfe Sie die Asso-
ziationsexperimente deutbar gefimden haben. Der Kranke aber,
dem man die Befolgung der Regel aufträgt, alle seine Einfälle
mitzuteilen, scheint nicht imstande zu sein, dies zu tun. Er hält
doch bald diesen, bald jenen Einfall zurück und bedient sich
dabei verschiedener Motivierungen, entweder: das sei ganz nn-
wichtig, oder: es gehöre nicht dazu, oder: es sei überhaupt
ganz sinnlos. Wir verlangen dann, daß er den Einfall trotz
dieser Einwendungen mitteile und verfolge; denn gerade die
sich geltend machende Kritik ist uns ein Beweis für die Zu-S.
117
gehörigkeit des Einfalles zum „Komplex“, den wir aufzudecken
suchen. In solchem Verhalten der Kranken erblicken wir eine
Außerung des in ihm vorhandenen „Widerstandes“, der uns
während der ganzen Dauer der Behandlung nicht verläßt. Ich
will nur kurz andeuten, daß der Begriff des Widerstandes für
unser Verständnis der Krankheitsgenese wie des Heilungs-
mechanismus die größte Bedeutung gewonnen hat.Eine derartige Kritik der Einfälle beobachten Sie nun bei
Ihren Versuchen nicht direkt; dafür sind wir bei der Psycho-
analyse in der Lage, alle Ihnen auffälligen Zeichen eines
Komplexes zu beobachten. Wenn der Kranke es nicht mehr
wagt, die. ihm gegebene Regel zu verletzen, so merken wir doch,
daß er zeitweilig in der Reproduktion der Einfälle stockt„
z__ögert‚ Pausen macht. Jede solche Zögeru.ng ist uns eine
Außenmg des Widerstandes und dient uns als Anzeichen der
Zugehörigkeit zum „Komplex“. Ja, sie ist uns das wichtigste
Zeichen solcher Bedeutung, ganz wie Ihnen die analoge Ver-
längerung der Reaktionszeit. Wir sind gewöhnt, die Zögerung
in diesem Sinne zu deuten, auch wenn der Inhalt des zurück-
gehaltenen Einfalles gar keinen Anstoß zu bieten scheint, wenn
der Kranke versichert, er könne sich gar nicht denken, warum
er zögern sollte, ihn mitzuteilen. Die Pausen. die in der
Psychoanalyse vorkommen, sind in der Regel vielmals größer
als die Verspätungen, die Sie bei den Beaktionsversuchen
notieren.Auch das andere Ihrer Komplexanzeichen‚ die inhaltliche
Veränderung der Reaktion, spielt seine Rolle in der Technik
der Psychoanalyse. Wir pflegen selbst leise Abweichungen von
der gebräuchlichen Ausdrucksweise bei unseren Kranken ganz
allgemein als Anzeichen für einen verborgenen Sinn anzusehen
und setzen uns selbst mit solchen Deutungen gerne für eine
Weile seinem Spotte aus. Wir lauern bei ihm geradezu auf
Reden, die ins Zweideutige sohillern, und bei denen der ver-
borgene Sinn durch den harmlosen Ausdruck hindurchschimmert.
Nicht nur der Kranke, auch Kollegen, die der psychoanalytischen
Technik und ihrer besonderen Verhältnisse unkundig sind, ver-
sagen uns da ihren Glauben und werfen uns Witzelei und
Wortklauberei vor, aber wir behalten fast immer Recht. Es istS.
118
schließlich nicht schwer zu verstehen, daß ein sorgfältig ge-
hütetes Geheimnis sich nur durch feine, höchstens durch zwei-
deutige Andeutungen verrät. Der Kranke gewöhnt sich schließ-
lich daran, uns in sogenannter „indirekter Darstellung“ all das
zu geben, was wir zur Aufdeckung des Komplexes benötigen.Auf einem beschränkteren Gebiet verwerten wir in der
Technik der Psychoanalyse das dritte Ihrer Komplexanzeichen‚
den Irrtum, d. h. die Abänderung bei der Reproduktion. Eine
Aufgabe, die uns häufig gestellt wird, ist die Deutung von
Träumen, das ist die Übersetzung des erinnerten Trauminhaltes
in dessen verborgenen Sinn. Es kommt dabei vor, daß wir
unschlüssig sind, an welcher Stelle wir die Aufgabe anfassen
sollen, und in diesem Falle können wir uns einer empirisch
gefundenen Regel bedienen, welche uns rät, die Traumerzählung
wiederholen zu lassen. Der Träumer verändert dabei gewöhn-
lich seine Ausdrucksweise an manchen Stellen, während er sich
an anderen getreulich wiederholt. Wir aber klammern uns an
die Stellen, in denen die Reproduktion durch Abänderung, oft
auch durch Auslassung, fehlerhaft ist, weil uns diese Untreue
die Zugehörigkeit zum Komplex verbürgt und den besten Zu-
gang zum geheimen Sinn des Traumes verlpricht‘).Sie werden nun nicht den Eindruck empfangen, als hätte
die von mir verfolgte Übereinstimmung ein Ende gefunden,
wenn ich Ihnen gestehe, daß ein der „Perseveration“ ähnliches
Phänomen in der Psychoanalyse nicht zum Vorschein kommt.
Dieser scheinbare Unterschied rührt nur von den besonderen
Bedingungen Ihrer Experimente her. Sie lassen ja. der Komplex-
wi.rkung eigentlich keine Zeit sich zu entwickeln; kaum daß
sie begonnen hat, rufen Sie die Aufmerksamkeit des Examinietten
durch ein neues, wahrscheinlich harmloses Reizwort wieder ab und
dann können Sie beobachten, daß die Versuchsperson manchmal
trotz Ihrer Störungen bei der Beschäftigung mit dem Komplex ver-
harrt. Wir aber vermeiden solche Störungen in der Psychoanalyse,
wir erhalten den Kranken bei seiner Beschäftigung mit dem Kom-
plex, und weil bei uns sozusagen alles Perseveration ist, können
wir dies Phänomen nicht als vereinzeltes Vorkommnis beobachten.') Vgl. meine „Treumdeutung“ 1900, 2. Aufl., 1909.
S.
119
Wir dürfen die Behauptung aufstellen, daß es uns durch
Techniken wie die mitgeteian prinzipiell gelingt, dem Kranken
des Verdrängte, sein Geheimnis, bewußt zu machen und da-
durch die psychologische Bedingtheit seiner Leidenssymptome
aufzuheben. Ehe Sie nun aus diesem Erfolge Schlüsse auf die
Chancen Ihrer Arbeiten ziehen, wollen wir die Unterschiede in
der psychologischen Situation hier und dort beleuchten.Den Hauptunterschied haben wir schon genannt: Beim
Neurotiker Geheimnis vor seinem eigenen Bewußtsein, beim
Verbrecher nur vor Ihnen; beim ersteren ein echtes Nicht-
wissen, obwohl nicht in jedem Sinne, beim letzteren nur Simu-
lation des Nichtwissens. Damit ist ein anderer, praktisch wich-
tiger Unterschied verknüpft. In der Psychoanalyse hilft der
Kranke mit seiner bewußten Bemühung gegen seinen Wider-
stand, den er hat ja einen Nutzen von dem Examen zu er-
warten, die Heilung; der Verbrecher hingegen arbeitet nicht mit
Ihnen, er würde gegen sein ganzes Ich arbeiten. Wie zur Aus-
gleiehu.ug kommt es bei Ihrer Untersuehung nur darauf an,
daß Sie eine objektive Überzeugung gewinnen, während bei der
Therapie gefordert wird, daß der Kranke selbst sich die gleiche
Überzeugung schafi'e. Es bleibt aber abzuwarten, welche Er.
schwerungen oder Abänderungen an Ihrem Verfahren Ihnen der
Wegfall der Mitarbeiterschaft des Untersuehteu bereiten wird,
Es ist dies auch ein Fall, den Sie sich in Ihren Seminarver-
suchen nieinals herstellen können, denn Ihr Kollege, der sich
in die Rolle des Beschuldigten fügt, bleibt doch Ihr Mitarbeiter
und hilft Ihnen trotz seines bewußten Vorsatzes, sich nicht zu
verraten.Wenn Sie auf die Vergleichung der beiden Situationen
näher eingehen, so ergibt sich Ihnen überhaupt, daß in der
Psychoanalyse ein einfacherer, ein Spezialfell der Aufgabe,
Verborgenes im Seelenleben aufzudecken, vorliegt, in Ihrer Arbeit
dagegen ein umfassenderer. Daß es sich bei den Psychoneu-
rotikern ganz regelmäßig um einen verdrängten sexuellen Komplex
(im weitesten Sinne genommen) handelt, das kommt als Unter-
schied für Sie nicht in Betracht. Wohl aber etwas anderes.
Die Aufgabe der Psychoanalyse lautet ganz uniform fiir alle
Fälle, es seien Komplexe aufzudecken, die infolge von Unluet-S.
120
gefühlen verdrängt sind und beim Versuch der Einführung ins
Bewußtsein Anzeichen des Widerstandes von sich geben. Dieser
Widerstand ist gleichsam lokalisiert, er entsteht an dem Grenz-
übergang zwischen Unhewußtem und Bewußtem. In Ihren
Fällen handelt es sich um einen Widerstand, der ganz aus dem
Bewußten her-rührt, Sie werden diese Ungleichheit nicht ohne
weiteres vernachlässigen können und erst durch Versuche fest-
zustellen haben, ob sich der bewußte Widerstand durch ganz
dieselben Anzeichen verrät wie der unbewußte. Ferner meine
ich, daß Sie noch nicht sicher sein können, ob Sie Ihre oh-
jektiven Komplexsnzeichen so wie wir Psychotherapeuten als
„Widerstand“ deuten dürfen. Wenn auch nicht sehr häufig
bei Verbrechern, so doch bei Ihren Versuchspersonen mag sich
der Fall ereignen, daß der Komplex, an den Sie streifen, ein
mit Lust betonter ist, und es fragt sich, ob dieser dieselben
Reaktionen gehen wird wie ein mit Unlust betontenIch möchte auch hervorheben, daß Ihr Versuch möglicher-
weise einer Einmengung unterliegen kann, die in der Psyche-
analyse wie selbstverständlich entfällt. Sie können nämlich bei
]]nrer Untersuchung vom Neurotiker irre geführt werden, der so
reagiert, als ob er schuldig wäre, obwohl er unschuldig ist,
weil ein in ihm bereitliegendes und lauerndes Schuldbewußtsein
sich der Beschuldigung des besonderen Falles bemächtigt. Halten
Sie diesen Fall nicht für eine müßige Erfindung; denken Sie an
die Kinderstube, in der man ihn häufig genug beobachten kann.
Es kommt vor, daß ein Kind, dem man eine Untat vorwirft,
die Schuld mit Entschiedenheit leugnet, dabei aber weint wie
ein überführter Sünden Sie werden vielleicht meinen, daß das
Kind lügt, während es seine Unschuld versichert, aber der Fall
kann anders liegen. Das Kind hat die eine Untat, die Sie ihm
zur Last legen, wirklich nicht veriibt‚ aber dafür eine andere,
ähnliche, von der Sie nichts wissen, und deren Sie ihn nicht
heschuldigen. Es leugnet also mit Recht seine Schuld — su
dem einen —‚ und dabei verrät sich doch sein Schuldbewußtsein
—— wegen des andern. Der erwachsene Neurotiker verhält sich
in diesem —, wie in vielen anderen Punkten —— ganz so wie
ein Kind; es gibt viele solcher Menschen, und es ist noch frag-
lich, ob es Ihrer Technik gelingen wird, solche SelbstbeschuldigerS.
121
von den wirklich Schuldigen zu unterscheiden. Endlich noch
eines: Sie wissen, daß Sie nach ihrer Strafprozeßordnung den
Angeklagten durch kein Verfahren überrumpeln dürfen. Er wird
also wissen, daß es sich beim Experiment darum handelt, sich
nicht zu verraten, und es entsteht die weitere Frage, ob man
auf dieselben Reaktionen zu rechnen hat, wenn die Aufmerk-
samkeit dem Komplex zugewendet ist wie bei abgewendeter,
und wie weit der Vorsatz zu verbergen bei verschiedenen Per-
sonen in die Reaktionsweise hineinreichen kann.Gerade weil die Ihren Untersuchungen unterliegenden Situa-
tionen so manni5faltig sind, ist die Psychologie an dem Aus-
fall derselben lebheft interessiert, und man möchte Sie bitten,
an der praktischen Verwertbarkeit derselben ja. nicht zu rasch
zu verzweifeln. Gestatten Sie mir, der ich der praktischen
Rechtspflege so ferne stehe, noch einen andern Vorschlag! So
unentbehrlich Experimente im Seminar zur Vorbereitung und
Fragestellung sein mögen, so werden Sie doch die gleiche psy—
chologische Situation wie bei der Untersuchung Beschuldigter
im Straflelle hier nie herstellen können. Es bleiben Phantom-
iibungen, auf welche sich die praktische Verwendung im Straf-
prozeß niemals begründen läßt. Wenn wir auf letztere nicht
verzichten wollen, so bietet sich folgender Ausweg. Es möge
Ihnen verstattet, ja. zur Pflicht gemacht werden, solche Unter-
suchungen durch eine Reihe von Jahren an allen realen
Fällen von Strnfbeschuldigung vorzunehmen, ohne daß den
Ergebnissen derselben ein Einfluß auf die Ent-
scheidung der richtenden Instanz zugestenden würde;
Am besten, wenn die letztere überhaupt nicht zur Kenntnis
Ihrer aus der Untersuchung gezogenen Sehlu.ßfolgerung über die
Schuld des Angeklagten kommt. Nach jahrelanger Sammlung
und vergleichender Bearbeitung der so gewonnenen Erfahrungen
müßten wohl alle Zweifel an der Brauehbarkeit dieses psycho-'
logischen Unßmuchungsverfelxrens gelöst sein. Ich weiß freilich,‘
daß die Verwirklichung dieses Vorschlages nicht allein von
Ihnen und Ihren geschätzten Lehrern abhängt.
sksn2
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