Traum und Telepathie 1922-001/1931
  • S.

    326 Traum und

    mich gesehen?“ mit dem Nachtmahl ins Zimmer trat. Aber
    es scheint, daß sie überhaupt die Stelle der feindlichen Kon-
    kurrentin zu übernehmen bestimmt ist. Sie wird als Pflege-
    person herabgesetzt, indem sie sich fiir das verlorene Kind gar
    nicht interessiert, sondern von ihren eigenen Angelegenheiten
    Antwort gibt. Auf sie wird also die Gleichgiiltigkeit gegen
    das Pflegekind verschoben, zu der sich die Triumerin ge-
    wendet hat. Thr wird die ungliickliche Ehe und Scheidung an-
    gedichtet, welche die Tråumerin in ihren geheimsten Wünschen
    selbst fürchten müßte. Wir wissen aber, daß es die Tante ist,
    welche die Träumerin von ihrem Verlobten geschieden hat.
    So mag die „Verkäuferin von Ef waren (was einer infantilen
    symbolischen Bedeutung nicht zu entbehren braucht) zur Re-
    prisentantin der, übrigens nicht viel älteren, Tante-Oberin
    werden, welche bei unserer Triumerin die hergebrachte Rolle
    der Mutter-Konkurrentin eingenommen hat. Eine gute Be-
    ståtigung dieser Deutung liegt in dem Umstand, daß der im
    Traume „bekannte“ Ort, an dem sie die in Rede stehende
    Person vor ihrer Tür findet, der Ort ist, wo eben diese Tante
    als Oberin lebt.

    Infolge der Distanz, welche den Analysierenden vom Ob-
    jekt der Analyse trennt, muß es ratsam werden, nicht weiter
    in das Gewebe dieses Traumes einzudringen. Man darf viel-
    leicht sagen, auch soweit er der Deutung zuginglich wurde,
    zeigte er sich reich an Beståtigungen wie an neuen Problemen.

    TRAUM UND TELEPATHIE
    (1922)

    Eine Ankündigung wie die meinige muß in diesen Zeiten,
    die so voll sind von Interesse fiir die sogenannt okkulten
    Phänomene, ganz bestimmte Erwartungen erwecken. Ich be-

  • S.

    Telepathie 327

    eile mich also, diesen zu widersprechen, Sie werden aus meinem
    Vortrag nichts über das Rätsel der Telepathie erfahren, nicht
    einmal Aufschluß darüber erhalten, ob ich an die Existenz
    einer ,,Telepathie" glaube oder nicht. Ich habe mir hier die
    sehr bescheidene Aufgabe gestellt, das Verhältnis der telepathi-
    schen Vorkommnisse, welcher Herkunft immer sie sein mögen,
    zum Traum, genauer: zu unserer Theorie des Traumes, zu
    untersuchen. Es ist Ihnen bekannt, daß man die Beziehung
    zwischen Traum und Telepathie gemeinhin für eine sehr
    innige hält; ich werde vor Ihnen die Ansicht vertreten, daß
    die beiden wenig miteinander zu tun haben, und daß, wenn
    die Existenz telepathischer Träume sichergestellt würde, dies
    an unserer Auffassung des Traumes nichts zu ändern brauchte.

    Das Material, das dieser Mitteilung zugrunde liegt, ist
    sehr klein. Ich muß vor allem meinem Bedauern Ausdruck
    geben, daß ich nicht wie damals, als ich die „Traumdeutung“
    (1900) schrieb, an eigenen Träumen arbeiten konnte. Aber
    ich habe nie einen ,telepathischen Traum gehabt. Nicht
    etwa, daß es mir an Träumen gefehlt hätte, welche die Mit-
    teilung enthielten, an einem gewissen entfernten Ort spiele
    sich ein bestimmtes Ereignis ab, wobei es der Auffassung des
    Triumers überlassen ist, zu entscheiden, ob das Ereignis eben
    jetzt eintrete oder zu irgendeiner späteren Zeit; auch Ahnungen
    entfernter Vorgänge mitten im Wachleben habe ich oft ver-
    spürt, aber alle diese Anzeigen, Vorhersagen und Ahnungen
    sind, wie wir uns ausdrücken: nicht eingetroffen; es zeigte sich,
    daß ihnen keine äußere Realität entsprach, und sie mußten
    darum als rein subjektive Erwartungen aufgefaßt werden.

    Ich habe zum Beispiel einmal während des Krieges geträumt,
    daß einer meiner an der Front befindlichen Söhne gefallen
    sei. Der Traum sagte dies nicht direkt, aber doch unverkennbar,
    er drückte es mit den Mitteln der bekannten, zuerst von
    W. Stekel angegebenen Todessymbolik aus. (Versäumen

  • S.

    328 Traum und

    wir nicht, hier die oft unbequeme Pflicht literarischer Gewissen-
    haftigkeit zu erfüllen!) Ich sah den jungen Krieger an einem
    Landungssteg stehen, an der Grenze von Land und Wasser;
    er kam mir sehr bleich vor, ich sprach ihn an, er aber ant-
    wortete nicht. Dazu kamen andere nicht mifiverstindliche
    Anspielungen. Er trug nicht militärische Uniform, sondern ein
    Skifahrerkostiim, wie er es bei seinem schweren Skiunfall
    mehrere Jahre vor dem Kriege getragen hatte. Er stand auf
    einer schemelartigen Erhöhung vor einem Kasten, welche
    Situation mir die Deutung des 。Fallens“ mit Hinsicht auf eine
    eigene Kindheitserinnerung nahelegen mußte, denn ich selbst
    war als Kind von wenig mehr als zwei Jahren auf einen
    solchen Schemel gestiegen, um etwas von einem Kasten
    herunterzuholen, — wahrscheinlich etwas Gutes, — bin dabei
    umgefallen und habe mir eine Wunde geschlagen, deren Spur
    ich noch heute zeigen kann. Mein Sohn aber, den jener Traum
    totsagte, ist heil aus den Gefahren des Krieges zurückgekehrt.

    Vor kurzem erst habe ich einen anderen Unheil verkiin-
    denden Traum gehabt, ich glaube, es war unmittelbar ehe
    ich mich zur Abfassung dieser kleinen Mitteilung entschloß;
    diesmal war nicht viel Verhüllung aufgewendet worden; ich
    sah meine beiden in England lebenden Nichten, sie waren
    schwarz gekleidet und sagten mir: am Donnerstag haben wir
    sie begraben. Ich wußte, daß es sich um den Tod ihrer jetzt
    siebenundachtzigjihrigen Mutter, der Frau meines verstorbenen
    ältesten Bruders, handle.

    Es gab natürlich eine Zeit peinlicher Erwartung bei mir;
    das plötzliche Ableben einer so alten Frau wäre ja nichts
    Überraschendes und es wäre doch so unerwünscht, wenn mein
    Traum gerade mit diesem Ereignis zusammenträfe. Aber der
    nächste Brief aus England zerstreute diese Befürchtung. Für
    alle diejenigen, welche um die Wunschtheorie des Traumes
    besorgt sind, will ich die beruhigende Versicherung einschalten,

  • S.

    Telepathie 329

    daß es der Analyse nicht schwer geworden ist, auch fiir diese
    Todestriume die zu vermutenden unbewuBten Motive auf-
    zudecken.

    Unterbrechen Sie mich jetzt nicht mit dem Einwand, daß
    solche Mitteilungen wertlos sind, weil negative Erfahrungen
    hier so wenig wie auf anderen minder okkulten Gebieten
    irgend etwas beweisen können. Ich weiß das auch selbst und
    habe diese Beispiele auch gar nicht in der Absicht angeführt,
    um einen Beweis zu geben oder eine bestimmte Einstellung
    bei Ihnen zu erschleichen. Ich wollte nur die Einschränkung
    meines Materials rechtfertigen.

    Bedeutsamer erscheint mir allerdings eine andere Tatsache,
    daß ich nämlich während meiner ungefähr siebenundzwanzig-
    jährigen Tätigkeit als Analytiker niemals in die Lage ge-
    kommen bin, bei einem meiner Patienten einen richtigen tele-
    pathischen Traum mitzuerleben. Die Menschen, an denen ich
    arbeitete, waren doch eine gute Sammlung von schwer
    neuropathischen und 。jhodhsensitiven“ Naturen; viele unter
    ihnen haben mir die merkwürdigsten Vorkommnisse aus ihrem
    früheren Leben erzählt, auf die sie ihren Glauben an geheim-
    nisvolle okkulte Einflüsse stützten. Ereignisse, wie Unfälle,
    Erkrankungen naher Angehöriger, insbesondere Todesfälle
    eines Elternteiles, haben sich während der Kur oft genug zu-
    getragen und dieselbe unterbrochen, aber nicht ein einziges Mal
    verschafften mir diese ihrem Wesen nach so geeigneten Zufälle
    die Gelegenheit, eines telepathischen Traumes habhaft zu
    werden, obwohl die Kur sich über halbe, ganze Jahre und eine
    Mehrzahl von Jahren ausdehnte, Um die Erklärung dieser
    Tatsache, die wiederum eine Einschränkung meines Materials
    mit sich bringt, möge sich bemühen, wer immer will. Sie
    werden sehen, daß sie selbst für den Inhalt meiner Mitteilung
    nicht in Betracht kommt.

    Ebensowenig kann mich die Frage in Verlegenheit bringen,

  • S.

    330 Traum und

    warum ich nicht aus der reichen Fülle der in der Literatur
    niedergelegten telepathischen Träume geschopft habe. Ich hätte
    nicht lange zu suchen gehabt, da mir die Verôffentlichungen
    der englischen wie der amerikanischen Society for Psychical
    Research als deren Mitglied zu Gebote stehen. In all diesen
    Mitteilungen wird eine analytische Würdigung der Träume,
    wie sie uns in erster Linie interessieren muß, niemals versucht.!
    Andrerseits werden Sie bald einsehen, daß den Absichten
    dieser Mitteilung auch durch ein einziges Traumbeispiel Ge-
    nüge geleistet wird.

    Mein Material besteht also einzig und allein aus zwei
    Berichten, die ich von Korrespondenten aus Deutschland er-
    halten habe. Die Betreffenden sind mir persönlich nicht be-
    kannt, sie geben aber Namen und Wohnort an; ich habe nicht
    den mindesten Grund, an eine irreführende Absicht der
    Schreiber zu glauben.

    I) Mit dem einen der beiden stand ich schon früher in Brief-
    verkehr; er war so liebenswürdig, mir, wie es auch viele
    andere Leser tun, Beobachtungen aus dem Alltagsleben und
    ähnliches mitzuteilen. Diesmal stellt der offenbar gebildete und
    intelligente Mann mir sein Material ausdrücklich zur Ver-
    fügung, wenn ich es „literarisch verwerten“ wollte.

    Sein Brief lautet:

    „Nachstehenden Traum halte ich für interessant genug, um ihn
    Ihnen als Material für Ihre Studien zu liefern.

    Vorausschicken muß ich: Meine Tochter, die in Berlin ver-

    heiratet ist, erwartet Mitte Dezember d. J. ihre erste Niederkunft.
    Ich beabsichtige, mit meiner (zweiten) Frau, der Stiefmutter meiner

    ı) In zwei Schriften des obengenannten Autors W. Stekel
    („Der telepathische Traum“, Berlin, ohne Jahreszahl, und „Die
    Sprache des Traumes“, 2. Auflage, 1922) finden sich wenigstens
    Ansätze zur Anwendung der analytischen Technik auf angeblich
    telepathische Träume. Der Autor bekennt sich zum Glauben an
    die Realität der Telepathie.

  • S.

    Telepathie 331

    Tochter, um diese Zeit nach Berlin zu fahren, In der Nacht vom
    16. auf den 17. November träume ich, und zwar so lebhaft und
    anschaulich wie sonst nie, daß meine Frau Zwillinge geboren hat,
    Ich sebe die beiden prächtig ausschauenden Kinder mit ihren roten
    Pausbacken deutlich nebeneinander in ihrem Bettchen liegen, das
    Geschlecht stelle ich nicht fest, das eine mit semmelblondem Haar
    trägt deutlich meine Züge, gemischt mit Zügen meiner Frau, das
    andere mit kastanienbraunem Haar trägt deutlich die Züge meiner
    Frau, gemischt mit Zügen von mir. Ich sage zu meiner Frau, die
    rotblondes Haar hat, wahrscheinlich wird das kastanienbraune Haar
    ‚deines‘ Kindes später auch rot werden. Meine Frau gibt den Kindern
    die Brust, Sie hatte in einer Waschschüssel Marmelade gekocht (auch
    Traum) und beide Kinder klettern auf allen vieren in der Schüssel
    herum und lecken sie aus,

    Dies ist der Traum. Vier- oder fünfmal bin ich dabei halb
    erwacht, frage mich, ob es wahr ist, daß wir Zwillinge bekommen
    haben, komme aber doch nicht mit voller Sicherheit zu dem Er-
    gebnis, daß ich nur geträumt habe. Der Traum dauert bis zum
    Erwachen und auch danach dauert es cine Weile, bis ich mir über
    die Wahrheit klar geworden bin. Beim Kaffee erzähle ich meiner
    Frau den Traum, der sie schr belustigt. Sie meint: Ilse (meine
    Tochter) wird doch nicht etwa Zwillinge bekommen? Ich erwidere:
    Das kann ich mir kaum denken, denn weder in meiner noch in
    Gs. (ihres Mannes) Familie sind Zwillinge heimisch. Am 18. No-
    vember früh zehn Uhr erhalte ich ein nachmittags vorher auf-
    gegebenes Telegramm meines Schwiegersohnes, in dem er mir die
    Geburt von Zwillingen, eines Knaben und eines Mädchens, anzeigt.
    Die Geburt ist also in der Zeit vor sich gegangen, wo ich träumte,
    daß meine Frau Zwillinge bekommen habe. Die Niederkunft ist
    vier Wochen früher erfolgt, als wir alle auf Grund der Ver-
    mutungen meiner Tochter und ihres Manncs annahmen.

    Und nun weiter: In der nächsten Nacht träume ich, meine ver-
    storbene Frau, die Mutter meiner Tochter, habe achtundvierzig
    neugeborene Kinder in Pflege genommen, Als das erste Dutzend
    eingeliefert wird, protestiere ich. Damit endet der Traum.

    Meine verstorbene Frau war sehr kinderlieb. Oft sprach sie
    davon, daß sie eine ganze Schar um sich haben möchte, je mehr,
    desto lieber, daß sie sich als Kindergärtnerin ganz besonders eignen
    und wohlfühlen würde. Kirderlärm und Geschrei waren ihr Musik,
    Gelegentlich lud sie auch einmal eine ganze Schar Kinder aus der

  • S.

    332 Traum und

    Straße und traktierte sie auf dem Hof unserer Villa mit Schokolade
    und Kuchen. Meine Tochter hat nach der Entbindung und be-
    sonders nach der Uberraschung durch das vorzeitige Eintreten, durch
    die Zwillinge und die Verschiedenheit des Geschlechtes gewiß gleich
    an die Mutter gedacht, von der sie wußte, daß sic das Ereignis mit
    lebhafter Freude und Anteilnahme aufnehmen werde. ‚Was würde
    erst Mutti sagen, wenn sie jetzt an meinem Wochenbett stinde?*
    Dieser Gedanke ist ihr zweifellos durch den Kopf gegangen. Und
    ich träume nun diesen Traum von meiner verstorbenen ersten Frau,
    von der ich sehr selten träume, nach dem ersten Traum aber auch
    nicht gesprochen und mit keinem Gedanken an sie gedacht habe.

    Halten Sie das Zusammentreffen von Traum und Ereignis in
    beiden Fällen für Zufall? Meine Tochter, die sehr an mir hängt,
    hat in ihrer schweren Stunde sicher besonders an mich gedacht,
    wohl auch, weil ich oft mit ihr über Verhalten in der Schwanger-
    schaft korrespondiert und ihr immer wieder Ratschläge gegeben
    habe.“

    Es ist leicht zu erraten, was ich auf diesen Brief antwortete.
    Es tat mir leid, daß auch bei meinem Korrespondenten das
    analytische Interesse vom telepathischen so völlig erschlagen
    worden war; ich lenkte also von seiner direkten Frage ab,
    bemerkte, daß der Traum auch sonst noch allerlei enthielt,
    außer seiner Beziehung zur Zwillingsgeburt, und bat, mir jene
    Auskünfte und Einfälle mitzuteilen, die mir eine Deutung des
    Traumes ermöglichen könnten.

    Daraufhin erhielt ich den nachstehenden zweiten Brief, der
    meine Wünsche freilich nicht ganz befriedigte:

    „Erst heute komme ich dazu, Ihren freundlichen Brief vom
    24. d. M. zu beantworten. Ich will Ihnen gern ‚lückenlos und
    rickhaltlos' alle Assoziationen, auf die ich komme, mitteilen. Leider
    ist es nicht viel geworden, bei einer mündlichen Aussprache käme
    mehr heraus,

    Also! Meine Frau und ich wünschen uns keine Kinder mehr.
    Wir verkehren auch so gut wie gar nicht geschlechtlich miteinander,
    wenigstens lag zur Zeit des Traumes keinerlei ‚Gefahr‘ vor. Die
    Niederkunft meiner Tochter, die Mitte Dezember erwartet wurde,
    war natürlich öfter Gegenstand unserer Unterhaltung. Meine Tochter

  • S.

    Telepathie : 333

    war im Sommer untersucht und geróntgt worden, dabei stellte der
    Untersuchende fest, daß es ein Junge werde. Meine Frau äußerte
    gelegentlich: ‚Ich würde lachen, wenn es nun doch ein Mädchen
    würde.‘ Sie meinte auch gelegentlich, es wire besser, wenn es ein
    H. als ein G. (Name meines Schwiegersohnes) wiirde, meine
    Tochter ist hübscher und stattlicher in der Figur als mein Schwieger-
    sohn, obgleich er Marineoffizier war. Ich beschiftigte mich mit
    Vererbungsfragen und habe die Gewohnheit, mir kleine Kinder
    darauf anzusehen, wem sie gleichen. Noch eins! Wir haben ein
    kleines Hiindchen, das abends mit am Tisch sitzt, sein Futter be-
    kommt und Teller und Schüsseln ausleckt, All dieses Material kehrt
    im Traum wieder.

    Ich habe kleine Kinder gern und schon oft gesagt, ich möchte
    noch einmal so ein Wesen aufziehen, jetzt, wo man es mit schr
    viel mehr Verstindnis, Interesse und Ruhe vermag, aber mit meiner
    Frau, die nicht die Fähigkeiten zur vernünftigen Erziehung eines
    Kindes besitzt, möchte ich keins zusammen haben. Nun beschert
    mir der Traum zwei — das Geschlecht habe ich nicht festgestellt.
    Ich sehe sie noch heute im Bett liegen und erkenne scharf die
    Züge, das eine mehr „Ich“, das andere mehr meine Frau, jedes aber,
    kleine Züge vom anderen Teil. Meine Frau hat rotblondes Haar,
    eines der Kinder aber kastanien(rotes)braunes. Ich sage: ‚Na, das
    wird später auch noch rot werden.‘ Die beiden Kinder kriechen in
    einer großen Waschschüssel, in der meine Frau Marmelade gerührt
    hat, herum und lecken den Boden und die Ränder ab (Traum).
    Die Herkunft dieses Details ist leicht erklärlich, wie der Traum
    überhaupt nicht schwer verständlich und deutbar ist, wenn er nicht
    mit dem wider Erwarten frühen Eintreten der Geburt meiner
    Enkel (drei Wochen zu früh) zeitlich fast auf die Stunde (genau
    kann ich nicht sagen, wann der Traum begann, um neun. und
    viertel zehn wurden meine Enkel geboren, um elf etwa ging ich
    zu Bett und nachts träumte ich) zusammengetroffen wäre und wir
    nicht schon vorher gewußt hätten, daß es cin Junge werden würde.
    Freilich kann wohl der Zweifel, ob die Feststellung richtig ge-
    wesen sci, 一 Junge oder Mädchen — im Traume Zwillinge auf-
    treten lassen, es bleibt aber immer noch das zeitliche Zusammen-
    treffen des Traumes von den Zwillingen mit dem unerwarteten und drei
    Wochen zu frühen Eintreffen von Zwillingen bei meiner Tochter,

    Es ist nicht das erstemal, daß Ereignisse in der Ferne sich mir
    bewußt machen, ehe ich die Nachricht erhalte. Eines unter zahl-

  • S.

    334 Traum und
    reichen! Im Oktober besuchten mich meine drei Briider. Wir haben
    uns seit dreißig Jahren nicht wieder zusammen (der eine den
    anderen natürlich öfter) gesehen, nur einmal ganz kurz beim Be-
    gribnis meines Vaters und dem meiner Mutter. Beider Tod war
    zu erwarten, in keinem Falle habe ich ‚vorgefühlt‘. Aber als vor
    zirka finfundzwanzig Jahren mein jüngster Bruder im zehnten
    Lebensjahr plötzlich und unerwartet starb, kam mir, als mir der
    Briefbote die Postkarte mit der Nachricht von seinem Tode übergab,
    ohne daß ich einen Blick darauf geworfen hatte, sofort der Ge-
    danke: Da steht darauf, daß dein Bruder gestorben ist. Er war
    doch allein im Elternhaus, ein kräftiger gesunder Bub, während
    wir vier älteren Brüder alle vom Elternhaus schon flügge geworden
    und abwesend waren. Zufällig kam das Gespräch beim Besuch
    meiner Brüder jetzt auf dieses mein Erlebnis damals, und alle drei
    Brüder kamen nun wie auf Kommando mit der Erklärung heraus,
    daß ihnen damals genau dasselbe passiert sei wie mir. Ob auf
    dieselbe Weise, kann ich nicht mehr sagen, jedenfalls erklärte jeder,
    den Tod vorher als Gewißheit im Gefühl gehabt zu haben, ehe
    die bald darauf eintreffende und gar nicht zu erwartende Nachricht
    ihn angezeigt hatte. Wir sind alle vier von Mutters Seite her
    sensible Naturen, große, kräftige Menschen dabei, aber keiner etwa
    spiritistisch oder okkultistisch angehaucht, im Gegenteil, wir lehnen
    beides entschieden ab. Meine Brüder sind alle drei Akademiker, zwei
    Gymnasiallehrer, einer Oberlandmesser, eher Pedanten als Phan-
    tasten. — Das ist alles, was ich Ihnen zum Traum zu sagen weiß.
    Wenn Sie ihn etwa literarisch verwerten wollen, stelle ich ihn gern
    zur Verfügung.“

    Ich muß befürchten, daß Sie sich ähnlich verhalten werden
    wie der Schreiber der beiden Briefe. Auch Sie werden sich vor
    allem dafür interessieren, ob man diesen Traum wirklich als
    eine telepathische Anzeige der unerwarteten Zwillingsgeburt
    auffassen darf, und gar nicht dazu geneigt sein, ihn wie einen
    anderen der Analyse zu unterziehen, Ich sehe voraus, daß es
    immer so sein wird, wenn Psychoanalyse und Okkultismus
    zusammenstoßen. Die erstere hat sozusagen alle seelischen
    Instinkte gegen sich, dem letzteren. kommen starke, dunkle
    Sympathien entgegen. Ich werde aber nicht den Standpunkt

  • S.

    Telepathie 335

    einnehmen, ich sei nichts als ein Psychoanalytiker, die Fragen
    des Okkultismus gehen mich nichts an; das würden Sie doch
    nur als Problemflüchtigkeit beurteilen. Sondern ich behaupte,
    daß es mir ein großes Vergnügen wäre, wenn ich mich und
    andere durch untadelige Beobachtungen von der Existenz tele-
    pathischer Vorgänge überzeugen könnte, daß aber die Mit-
    teilungen zu diesem Traum viel zu unzulänglich sind, um
    eine solche Entscheidung zu rechtfertigen.“ Sehen Sie, dieser
    intelligente und an den Problemen seines Traumes interessierte
    Mann denkt nicht einmal daran, uns anzugeben, wann er die
    ein Kind erwartende Tochter zuletzt gesehen oder welche
    Nachrichten er kürzlich von ihr erhalten; er schreibt im ersten
    Brief, daß die Geburt um einen Monat verfrüht kam, im
    zweiten sind es aber nur drei Wochen und in keinem erhalten
    wir Auskunft darüber, ob die Geburt wirklich vorzeitig er-
    folgte, oder ob sich die Beteiligten, wie es so häufig vorkommt,
    verrechnet hatten. Von diesen und anderen Details der Be-
    gebenheit würden wir aber abhängen, wenn wir die Wahr-
    scheinlichkeit eines dem Träumer unbewußten Abschätzens
    und Erratens zu erwägen hätten. Ich sagte mir auch, es würde
    nichts nützen, wenn ich auf einige solcher Anfragen Antwort
    bekäme. Im Laufe des angestrebten Beweisverfahrens würden
    doch immer neue Zweifel auftauchen, die nur beseitigt werden
    könnten, wenn man den Mann vor sich hätte und alle die
    dazugehörigen Erinnerungen bei ihm auffrischen würde, die er
    vielleicht als unwesentlich beiseitegeschoben hat. Er hat
    gewiß recht, wenn er zu Anfang seines zweiten Briefes sagt,
    bei einer mündlichen Aussprache wäre mehr herausgekommen.

    Denken Sie an einen anderen, ähnlichen Fall, an dem das
    störende okkultistische Interesse gar keinen Anteil hat. Wie
    oft sind Sie in die Lage gekommen, die Anamnese und den
    Krankheitsbericht, den Ihnen ein beliebiger Neurotiker in der
    ersten Besprechung gab, mit dem zu vergleichen, was Sie nach

  • S.

    336 Traum und

    einigen Monaten Psychoanalyse von ihm erfahren haben. Von
    der begreiflichen Verkürzung abgesehen, wieviel wesentliche
    Mitteilungen hat er ausgelassen oder unterdrückt, wieviel Be-
    ziehungen verschoben, im Grunde: wieviel Unrichtiges und
    Unwahres hat er Ihnen das erstemal erzählt! Ich glaube, Sie
    werden mich nicht fiir iiberbedenklich erklåren, wenn ich unter
    den uns vorliegenden Verhiltnissen es ablehne, dariiber zu
    urteilen, ob der uns mitgeteilte Traum einer telepathischen
    Tatsache entspricht oder einer besonders feinen unbewuften
    Leistung des Träumers oder einfach als ein zufälliges Zu-
    sammentreffen hingenommen werden muß, Unsere W 巡 -
    begierde werden wir auf eine spätere Gelegenheit vertrösten,
    in der uns eine eingehende, mündliche Ausforschung des
    Tråumers vergönnt sein mag. Sie können aber nicht sagen, daß
    dieser Ausgang unserer Untersuchung Sie enttäuscht hat, denn
    ich hatte Sie darauf vorbereitet, Sie würden nichts erfahren,
    was auf das Problem der Telepathie Licht wirft.

    Wenn wir jetzt zur analytischen Behandlung dieses Traumes
    übergehen, so müssen wir von neuem unser Mißvergnügen
    bekennen. Das Material von Gedanken, die der Träumer an
    den manifesten Trauminhalt anknüpft, ist wiederum unge-
    nügend; damit können wir keine Traumanalyse machen. Der
    Traum verweilt zum Beispiel ausführlich bei der Ähnlichkeit
    der Kinder mit den Eltern, erörtert deren Haarfarbe und die
    voraussichtliche Wandlung derselben in späteren Zeiten, und
    zur Aufklärung dieser breit ausgesponnenen Details haben wir
    nur die dürftige Auskunft des Träumers, er habe sich immer
    für Fragen der Ähnlichkeit und Vererbung interessiert; da sind
    wir doch gewohnt, weitergehende Ansprüche zu stellen! Aber
    an einer Stelle gestattet der Traum eine analytische
    Deutung, gerade hier kommt die Analyse, die sonst nichts mit
    dem Okkultismus zu tun hat, der Telepathie in merkwürdiger
    Weise zur Hilfe. Dieser einen Stelle wegen nehme ich über-

  • S.

    Telepathie 337

    haupt Ihre Aufmerksamkeit für diesen Traum in Anspruch,

    Wenn Sie es recht ansehen, so hat ja dieser Traum auf den
    Namen eines „telepathischen“ gar kein Anrecht, Er teilt dem
    Träumer nichts mit, was sich — seinem sonstigen Wissen ent-
    zogen — gleichzeitig an einem anderen Orte vollzieht, sondern
    was der Traum erzählt, ist etwas ganz anderes als das Er-
    eignis, von dem ein Telegramm am zweiten Tag nach der
    Traumnacht berichtet. Traum und Ereignis weichen in einem
    ganz besonders wichtigen Punkt voneinander ab, nur stimmen
    sie, von der Gleichzeitigkeit abgesehen, in einem anderen,
    sehr interessanten Element zusammen. Im Traum hat die
    Frau des Triumers Zwillinge bekommen. Das Ergebnis
    besteht aber darin, daß seine entfernt lebende Tochter
    Zwillinge geboren hat. Der Träumer übersieht diesen Unter-
    schied nicht, er scheint keinen Weg zu kennen, über ihn
    hinwegzukommen, und da er nach seiner eigenen Angabe
    keine okkultistische Vorliebe hat, fragt er nur ganz schüchtern
    an, ob das Zusammentreffen von Traum und Ereignis im
    Punkte der Zwillingsgeburt mehr als ein Zufall sein kann.
    Die psychoanalytische Traumdeutung hebt aber diesen Unter-
    schied zwischen Traum und Ereignis auf und gibt beiden den
    nämlichen Inhalt. Ziehen wir das Assoziationsmaterial zu
    diesem Traum zu Rate, so zeigt es uns trotz seiner Spärlich-
    keit, daß hier eine innige Gefühlsbindung zwischen Vater und
    Tochter besteht, eine Gefiihlsbindung, die so gewöhnlich und
    natürlich ist, daß man aufhören sollte, sich ihrer zu schämen,
    die im Leben gewiß nur als zärtliches Interesse zum Ausdruck
    kommt und ihre letzten Konsequenzen erst im Traume zieht.
    Der Vater weiß, daß die Tochter sehr an ihm hängt, er ist
    überzeugt, daß sie in ihrer schweren Stunde viel an ihn gedacht
    hat; ich meine, im Grunde gönnt er sie dem Schwiegersohn
    nicht, den er im Briefe mit einigen abschitzigen Bemerkungen
    streift. Beim Anlaß ihrer (erwarteten oder telepathisch ver-

    Freud, Kleine Schriften zur Sexualtheorie 22

  • S.

    338 Traum und

    nommenen) Niederkunft wird im Verdrångten der unbewufite
    Wunsch rege: Sie sollte lieber meine (zweite) Frau sein, und
    dieser Wunsch ist es, der den Traumgedanken entstellt und
    den Unterschied zwischen dem manifesten Trauminhalt und
    dem Ereignis verschuldet. Wir haben das Recht, fir die
    zweite Frau im Traume die Tochter einzusetzen. Besifen wir
    mehr Material zum Traum, so würden wir diese Deutung
    gewiß versichern und vertiefen können.

    Und nun bin ich bei dem, was ich Ihnen zeigen wollte. Wir
    haben uns der strengsten Unparteilichkeit bemüht und zwei
    Auffassungen des Traumes als gleich möglich und gleich unbe-
    wiesen gelten gelassen. Nach der ersten ist der Traum die
    Reaktion auf eine telepathische Botschaft: Deine Tochter
    bringt eben jetzt Zwillinge zur Welt. Nach der zweiten liegt
    ihm eine unbewufite Gedankenarbeit zugrunde, die sich etwa
    derart übersetzen ließe: Heute ist ja der Tag, an dem die
    Entbindung eintreten müßte, wenn sich die jungen Leute in
    Berlin wirklich um einen Monat verrechnet haben, wie ich
    eigentlich glaube. Und wenn meine (erste) Frau noch leben
    würde, die wire doch mit einem Enkelkind nicht zufrieden!
    Für sie müßten es mindestens Zwillinge sein. Hat diese zweite
    Auffassung recht, so entstehen keine neuen Probleme für uns.
    Es ist eben ein Traum wie ein anderer. Zu den erwihnten
    (vorbewuften) Traumgedanken ist der (unbewufite) Wunsch
    hinzugetreten, daf keine andere als die Tochter die zweite
    Frau des Triumers hitte werden sollen, und so ist der uns
    mitgeteilte manifeste Traum entstanden.

    Wollen Sie aber lieber annehmen, daß die telepathische Bot-
    schaft von der Entbindung der Tochter an den Schlafenden
    herangetreten ist, so erheben sich neue Fragen nach der Be-
    ziehung einer solchen Botschaft zum Traum und nach ihrem
    Einfluß auf die Traumbildung. Die Antwort liegt dann sehr
    nahe und ist ganz eindeutig zu geben. Die telepathische Bot-

  • S.

    Telepathie 339

    schaft wird behandelt wie ein Stück des Materials zur Traum-
    bildung, wie ein anderer Reiz von außen oder innen, wie ein
    stórendes Geräusch von der Straße, wie eine aufdringliche
    Sensation von einem Organ des Schlafenden. In unserem
    Beispiel ist es ersichtlich, wie sie mit Hilfe eines lauernden,
    verdrángten Wunsches zur Wunscherfüllung umgearbeitet
    wird, und leider weniger deutlich zu zeigen, daß sie mit
    anderem gleichzeitig rege gewordenem Material zu einem
    Traum verschmilzt. Die telepathische Botschaft — wenn eine
    solche wirklich anzuerkennen ist — kann also an der Traum-
    bildung nichts ändern, die Telepathie hat mit dem Wesen des
    Traumes nichts zu tun, Und um den Eindruck zu vermeiden,
    daß ich hinter einem abstrakten und vornehm klingenden
    Wort eine Unklarheit verbergen möchte, bin ich bereit zu
    wiederholen: Das Wesen des Traumes besteht in dem eigen-
    tümlichen Prozeß der Traumarbeit, welcher vorbewufite Ge-
    danken (Tagesreste) mit Hilfe einer unbewuften Wunsch-
    regung in den manifesten Trauminhalt überführt. Das Pro-
    blem der Telepathie geht aber den Traum so wenig an wie
    das Problem der Angst.

    Ich hoffe, Sie werden das zugeben, mir aber bald einwenden,
    es gibt doch auch andere telepathische Träume, in denen kein
    Unterschied zwischen Ereignis und Traum besteht, und in
    denen nichts anderes zu finden ist als die unentstellte Wieder-
    gabe des Ereignisses. Ich kenne solche telepathishe Träume
    wieder nicht aus eigener Erfahrung, weiß aber, daß sie häufig
    berichtet worden sind. Nehmen wir an, wir hätten es mit
    einem solchen unentstellten und unvermischten telepathischen
    Traum zu tun, dann erhebt sich eine andere Frage: Soll man
    ein derartiges telepathisches Erlebnis überhaupt einen „Traum“
    nennen? Sie werden es ja gewiß tun, solange Sie mit dem
    populären Sprachgebrauch gehen, für den alles Träumen heißt,
    was sich während der Schlafzeit in Ihrem Seelenleben ereignet,

    pe

  • S.

    340 Traum und

    Sie sagen vielleicht auch: Ich habe mich im Traum herum-
    gewilzt, und finden erst recht keine Inkorrektheit darin, zu
    sagen: Ich habe im Traum geweint oder mich im Traum ge-
    ängstigt. Aber Sie merken doch wohl, daß Sie in all diesen
    Fällen „Traum“ und „Schlaf“ oder ,,Schlafzustand“ unter-
    scheidungslos miteinander vertauschen. Ich meine, es wire im
    Interesse wissenschaftlicher Genauigkeit, wenn wir „Traum“
    und ,,Schlafzustand“ besser auseinanderhielten. Warum sollten
    wir ein Seitenstüdk zu der von Maeder heraufbeschwo-
    renen Konfusion schaffen, der fiir den Traum eine neue Funk-
    tion entdeckte, indem er die Traumarbeit durchaus nicht von
    den latenten Traumgedanken sondern wollte? Wenn wir also
    einen solchen reinen telepathischen „Traum“ antreffen sollten,
    so wollen wir ihn doch lieber ein telepathisches Erlebnis im
    Schlafzustand heißen. Ein Traum ohne Verdichtung, Ent-
    stellung, Dramatisierung, vor allem ohne Wunscherfüllung,
    verdient ja doch nicht diesen Namen. Sie werden mich daran
    mahnen, daft es noch andere seelische Produktionen im Schlaf
    gibt, denen man dann das Recht auf den Namen „Traum“
    absprechen müßte. Es kommt vor, daß reale Erlebnisse des
    Tages im Schlaf einfach wiederholt werden, die Reproduk-
    tionen traumatischer Szenen im ,,Traume" haben uns erst
    kürzlich zu einer Revision der Traumtheorie herausgefordert;
    es gibt Träume, die sich durch ganz besondere Eigenschaften
    von der gewohnten Art unterscheiden, die eigentlich nichts
    anderes sind als unverschrte und unvermengte nächtliche
    Phantasien, den bekannten Tagesphantasien sonst durchaus
    ähnlich. Es wire gewiß miflich, diese Bildungen von der
    Bezeichnung „Träume“ auszuschließen. Aber sie alle kommen
    doch von innen, sind Produkte unseres Seelenlebens, wåhrend
    der reine ,telepathische Traum‘ seinem Begriff nach eine
    Wahrnehmung von außen wire, gegen welche sich das Seelen-
    leben rezeptiv und passiv verhielte.

  • S.

    Telepathie 341

    II) Der zweite Fall, von dem ich Ihnen berichten will, liegt
    eigentlich auf einer anderen Linie. Er bringt uns keinen tele-
    pathischen Traum, sondern einen seit Kindheitsjahren rekur-
    rierenden Traum bei einer Person, die viel telepathische Er-
    lebnisse gehabt hat. Ihr Brief, den ich nachstehend wiedergebe,
    enthält manches Merkwürdige, worüber uns zu urteilen ver-
    sagt ist. Einiges davon kann fiir das Verhåltnis der Telepathie
    zum Traum verwertet werden.

    1

    ss... Mein Arzt, Herr Doktor N., riet mir, Ihnen einen Traum
    zu erzählen, der mich seit ungefähr dreißig bis zweiunddreiBig
    Jahren verfolgt. Ich folgte seinem Rate, vielleicht hat der Traum
    in wissenschaftlicher Beziehung für Sie Interesse. Da nach Ihrer
    Meinung solche Träume auf ein Erlebnis in sexueller Beziehung
    während der ersten Kinderjahre zurückzuführen sind, gebe ich Kind-
    heitserinnerungen wieder, es sind Erlebnisse, die heute noch ihren
    Eindruck auf mich machen und so nachdrücklich gewesen sind,
    daß sie mir meine Religion bestimmt haben.

    Darf ich Sie bitten, mir nach Kenntnisnahme vielleicht mitzu-
    teilen, in welcher Weise Sie sich diesen Traum erklären, und ob
    es nicht möglich ist, ihn aus meinem Leben verschwinden zu lassen,
    da er mich wie ein Gespenst verfolgt und durch die Umstände,
    von denen er begleitet ist, — ich falle stets aus dem Bette und habe
    mir schon nicht unerhebliche Verletzungen zugezogen — schr un-
    angenehm und peinlich für mich ist.

    2

    Ich bin siebenunddreißig Jahre alt, sehr kräftig und körperlich
    gesund, habe außer Masern und Scharlach in der Kindheit eine
    Nierenentzündung durchgemacht. Im fünften Jahre hatte ich eine
    schr schwere Augenentzündung, nach der cin Doppeltschen zurück-
    blieb. Die Bilder stehen schräg zueinander, die Umrisse des Bildes
    sind verwischt, weil Narben von Geschwüren die Klarheit becin-
    trächtigen. Nach fachärztlichem Urteil ist am Auge aber nichts
    mehr zu ändern oder zu bessern. Durch das Zukneifen des linken
    Auges, um klarer zu sehen, hat sich die linke Gesichtshälfte nach
    oben verzerrt. Ich vermag durch Übung und Wille die feinsten

  • S.

    342 Traum und

    Handarbeiten zu machen; ebenso habe ich mir als sechsjåhriges
    Kind das schiefe Sehen vor dem Spiegel weggelernt, so daß heute
    von dem Augenfehler äußerlich nichts zu sehen ist.

    In den frühesten Kinderjahren schon bin ich immer einsam
    gewesen, habe mich von allen Kindern zuriickgezogen und habe
    schon Gesichte gehabt (hellhóren und hellsehen), habe das aber
    von der Wirklichkeit nicht unterscheiden können und bin deshalb
    oft in Konflikte geraten, die aus mir einen sehr zuriickhaltenden,
    scheuen Menschen gemacht haben. Da ich schon als kleinstes Kind
    viel mehr gewußt habe, als ich hatte lernen können, verstand
    ich einfach die Kinder meines Alters nicht mehr. Ich selbst bin
    die älteste von zwölf Geschwistern,

    Von sechs bis zehn Jahren besuchte ich die Gemeindeschule und
    dann bis sechzehn Jahre die höhere Schule der Ursulinerinnen in B.
    Mit zehn Jahren habe ich innerhalb vier Wochen, es waren acht
    Nachhilfestunden, so viel Französisch nachgeholt, als andere Kinder
    in zwei Jahren lernen. Ich hatte nur zu repetieren, es war, als
    ob ich es schon gelernt und nur vergessen hätte. Überhaupt habe
    ich auch später Französisch nie zu lernen brauchen, im Gegensatz
    zu Englisch, das mir zwar keine Mühe machte, das mir aber
    unbekannt war. Ähnlich wie mit Französisch ging es mir mit
    Latein, das ich eigentlich nie richtig gelernt habe, sondern nur vom
    Kirchenlatein her kenne, das mir aber vollkommen vertraut ist.
    Lese ich heute ein französisches Werk, dann denke ich auch sofort
    in Französisch, während mir das bei Englisch nie passiert, trotzdem
    ich Englisch besser beherrsche. — Meine Eltern sind Bauersleute,
    die durch Generationen nie andere Sprachen als Deutsch und
    Polnisch gesprochen haben.

    Gesichte: Zuweilen verschwindet für Augenblicke die Wirk-
    lichkeit und ich sche etwas ganz anderes. In meiner Wohnung sehe
    ich z.B. sehr oft ein altes Ehepaar und ein Kind, die Wohnung
    hat dann andere Einrichtung. — Noch in der Heilanstalt kam
    früh gegen vier Uhr meine Freundin in mein Zimmer, ich war
    wach, hatte die Lampe brennen und saß am Tische lesend, da
    ich sehr viel an Schlaflosigkeit leide. Stets bedeutet diese Er-
    scheinung für mich Arger, auch dieses Mal.

    Im Jahre 1914 war mein Bruder im Felde, ich nicht bei den
    Eltern in B., sondern in Ch. Es war vormittags 10 Uhr, 22. August,
    da hörte ich ‚Mutter, Mutter!‘ von der Stimme meines Bruders
    rufen. Nach zehn Minuten nochmals, habe aber nichts gesehen.

  • S.

    Telepathie ⑧ ③④③

    Am 24. August kam ich heim, fand Mutter bedriickt, und auf
    Befragen erklirte sie, der Junge hitte sich am 22. August ange-
    meldet. Sie sei vormittags im Garten gewesen, da hätte sie den
    Jungen ‚Mutter, Mutter!‘ rufen hören. Ich tröstete sie und sagte
    ihr nichts von mir. Drei Wochen darauf kam eine Karte meines
    Bruders an, die er am 22. August zwischen 9 und ıo Uhr vor-
    mittags geschrieben hatte, kurz darauf starb er.

    Am 27. September 1921 meldete sich mir etwas in der Heil-
    anstalt an. Es wurde zwei- bis dreimal an das Bett meiner Zimmer-
    kollegin heftig geklopft. Wir waren beide wach, ich fragte, ob
    sie geklopft hätte, sie hatte nicht einmal etwas gehört. Nach acht
    Wochen hörte ich, daß eine meiner Freundinnen in der Nacht vom
    26. auf 27. gestorben wäre.

    Nun etwas, was Sinnestäuschung sein soll, Ansichtssache! Ich
    habe eine Freundin, die sich einen Witwer mit fünf Kindern ge-
    heiratet hat, den Mann lernte ich erst durch meine Freundin kennen.
    In deren Wohnung sehe ich fast jedesmal, wenn ich bei ihr bin,
    eine Dame aus- und eingehen. Die Annahme lag nahe, daß das
    die erste Frau des Mannes sei. Ich fragte gelegentlich nach einem
    Bilde, konnte aber nach der Photographie die Erscheinung nicht
    identifizieren. Nach sieben Jahren sehe ich bei einem der Kinder
    ein Bild mit den Zügen der Dame. Es war doch die erste Frau.
    Auf dem Bilde sah sie bedeutend besser aus, sie hatte gerade eine
    Mastkur durchgemacht und daher das für cine Lungenkranke ver-
    änderte Aussehen. — Das sind nur Beispiele von vielen.

    Der Traum: Ich sehe eine Landzunge, von Wasser umgeben.
    Die Wellen werden von der Brandung herangetrieben und wieder
    zurückgerissen. Auf der Landzunge steht eine Palme, die etwas zum
    Wasser gebogen ist. Um den Stamm der Palme schlingt eine Frau
    ihren Arm und beugt sich ganz tief ins Wasser, wo ein Mann ver-
    sucht, an Land zu kommen, Zuletzt legt sie sich auf die Erde, hilt
    sich mit der Linken an der Palme fest und reicht, so weit wie
    möglich, ihre Rechte dem Manne ins Wasser, ohne ihn zu erreichen.
    Dabei falle ich aus dem Bette und wache auf. — Ich war ungefähr
    fünfzehn bis sechzehn Jahre, als ich wahrnahm, daß ich ja selbst
    diese Frau sei, und nun erlebte ich nicht nur die Angst der Frau
    um den Mann, sondern stand manchmal auch als unbeteiligte Dritte
    dabei und sah zu. Auch in Etappen träumte ich dieses Erlebnis.
    Wie das Interesse am Manne wach wurde (achtzehn bis zwanzig
    Jahre), versuchte ich, das Gesicht des Mannes zu erkennen, es war

  • S.

    344 Traum und

    mir nie möglich. Die Gischt ließ nur Nacken und Hinterkopf frei.
    Ich bin zweimal verlobt gewesen, aber dem Kopf und Kérperbau
    nach war es keiner dieser beiden Männer. — Als ich in der Heil-
    anstalt einmal im Paraldehydrausche lag, sah ich das Gesicht des
    Mannes, das ich nunmehr in jedem Traume sehe. Es ist das des
    mich in der Anstalt behandelnden Arztes, der mir wohl als Arzt
    sympathisch ist, mit dem mich aber nichts verbindet.

    Erinnerungen: Уз bis *% Jahr alt. Ih im Kinderwagen,
    rechts mir zur Seite zwei Pferde, das eine, ein Brauner, sieht mich
    groß und eindrucksvoll an. Das ist das stärkste Erlebnis, ich hatte
    das Gefühl, es sei ein Mensch.

    Ein Jahr alt. Vater und ich im Stadtpark, wo mir ein
    Parkwårter ein Vogelchen in die Hand gibt. Seine Augen sehen
    mich wieder an, ich fiihle, das ist ein Wesen wie du.

    Hausschlachtungen. Beim Quicken der Schweine habe
    ich stets um Hilfe geschrien und immer gerufen: Ihr schlagt ja
    einen Menschen tot (vier Jahre alt). Ich habe Fleisch als Nahrungs-
    mittel stets abgelehnt. Schweinefleisch hat mir stets Erbrechen ver-
    ursacht. Erst im Kriege habe ich Fleisch essen gelernt, aber nur
    mit Widerwillen, jetzt entwóhne ich mich dessen wieder.

    Fünf Jahre alt Mutter kam nieder und ich hörte sie
    schreien. Ich hatte die Empfindung, dort ist cin Tier oder Mensch
    in höchster Not, ebenso wie ich es bei den Schlachtungen hatte.

    In sexueller Beziehung bin ich als Kind ganz indifferent gewesen,
    mit zehn Jahren gingen Siinden wider die Keuschheit noch nicht in
    mein Begriffsvermågen. Mit zwölf Jahren wurde ich menstruiert.
    Mit sechsundzwanzig Jahren, nachdem ich einem Kinde das Leben
    gegeben hatte, erwachte erst das Weib in mir, bis dahin (ein halbes
    Jahr) hatte ich beim Koitus stets heftiges Erbrechen. Auch spåter
    trat Erbrechen cin, wenn die kleinste Verstimmung mich bedriickte.

    Ich habe cine außerordentlich scharfe Beobachtungsgabe und ein
    ganz ausnahmsweise scharfes Gehör, Geruch ist ebenso ausgebildet.
    Bekannte Menschen kann ich mit verbundenen Augen unter einem
    Haufen anderer herausriechen.

    Ich führe mein Mehrsehen und Hören nicht auf krankhaftes
    Wesen, sondern auf feineres Empfinden und schnelleres Kom-
    binationsvermögen zurück, habe aber darüber nur mit meinem
    Religionslehrer und Herrn Dr. ... gesprochen, zu letzterem auch
    nur sehr widerwillig, weil ich mich davor scheute zu hören, daß
    ich Minuseigenschaften habe, die ich persönlich als Pluseigenschaften

  • S.

    Telepathie 345

    ansehe, und weil ich durch Mifiverstindnis in meiner Jugend sehr
    scheu geworden bin.“

    Der Traum, dessen Deutung uns die Schreiberin auferlegt,
    ist nicht schwer zu verstehen. Es ist ein Traum der Rettung
    aus dem Wasser, also ein typischer Geburtstraum. Die Sprache
    der Symbolik kennt, wie Sie wissen, keine Grammatik, sie ist
    das Extrem einer Infinitivsprache, auch das Aktivum und das
    Passivum werden durch dasselbe Bild dargestellt. Wenn im
    Traum eine Frau einen Mann aus dem Wasser zieht (oder
    ziehen will), so kann das heißen, sie will seine Mutter sein
    (anerkennt ihn als Sohn wie die Pharaotochter den Moses)
    oder auch: sie will durch ihn Mutter werden, einen Sohn von
    ihm haben, welcher als sein Ebenbild ihm gleichgesetzt wird.
    Der Baumstamm, an den die Frau sich hält, ist leicht als
    Phallussymbol zu erkennen, auch wenn er nicht gerade steht,
    sondern gegen den Wasserspiegel geneigt — im Traum heißt
    es: gebogen — ist. Das Andrången und Zuriickfluten der
    Brandung legte einmal einer anderen Träumerin, die einen
    ganz ähnlichen Traum produziert hatte, den Vergleich mit
    der intermittierenden Wehentätigkeit nahe, und als ich sie,
    die noch nie geboren hatte, fragte, woher sie diesen Charakter
    der Geburtsarbeit kenne, sagte sie, man stellt sich die Wehen
    wie eine Art Kolik vor, was physiologisch ganz untadelig ist.
    Sie assoziierte dazu: „Des Meeres und der Liebe Wellen.“
    Woher unsere Triumerin die feinere Ausstattung des Symbols
    in so frihen Jahren genommen haben kann (Landzunge,
    Palme), weiß ich natürlich nicht zu sagen. Übrigens vergessen
    wir nicht daran: Wenn Personen behaupten, daf sie seit
    Jahren von demselben Traum verfolgt werden, so stellt sich
    oft heraus, daß es manifesterweise nicht ganz derselbe ist.
    Nur der Kern des Traumes ist jedesmal wiedergekehrt, Einzel-
    heiten des Inhalts sind abgeändert worden oder neu hinzu-
    gekommen.

  • S.

    346 Traum und

    Am Ende dieses offenbar angstvollen Traumes fällt die
    Tråumerin aus dem Bett. Das ist eine neuerliche Darstellung
    der Niederkunft. Die analytische Erforschung der Hóhen-
    phobien, der Angst vor dem Impuls, sich aus dem Fenster zu
    stürzen, hat Ihnen gewiß allen das nåmliche Ergebnis geliefert.

    Wer ist nun der Mann, von dem sich die Triumerin ein
    Kind wünscht oder zu dessen Ebenbild sie Mutter sein möchte?
    Sie hat sich oft bemiiht, sein Gesicht zu sehen, aber der Traum
    ließ es nicht zu, der Mann sollte inkognito bleiben. Wir
    wissen aus ungezåhlten Analysen, was diese Verschleierung
    bedeutet, und unser Analogieschlufi wird durch eine andere
    Angabe der Triumerin gesichert. In einem Paraldehydrausch
    erkannte sie einmal das Gesicht des Mannes im Traum als das
    des Anstaltsarztes, der sie behandelte und der ihrem bewußten
    Gefiihlsleben nichts weiter bedeutete. Das Original hatte sich
    also nie gezeigt, aber dessen Abdruck in der „Übertragung“
    gestattet den Schluß, daß es immer früher der Vater hätte
    sein sollen. Wie recht hatte doch Ferenczi, als er auf
    die „Träume der Ahnungslosen“ als wertvolle Urkunden zur
    Bestätigung unserer analytischen Vermutungen hinwies! Unsere
    Träumerin war die älteste von zwölf Kindern; wie oft mußte
    sie die Qualen der Eifersucht und Enttiuschung durchgemacht
    haben, wenn nicht sie, sondern die Mutter das ersehnte Kind
    vom Vater empfing!

    Ganz richtig hat unsere Triumerin verstanden, daß ihre
    ersten Kindheitserinnerungen fiir die Deutung ihres frühen
    und seither wiederkehrenden Traumes wertvoll sein würden.
    In der ersten Szene vor einem Jahr sitzt sie im Kinderwagen,
    neben ihr zwei Pferde, von denen eines sie groß und ein-
    drucksvoll ansieht. Sie bezeichnet das als ihr stärkstes Erlebnis,
    sie hatte das Gefühl, es sei ein Mensch. Wir aber können uns
    in diese Wertung nur einfühlen, wenn wir annehmen, zwei
    Pferde ständen hier, wie so oft, für ein Ehepaar, für Vater

  • S.

    Telepathie 347
    Teeja S OO SSSRA A O I,

    und Mutter. Es ist dann wie ein Aufblitzen des infantilen
    'Totemismus. Könnten wir die Schreiberin sprechen, so würden
    wir die Frage an sie richten, ob nicht der Vater seiner Farbe
    nach in dem braunen Pferd, das sie so menschlich an-
    sieht, erkannt werden darf. Die zweite Erinnerung ist mit der
    ersten durch das gleiche ,,verständnisvolle Ansehen“ assoziativ
    verknüpft. Aber das In-die-Hand-Nehmen des Vogelchens
    mahnt den Analytiker, der nun einmal seine Vorurteile hat,
    an einen Zug des Traumes, der die Hand der Frau in Be-
    ziehung zu einem anderen Phallussymbol bringt.

    Die nächsten beiden Erinnerungen gehören zusammen, sie
    bieten der Deutung noch geringere Schwierigkeiten. Das
    Schreien der Mutter bei ihrer Niederkunft erinnert sie direkt
    an das Quieken der Schweine bei einer Hausschlachtung und
    versetzt sie in dieselbe mitleidige Raserei. Wir vermuten aber
    auch, hier liegt eine heftige Reaktion gegen einen bösen Todes-
    wunsch vor, welcher der Mutter galt.

    Mit diesen Andeutungen der Zärtlichkeit für den Vater,
    der genitalen Berührungen mit ihm und der Todeswünsche
    gegen die Mutter ist der Umriß des weiblichen Odipus-
    komplexes gezogen. Die lang bewahrte sexuelle Unwissenheit
    und spätere Frigidität entsprechen diesen Voraussetzungen.
    Unsere Schreiberin ist virtuell — und zeitweise gewiß auch
    faktisch — eine hysterische Neurotika geworden. Die Mächte
    des Lebens haben sie zu ihrem Glück mit sich fortgerissen, ihr
    weibliches Sexualempfinden, Muttergliick und mannigfache
    Erwerbsleistung möglich gemacht, aber ein Anteil ihrer Libido
    haftet noch immer an den Fixierungsstellen ihrer Kindheit,
    sie träumt noch immer jenen Traum, der sie aus dem Bette
    wirft und für die inzestuóse Objektwahl mit „nicht un-
    erheblichen Verletzungen“ bestraft.

    Was die stärksten Einflüsse späteren Erlebens nicht zu-
    stande brachten, soll jetzt die briefliche Aufklärung eines

  • S.

    348 Traum und

    fremden Arztes leisten. Wahrscheinlich würde es einer regel-
    rechten Analyse in längerer Zeit gelingen. Wie die Verhält-
    nisse liegen, mußte ich mich damit begnügen, ihr zu schreiben,
    ich sei überzeugt, daß sie an der Nachwirkung einer starken
    Gefühlsbindung an den Vater und der entsprechenden Identi-
    fizierung mit der Mutter leide, hoffe aber selbst nicht, daß
    diese Aufklärung ihr nützen werde. Spontanheilungen von
    Neurosen hinterlassen in der Regel Narben und diese werden
    von Zeit zu Zeit wieder schmerzhaft. Wir sind sehr stolz
    auf unsere Kunst, wenn wir eine Heilung durch Psychoanalyse
    vollbracht haben, können aber einen solchen Ausgang in
    Bildung einer schmerzhaften Narbe auch nicht immer ab-
    wenden.

    Die kleine Erinnerungsreihe soll unsere Aufmerksamkeit
    noch ein wenig festhalten. Ich habe einmal behauptet, daß
    solche Kindheitsszenen ,,Deckerinnerungen“ sind, die zu einer
    späteren Zeit herausgesucht, zusammengestellt und dabei nicht
    selten verfälscht werden. Mitunter läßt sich erraten, welcher
    Tendenz diese späte Umarbeitung dient. In unserem Falle
    hört man geradezu das Ich der Schreiberin sich mittels dieser
    Erinnerungsreihe rühmen oder beschwichtigen: Ich war von
    klein auf ein besonders edles und mitleidiges Menschenkind.
    Ich habe frühzeitig erkannt, daß die Tiere ebenso eine Seele
    haben wie wir, und habe Grausamkeit gegen Tiere nicht ver-
    tragen. Die Sünden des Fleisches sind mir ferngeblieben und
    meine Keuschheit habe ich bis in spite Jahre bewahrt. Mit
    solcher Erklirung widerspricht sie laut den Annahmen, die
    wir auf Grund unserer analytischen Erfahrung über ihre frühe
    Kindheit machen müssen, daß sie voll war von vorzeitigen
    Sexualregungen und heftigen Hafregungen gegen die Mutter
    und die jüngeren Geschwister. (Das kleine Vôgelchen kann,
    außer der ihm zugewiesenen genitalen Bedeutung, auch die
    eines Symbols für ein kleines Kind haben, wie alle kleinen

  • S.

    Telepathie 349

    Tiere, und die Erinnerung betont so sehr aufdringlich die
    Gleichberechtigung dieses kleinen Wesens mit ihr selbst.) Die
    kurze Erinnerungsreihe gibt so ein hübsches Beispiel für eine
    psychische Bildung mit zweifachem Aspekt. Oberflichlich be-
    trachtet, gibt sie einem abstrakten Gedanken Ausdruck, der
    hier, wie meistens, sich auf Ethisches bezieht, sie hat nach
    V. Silberers Bezeichnung anagogischen Inhalt;
    bei tiefer eindringender Untersuchung erweist sie sich als eine
    Kette von Tatsachen aus dem Gebiet des verdrångten Trieb-
    lebens, sie offenbart ihren psychoanalytischen Ge-
    halt. Wie Sie wissen, hat Silberer, der als einer der
    ersten die Warnung an uns ergehen ließ, ja nicht an den
    edleren Anteil der menschlichen Seele zu vergessen, die Be-
    hauptung aufgestellt, daß alle oder die meisten Träume eine
    solche doppelte Deutung, eine reinere, anagogische, über der
    gemeinen, psychoanalytischen, zulassen. Dies ist nun leider
    niche der Fall; im Gegenteil, eine solche Uberdeutung gelingt
    recht selten; es ist auch meines Wissens bisher nicht ein brauch-
    bares Beispiel einer solchen doppeldeutigen Traumanalyse ver-
    5ffentlicht worden. Aber an den Assoziationsreihen, welche
    unsere Patienten in der analytischen Kur vorbringen, können
    Sie solche Beobachtungen relativ håufig machen. Die auf-
    einanderfolgenden Einfålle verkniipfen sich einerseits durch
    eine klar zutage liegende, durchlaufende Assoziation, andrer-
    seits werden Sie auf ein tieferliegendes, geheimgehaltenes
    Thema aufmerksam, welches gleichzeitig an all diesen Ein-
    fållen beteiligt ist, Der Gegensatz zwischen beiden in derselben
    Einfallsreihe dominierenden Themen ist nicht immer der von
    hoch-anagogisch und gemein-analytisch, eher der von an-
    stößig und anståndig oder indifferent, was Sie dann
    das Motiv får die Entstehung einer solchen Assoziationskette
    mit doppelter Determinierung leicht verstehen låft. In unserem
    Beispiel ist es natürlich kein Zufall, daß Anagogie und psycho-

  • S.

    350 Traum und

    analytische Deutung in so scharfem Gegensatze stehen; beide
    beziehen sich auf das nämliche Material und die spätere
    Tendenz ist gerade die der Reaktionsbildungen, die sich gegen
    die verleugneten Triebregungen erhoben hatten.

    Warum wir aber überhaupt nach einer psychoanalytischen
    Deutung suchen und uns nicht mit der näherliegenden anago-
    gischen begniigen? Das hångt mit vielerlei zusammen, mit der
    Existenz der Neurose überhaupt, mit den Erklärungen, die sic
    notwendig fordert, mit der Tatsache, daß die Tugend die
    Menschen nicht so froh und lebensstark macht, wie man
    erwarten sollte, als ob sie noch zuviel von ihrer Herkunft an
    sich trüge, — auch unsere Träumerin ist für ihre Tugend
    nicht recht belohnt worden — und mit manchem anderen,
    was ich gerade vor Ihnen nicht zu erörtern brauche.

    Wir haben aber bisher die Telepathie, die andere Deter-
    minante unseres Interesses an diesem Fall, ganz beiseite ge-
    lassen. Es ist Zeit, zu ihr zurückzukehren. Wir haben es hier
    in gewissem Sinne leichter als im Falle des Herrn G. Bei
    einer Person, der so leicht und schon in früher Jugend die
    Wirklichkeit entschwindet, um einer Phantasiewelt Platz zu
    machen, wird die Versuchung überstark, ihre telepathischen
    Erlebnisse und „Gesidhte“ mit ihrer Neurose zusammen-
    zubringen und aus dieser abzuleiten, wenngleich wir uns auch
    hier über die zwingende Kraft unserer Aufstellungen nicht
    täuschen dürfen. Wir setzen nur verständliche Möglichkeiten
    an die Stelle des Unbekannten und Unverständlichen.

    Am 22. August 1914, vormittags zehn Uhr, unterliegt die
    Schreiberin der telepathischen Wahrnehmung, daß ihr im
    Feld befindlicher Bruder „Mutter, Mutter!“ ausruft. Das
    Phänomen ist ein rein akustisches, wiederholt sich kurz nach-
    her, sie sieht aber nichts dabei. Zwei Tage später sieht sie
    ihre Mutter und findet sie schwer bedrückt, da sich der Junge
    bei ihr mit dem wiederholten Ausruf „Mutter, Mutter!“ an-

  • S.

    Telepathie 351
    LEN

    gemeldet. Sie erinnert sich sofort an die nämliche telepathische
    Botschaft, die ihr zur gleichen Zeit zuteil geworden, und
    wirklich läßt sich nach Wochen feststellen, daß der junge
    Krieger an jenem Tage zur bezeichneten Stunde gestorben ist.

    Es ist nicht zu beweisen, aber auch nicht abzuweisen, daß
    der Vorgang vielmehr der folgende war: Die Mutter macht
    ihr eines Tages die Mitteilung, daß sich der Sohn telepathisch
    bei ihr angezeigt. Sofort entsteht bei ihr die Überzeugung, sie
    habe um dieselbe Zeit das gleiche Erlebnis gehabt. Solche
    Erinnerungstäuschungen treten mit zwanghafter Stärke auf,
    die sie aus realer Quelle beziehen; sie setzen aber psychische
    Realität in materielle um. Das Starke an der Erinnerungs-
    täuschung ist, daß sie ein guter Ausdruck für die in der
    Schwester vorhandene Tendenz zur Identifizierung mit der
    Mutter werden kann. „Du sorgst dich um den Jungen, aber
    ich bin ja eigentlich seine Mutter. Also hat sein Ausruf mich
    gemeint, ich habe jene telepathische Botschaft empfangen."
    Die Schwester würde natürlich unseren Erklirungsversuch ent-
    schieden ablehnen und ihren Glauben an das eigene Erlebnis
    festhalten. Allein sie kann gar nicht anders; sie muß an die
    Realitit des pathologischen Erfolges glauben, solange ihr die
    Realität der unbewuften Voraussetzung unbekannt ist. Die
    Stärke und Unangreifbarkeit eines jeden Wahns führt sich
    ja auf seine Abstammung von einer unbewuften psychischen
    Realität zurück. Ich bemerke noch, das Erlebnis der Mutter
    haben wir hier nicht zu erklären und dessen Tatsichlichkeit
    nicht zu untersuchen.

    Der verstorbene Bruder ist aber nicht nur das imaginire
    Kind unserer Schreiberin, sondern er steht auch für einen
    schon bei der Geburt mit Haß empfangenen Rivalen. Weitaus
    die zahlreichsten telepathischen Ahnungen beziehen sich auf
    Tod und Todesmäglichkeit; den analytischen Patienten, die
    uns von der Hiufigkeit und Untriiglichkeit ihrer düsteren

  • S.

    352 Traum und

    Vorahnungen berichten, können wir mit ebensolcher Regel-
    mäfligkeit nachweisen, daß sie besonders starke unbewufte
    Todeswiinsche gegen ihre Nächsten im Unbewußten hegen und
    darum seit langem unterdrücken. Der Patient, dessen Ge-
    schichte ich 1909 in den „Bemerkungen über einen Fall von
    Zwangsneurose” erzählt, war ein Beispiel hiefür; er hieß bei
    seinen Angehörigen auch der ,Leichenvogel"; aber als der
    liebenswürdige und geistreiche Mann — der seither selbst im
    Kriege untergegangen ist — auf den Weg der Besserung kam,
    verhalf er mir selbst dazu, seine psychologischen Taschen-
    spieléreien aufzuhellen. Auch die im Brief unseres ersten
    Korrespondenten enthaltene Mitteilung, wie er und seine drei
    Brüder die Nachricht vom Tod ihres jüngsten Bruders als
    etwas innerlich längst Gewußtes aufgenommen, scheint keiner
    anderen Aufklärung zu bedürfen. Die älteren Brüder werden
    alle die gleiche Überzeugung von der Überflüssigkeit dieses
    jüngsten Ankömmlings bei sich entwickelt haben.

    Ein anderes „Gesicht“ unserer 'Tråumerin, dessen Ver-
    ståndnis vielleicht durch analytische Einsicht erleichtert wird!
    Freundinnen haben offenbar eine große Bedeutung für ihr
    Gefühlsleben. Der Tod einer derselben zeigte sich ihr kürzlich
    durch nächtliches Klopfen an das Bett einer Zimmerkollegin
    in der Heilanstalt an. Eine andere Freundin hatte vor vielen
    Jahren einen Witwer mit vielen (fünf) Kindern geheiratet.
    In deren Wohnung sah sie regelmäßig bei ihren Besuchen die
    Erscheinung einer Dame, in der sie die verstorbene erste Frau
    vermuten mußte, was sich zunächst nicht bestätigen ließ und
    ihr erst nach sieben Jahren durch die Auffindung einer neuen
    Photographie der Verstorbenen zur Gewißheit wurde. Diese
    visionäre Leistung steht in der nämlichen innigen Abhängigkeit
    von den uns bekannten Familienkomplexen der Schreiberin,
    wie ihre Ahnung vom Tode des Bruders. Wenn sie sich mit
    der Freundin identifizierte, konnte sie in deren Person ihre

  • S.

    Telepathie 353

    Wunscherfúllung finden, denn alle ältesten Töchter kinder-
    reicher Familien schaffen im Unbewuften die Phantasie, durch
    den Tod der Mutter die zweite Frau des Vaters zu werden.
    Wenn die Mutter krank ist oder stirbt, rückt die älteste
    Tochter wie selbstverständlich an ihre Stelle im Verhältnis
    zu den Geschwistern und darf auch beim Vater einen Teil der
    Funktionen der Frau übernehmen. Der unbewufite Wunsch
    erginzt hiezu den anderen Teil.

    Das ist nun bald alles, was ich Ihnen erzählen wollte. Ich
    könnte noch die Bemerkung hinzufügen, daß die Fille von
    telepathischer Botschaft oder Leistung, die wir hier besprochen
    haben, deutlich an Erregungen gekniipft sind, welche dem
    Bereich des Odipuskomplexes angehören. Das mag frappant
    klingen, ich möchte es aber nicht fiir eine große Entdeckung
    ausgeben. Wir wollen lieber zu dem Ergebnis zurückkehren,
    welches wir aus der Untersuchung des Traumes in unserem
    ersten Fall gewonnen haben. Die Telepathie hat mit dem
    Wesen des Traumes nichts zu tun, sie kann auch unser ana-
    lytisches Verständnis des Traumes nicht vertiefen. Im Gegen-
    teil kann die Psychoanalyse das Studium der Telepathie
    fordern, indem sie mit Hilfe ihrer Deutungen manche Un-
    begreiflichkeiten der telepathischen Phänomene unserem Ver-
    stindnis nåherbringt, oder von anderen, noch zweifelhaften
    Phänomenen erst nachweist, daß sie telepathischer Natur sind.

    Was von dem Anschein einer innigen Beziehung zwischen
    Telepathie und Traum übrigbleibt, ist die unbestrittene Be-
    ginstigung der Telepathie durch den Schlafzustand. Dieser ist
    zwar keine unumgångliche Bedingung fiir das Zustande-
    kommen telepathischer Vorgänge, — beruhen sie nun auf
    Botschaften oder auf unbewufter Leistung. Wenn Sie dies
    noch nicht wissen sollten, so muß das Beispiel unseres zweiten
    Falles, in dem der Junge sich zwischen neun und zehn Uhr
    vormittags anmeldet, es Sie lehren. Aber wir müssen doch

    Freud, Kleine Schriften zur Sexualtheorie 23

  • S.

    354 Zur Theorie und Praxis

    sagen, man hat kein Recht, telepathische Beobachtungen darum
    zu beanstinden, weil Ereignis und Ahnung (oder Botschaft)
    nicht zur gleichen astronomischen Zeit vorgefallen sind. Von
    der telepathischen Botschaft ist es sehr wohl denkbar, daß
    sie gleichzeitig mit dem Ereignis eintrifft und doch erst
    während des Schlafzustandes der nächsten Nacht — oder
    selbst im Wachleben erst nach einer Weile, während einer
    Pause der aktiven Geistestätigkeit — vom Bewußtsein wahr-
    genommen wird. Wir sind ja auch der Meinung, daß die
    Traumbildung nicht notwendigerweise erst mit dem Einsetzen
    des Schlafzustandes beginnt. Die latenten Traumgedanken
    mögen oft den ganzen Tag über vorbereitet worden sein, bis
    sie zur Nachtzeit den Anschluß an den unbewuften Wunsch
    finden, der sie zum Traum umbildet. Wenn das telepathische
    Phänomen aber nur eine Leistung des Unbewuften ist, dann
    liegt ja kein neues Problem vor. Die Anwendung der Gesetze
    des unbewuften Seelenlebens verstiinde sich dann für die Tele-
    pathie von selbst.

    Habe ich bei Ihnen den Eindruck erweckt, daß ich fiir die
    Realitit der Telepathie im okkulten Sinne versteckt Partei
    nehmen will? Ich würde es sehr bedauern, daß es so schwer
    ist, solchen Eindruck zu vermeiden. Denn ich wollte wirklich
    voll unparteiisch sein. Ich habe auch allen Grund dazu, denn
    ich habe kein Urteil, ich weiß nichts darüber.

    BEMERKUNGEN ZUR THEORIE UND
    PRAXIS DER TRAUMDEUTUNG
    (1923)

    Der zufällige Umstand, daß die letzten Auflagen der
    „Traumdeutung“ durch Plattendruck hergestellt wurden, ver-
    anlaßt mich, nachstehende Bemerkungen selbständig zu machen,