Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene 1895-005/1906
  • S.

    II.

    Über den psychischen Mechanismus hyste-
    rischer Phänomene.1)

    Von Dr. Josef Breuer und Dr. Sigm. Freud in Wien.

    I.

    Angeregt durch eine zufällige Beobachtung, forschen
    wir seit einer Reihe von Jahren bei den verschiedensten
    Formen und Symptomen der Hysterie nach der Veranlassung,
    dem Vorgange, welcher das betreffende Phänomen zum ersten
    Male, oft vor vielen Jahren, hervorgerufen hat. In der großen
    Mehrzahl der Fälle gelingt es nicht, durch das einfache, wenn
    auch noch so eingehende Krankenexamen, diesen Ausgangs-
    punkt klarzustellen, teilweise, weil es sich oft um Erlebnisse
    handelt, deren Besprechung den Kranken unangenehm ist,
    hauptsächlich aber, weil sie sich wirklich nicht daran erinnern,
    den ursächlichen Zusammenhang des veranlassenden Vorganges
    und des pathologischen Phänomens nicht ahnen. Meistens ist
    es nötig, die Kranken zu hypnotisieren und in der Hypnose
    die Erinnerungen jener Zeit, wo das Symptom zum ersten
    Male auftrat, wachzurufen; denn gelingt es, jenen Zusammen-
    hang aufs deutlichste und überzeugendste darzulegen.

    Diese Methode der Untersuchung hat uns in einer großen
    Zahl von Fällen Resultate ergeben, die in theoretischer wie
    in praktischer Hinsicht wertvoll erscheinen.

    In theoretischer Hinsicht, weil sie uns bewiesen
    haben, daß das akzidentelle Moment weit über das bekannte
    und anerkannte Maß hinaus bestimmend ist für die Pathologie

    1) „Neurologisches Centralblatt“, 1893, Nr. 1 u. 2. (Auch abgedruckt
    als Einleitung der »Studien über Hysterie«, 1895, in welchen J. Breuer
    und ich die hier dargelegten Anschauungen weiter ausgeführt und durch
    Krankengeschichten erläutert haben.)

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    15

    der Hysterie. Daß es bei „traumetischer“ Hysterie der
    Unfall ist, welcher das Syndrom hervorgerufen hat, ist ja
    selbstverständlich, und wenn bei hysterischen Anfällen aus
    den Äußerungen der Kranken zu entnehmen ist, daß sie in
    jedem Anfall immer wieder denselben Vorgang halluzinieren,
    der die erste Attake hervorgerufen hat, so liegt auch hier
    der ursächliche Zusammenhang klar zutage. Dunkler ist der
    Sachverhalt bei den anderen Phänomenen.

    Unsere Erfahrungen haben uns aber gezeigt, daß die
    verschiedensten Symptome, Welche für spontane,
    sozusagen idiopathische Leistungen der Hysterie
    gelten, in ebenso stringentem Zusammenhang mit
    dem veranlassenden Trauma stehen, wie die oben
    genannten, in dieser Beziehung durchsichtigen
    Phänomene. Wir haben Neuralgien wie Anästhesien der
    verschiedensten Art und von oft jahrelanger Dauer, Kontrak-
    turen und Lähmungen, hysterische Anfs'Jle und epileptoide
    Konvulsionen1 die alle Beobachter für echte Epilepsie gehalten
    hatten, Petit-mal und ticartige Afl'ectionen, dauerndes Er-
    brechen und Anorexie bis zur Nahrungsverweigerung, die
    verschiedensten Sehstb'rungen, immer wiederkehrende Gesichts—
    halluzinationen u. dgl, m. auf solche veranlassende Momente
    zurückfiihren können, Das Mißverhä'ltnis zwischen dem jahre—
    lang dauernden hysterischen Symptom und. der einmaligen
    Veranlassung ist dasselbe, wie wir es bei der traumatisehen
    Neurose regelmäßig zu sehen gewohnt sind; ganz häufig sind
    es Ereignisse aus der Kinderzeit, die fiir alle folgenden Jahre
    ein mehr oder minder schweres Krankheitsphänozueu herge—
    stellt haben.

    Oft ist der Zusammenhang so klar, daß es vollständig er-
    sichtlich ist, wieso der veranlassende Vorfall eben dieses und
    kein anderes Phänomen erzeugt hat. Diese: ist dann durch die
    Veranlassung in völlig klarer Weise determiniert. So, um das
    banalste Beispiel zu nehmen, wenn ein schmerzhcher Afl'ekt,
    der während des Essens entsteht, aber unterdrückt wird, dann
    Übelkeit und Erbrechen erzeugt, und dieses als hysterisches Er-
    brechen monetelang andauert. — Ein Mädchen, das in quelvoller
    Angst an einem Krankenbette wacht, verfällt in einen Dämmer-

  • S.

    16

    zustand und hat eine schreckhafte Helluzination, Während ihr
    der rechte Arm, über der Sessellehne hängend, einschläft; es
    entwickelt sich daraus eine Parese dieses Armee niit Kon—
    traktur und Anästhesie. Sie will beten und findet keine Worte;
    endlich gelingt es ihr, ein englisches Kindergehet zu sprechen.
    Als sich später eine schwere, höchst komplizierte Hysterie
    entwickelt, spricht, schreibt und versteht sie nur englisch,
    während ihr die Muttersprache durch 1‘/„ Jahre unverständ-
    lich ist, _ Ein schwerkrenkes Kind ist endlich eingeschlai'en,
    die Mutter spannt alle W'illenskraft an, um sich ruhig zu
    verhalten und es nicht zu wecken; gerade infolge dieses
    Vorsatzes macht sie („hysterischer Gegenwillel“) ein schnalzen-
    des Geräusch mit der Zunge. Dieses wiederholt sich später
    bei einer anderen Gelegenheit, wobei sie sich gleichfalls absolut
    ruhig verhalten will, und es entwickelt sich daraus ein Tic,
    der als Zungenschnalzen durch viele Jahre jede Aufregung
    begleitet. ‚ Ein hochintelligenter Mann assistiert, während
    seinem Bruder des ankylosierte Hüftgelenk in der Narkose
    gestreckt wird. Im Augenblick, wo das Gelenk krechend
    nachgibt, empfindet er heftigen Schmerz im eigenen Hüft-
    gelenk, der fast ein Jahr andauert u. dgl. m.

    In anderen Fällen ist der Zusammenhang nicht so ein—
    fach; es besteht nur eine sozusagen symbolische Beziehung
    zwischen der Veranlassung und dem pathologischen Phänomen,
    wie der Gesunde sie Wohl auch im Traume bildet: wenn
    etwa zu seelischem Schmerze sich eine Neuralgie gesellt oder
    Erbrechen zu dem Afl'ekt moralischen Ekels. Wir haben &anke
    studiert, welche von einer solchen Symbolisierung den aus-
    giebigsten Gebrauch zu machen pflegten. — In noch anderen
    Fällen ist eine derartige Determ'mation zunächst nicht dem
    Verständnis offen; hierher gehören gerade die typischen hyste-
    Tischen Symptome, wie Hemianästhesie und Gesichtsfeldein-
    engung, epileptiforme Konvulsionen u. dgl. Die Darlegung
    unserer Anschauungen über diese Gruppe müssen Wir der aus-
    fiihrlicheren Besprechung des Gegenstandes vorbehalten.

    Solche Beobachtungen scheinen uns die pa-
    thogene Analogie der gewöhnlichen Hysterie mit
    .der traumatischen Neurose nachzuweisen und eine

  • S.

    17

    Ausdehnung des Begriffes der „traumatischen
    Hysterie“ zu rechtfertigen. Bei der traumatischen Neu—
    rose ist ja nicht die geringfügige körperliche Verletzung die
    wirksame Krankheitsursache, sondern der Schreckefi'ekt, das
    psychische Trauma. In analoger Weise ergeben sich aus
    unseren Nachforschungen für viele, wenn nicht fiir die meisten
    hysterischen Symptome Anlässe, die man als psychische Traumen
    bezeichnen muß. Als solches kann jedes Erlebnis Wirken,
    welches die peinlichen Aii'ekte des Sehreckens, der Angst,
    der Scham, des psychischen Schmerzes hervorruft, und es hängt
    hegreiflicherweise von der Empfindlichkeit des betrefl‘enen
    Menschen (sowie von einer später zu erwähnenden Bedingung)
    ab, ob das Erlebnis als Trauma zur Geltung kommt. Nicht
    selten finden sich anstatt des einen großen Traumas bei der
    gewöhnlichen Hysterie mehrere Partialtraumen‚ gruppierte
    Anlässe, die erst in ihrer Summierung traumetisohe Wirkung
    äußern konnten, und die insofern zusammengehören, als sie
    zum Teil Stücke einer Leidensgeschichte bilden. In noch
    anderen Fällen sind es an sich scheinbar gleichgültige Umstände,
    die durch ihr Zusammentreffen mit dem eigentlich wirksamen
    Ereignis oder mit einem Zeitpunkt besonderer Reizbarkeit
    eine Dignit'a't als Traumen gewonnen haben, die ihnen sonst
    nicht zuzumuten Wäre, die sie aber von de. an behalten,
    Aber der kausale Zusammenhang des veranlassenden
    psychischen Traumas mit dem hysterischen Phänomen ist
    nicht etwa von der Art, daß das Trauma als Agent provocateur
    das Symptom auslösen wurde, Welches dann, selbständig ge-
    worden, weiter bestände. Wir müssen vielmehr behaupten,
    daß das psychische Trauma, respektive die Erinnerung an
    dasselbe, nach Art eines Fremdkörpers wirkt, welcher noch
    lange Zeit nach seinem Eindringen als gegenwärtig wirkendes
    Agens gelten muß, und wir sehen den Beweis hiefiir in einem
    höchst merkwürdigen Phänomen, welches zugleich unseren
    Befunden ein bedeutendes pr ak tis c h e s Interesse verschafl't.
    Wir fanden nämlich, anfangs zu unserer größten Über-
    raschung, daß die einzelnen hysterisohen Symptome
    sogleich und ohne Wiederkehr verschwanden,
    wenn es gelungen war, die Erinnerung an den ver—

    r un d, Neuronnlehre. 2

  • S.

    18

    anlassenden Vorgang zu voller Helligkeit zu er-
    wecken, damit auch den begleitenden Affekt
    wachzurufen, und wenn dann der Kranke den Vor—
    gang in möglichst ausführlicher Weise schilderte
    und dem Affekt Worte gab. Affektloses Erinnern ist fast
    immer völlig wirkungslos; der psychische Prozeß, der ur—
    sprünglich abgelaufen war, muß so lebhaft als möglich wiedere
    holt, in statum nasoendi gebracht und dann „ausgesprochen“
    werden. Dabei treten, wenn es sich um Reizerscheinungen
    handelt, diese: Krämpfe, I\Iei.i_rii.lgienY Halluzinationen —— noch
    einmal in voller Intensität auf und schwinden dann für immer.
    Funktionsausfälle, Lähmung-en und Anästhesien schwinden
    ebenso, natürlich ohne daß ihre momentane Steigerung deut-
    lich wäre!)

    Der Verdacht liegt nahe, es handle sich dabei um eine
    unbeabsichtigte Suggestion; der Kranke erwarte, durch die
    Prozedur von seinem Leiden befreit zu werden, und diese Er-
    wartung, nicht das Aussprechen selbst, sei der wirkende Faktor.
    Allein, dem ist nicht so; die erste Beobachtung dieser Art,
    bei welcher ein höchst verwickelter Fall von Hysterie auf
    solche Weise analysiert und die gesondert verursachten Symp—
    tome auch gesondert behoben Wurden, stammt aus dem
    Jahre 1881, also aus „vorsuggestiver“ Zeit, wurde durch
    spontane Autohypnosen der Kranken enoöglicht und bereitete
    dem Beobachter die größte Überraschung.

    In Umkehrung des Satzes: cessante cause, cessat efl'ectus,
    dürfen wir wohl aus diesen Beobachtungen schließen: der

    1) Die Möglichkeit einer solchen Therapie haben Delboeuf und
    Binet klar erkannt, wie die beifulgenden Zitate zeigen: Del.bueuf7 Le
    magnétisme animal, Paris 1889: „On s‘expliquerait des lors comment le mag
    nétiseur side &, la guérison. Il Telnet le sujet dans l'état ou la mal s’est
    manifesté et combat par la puole le möme mu), mais renaissant.“—
    Einst, Les altérations de la personnalité‚ 1392, p. 24.5: „ _ _ . peutétre
    verraten qu‘en reportant le malade par im artifioe mental, an moment
    méme mi le symptöme a appa.ru pour la premiére fais, on rend oe malade
    plus docile u une suggestion curative.“ _ In dem interessanten Buche
    von P. Janet: L'antumatisme psychologique, Paris 1889, findet sich die
    Beschreibung einer Heilung, welche bei einem hysterischen Mädchen

    durch Anwendung eines dem unser-igen analogen Verfahren erzielt
    wurde.

  • S.

    19

    veranlassende Vorgang wixke in irgend einer Weise noch
    nach Jahren fort, nicht indirekt durch Vermittlung einer Kette
    von kunselen Zwischengliedern, sondern unmittelbar als aus—
    lösende Ursache, wie etwa. ein im Wachen Bewußtsein er—
    innerter psychischer Schmerz noch in später Z eit die Tränen-
    sekretion hervorruft: der Hysterische leide größten—
    teils an Reminiezenzen.‘)

    II.

    Es erscheint zunächst wunderlich, daß längst vergangene
    Erlebnisse so intensiv Wirken sollen, daß die Erinnerungen
    an sie nicht der Usur unterliegen sollen, der wir doch alle
    unsere Erinnerungen verfallen sehen. Vielleicht gewinnen
    wir durch folgende Erwägungen einiges Verständnis für diese
    Tatsachen.

    Des Verblassen oder Aif'ektloswerden einer Erinnerung
    hängt von mehreren Faktoren ab. Vor allem ist dafür von
    Wichtigkeit, ob auf des effizierende Ereignis ener-
    gisch reagiert wurde oder nicht. Wir verstehen hier
    unter Reaktion die ganze Reihe willkürlicher und unwillkür-
    licher Reflexe, in denen sich erfahrungsgemäß die A.€fekte
    entladen: vorn Weinen bis zum Recheekt. Erfolgt diese
    Reaktion in genügendern Ausmaß, so schwindet dadurch ein
    großer Teil des Afi'ektes; unsere Sprache bezeugt diese Tat—
    sache der täglichen Beobachtung durch die Ausdrücke „sich
    euetoben, ausweinen“, u. dgl, Wird die Reaktion unterdrückt,
    so bleibt der Afl'ekt mit der Erinnerung Verbunden. Eine
    Beleidigung, die vergolten ist, wenn auch nur durch Worte,
    wird anders erinnert, als eine, die hingenomrnen werden mußte.
    Die Sprache enerkennt auch diesen Unterschied in den psy«
    chischen und körperlichen Folgen und bezeichnet höchst
    charakteristischerweise eben das schweigend erduldete Leiden

    1) Wir können im Texte dieser vorläufigen Mitteilung nicht sondern,
    Was am Inhalte derselben neu ist und was sich bei anderen Autoren,
    wie Mcebius und Strümpell, findet, die ähnliche Anschauungen für
    die Hysterie vertreten haben. Die größte Annäherung an unsere theme
    tischen und therapeutischen Ausführungen fanden wir in einigen gelegenv
    lich publizierten Bemerkungen Benedikt’s, mit denen wir uns an

    anderer Stelle beschäftigen werden.
    2;

  • S.

    20

    als „Kränkung“. — Die Reaktion des Geschädigten auf das
    Trauma hat eigentlich nur dann eine völlig „kathartische“
    Wirkung, wenn sie eine adäquate Reaktion ist, wie die Rache.
    Aber in der Sprache findet der Mensch ein Surrogat fur die
    Tat, mit dessen Hilfe der Afi’ekt nahezu ebenso „abreagiert“
    werden kann. In anderen Fällen ist das Reden eben selbst
    der adäquate Reflex, als Klage und als Aussprache fiir die
    Pain eines Geheimnisses (Beiehtel). Wenn solche Reaktion
    durch Tat, Worte, in leichtesten Fällen durch Weinen nicht
    erfolgt, so behält die Erinnerung an den Vorfall zunächst
    die afl’ektive Betonung.

    Das „Abreeg'ieren“ ist indes nicht die einzige Art der
    Erledigimg, Welche dem normalen psychischen Mechanismus
    des Gesunden zur Verfügung steht, wenn er ein psychisches
    Trauma erfahren hat. Die Erinnerung daran tritt, auch wenn
    sie nicht abreagiert wurde, in den großen Komplex der
    Assoziation ein, sie rangiert dann neben anderen, vielleicht
    ihr widersprechenden Erlebnissen, erleidet eine Korrektur
    durch andere Vorstellungen. Nach einem Unfall zum Beispiel
    gesellt sich zu der Erinnerung an die Gefahr und zu der
    (abgeschwächten) Wiederholung des Schreckens die Erinnerung
    des weiteren Verlaufes, der Rettung, das Bewußtsein der
    jetzigen Sicherheit. Die Erinnerung an eine Kräukung wird
    korrigiert durch Richtigstellung der Tatsachen, durch Erwä—
    gungen der eigenen Würde u. dgl., und so gelingt es dem
    normalen Menschen, durch Leistungen der Assoziation den
    begleitenden Afi'ekt zum Verschwinden zu bringen.

    Dazu tritt dann jenes allgemeine Verwischen der Ein-
    drücke, jenes Abblassen der Erinnerungen, welches wir „ver—
    gessen“ nennen und das vor allem die effektiv nicht mehr
    wirksamen Vorstellungen usuriert.

    Aus unseren Beobachtungen geht nun hervor, daß jene
    Erinnerungen, welche zu Veranlassungen hysterischer Phäno—
    mene geworden sind, sich in Wunderbarer Frische und mit
    ihrer vollen Afi'ektbetonung durch lange Zeit erhalten haben,
    Wir müssen aber als eine weitere aufi‘ällige und spüterhin
    verwertbare Tatsache erwähnen, daß die Kranken nicht etwa
    über diese Erinnerungen wie über andere ihres Lebens ver—

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    21

    fügen. Im Gegenteile, diese Erlebnisse fehlen dem
    Gedächtnis der Kranken in ihrem gewöhnlichen
    psychischenZuetande völlig oder sind nur höchst
    summarisch darin vorhanden, Erst wenn man die
    Kranken in der Hypnose befragt, stellen sich diese Erinne-
    rungen mit der unverminderten Lehhaftigkeit frischer Ge-
    schehnisse ein

    So reproduzierte eine unserer Kranken in der Hypnose
    ein halbes Jahr hindurch mit halluzinatorischer Lebhaftigkeit
    alles, was sie an denselben Tagen des vorhergegangenen
    Jahres (während einer akuten Hysterie) erregt hatte; ein ihr
    unbekanntes Tagebuch der Mutter bezeugte die tadellose
    Richtigkeit der Reproduktion. Eine andere Kranke durchlebte
    teils in der Hypnose, teil in spontanen Anfällen mit halluzi—
    natoriseher Deutliehkeit alle Ereignisse einer vor 10 Jahren
    durchgernachten hysterisehen Psychose, für Welche sie bis
    zum Momente des Wiederaufbauehens größtenteils anlnestisch
    gewesen war. Auch einzelne ätiologiseh wichtige Erinnerungen
    von 15—25jährigem Bestande erwiesen sich bei ihr von er<
    staunlicher Intektheit und sinnlicher Stärke und wirkten bei
    ihrer Wiederkehr mit der vollen Aflektkraft neuer Erlebnisse.

    Den Grund hierfür können wir nur darin suchen, daß
    diese Erinnerungen in allen oben erörterten Beziehungen zur
    Usur eine Ausnahmsstellung einnehmen. Es zeigt sich
    nämlich, daß diese Erinnerungen Traumen ent-
    sprechen, Welche nicht genügend „abreagiert“
    werden sind, und bei näheer Eingehen auf die Gn‘inde‚
    welche dieses verhindert haben, können wir mindestens zwei
    Reihen von Bedingungen auffinden, unter denen die Reaktion
    auf das Trauma unterblieben ist.

    Zur ersten Gruppe rechnen wir jene Fälle, in denen die
    Kranken auf psychische 'I‘raumen nicht reagiert haben, Weil
    die Natur des Traumas eine Reaktion ausschloß, wie beim
    unersetzlieh erscheinenden Verlust einer geliebten Person,
    oder Weil die sozialen Verhältnisse eine Reaktion unmöglich
    machten, oder Weil es sich um Dinge handelte, die der Kranke
    vergessen wolte, die er darum absichtlich aus seinem bewußten
    Denken ver-drängte, hemmte und unterdrückte. Gerade solche

  • S.

    22

    peinliche Dinge findet man dann in der Hypnose als Grund«
    lage hysterischer Phänomene (hysterische Delirien der Heiligen
    und Nonnen, der enthaltsarnen Frauen, der Wohlerzogenen
    Kinder)

    Die zweite Reihe von Bedingungen wird nicht durch
    den Inhalt der Erinnerungen, sondern durch die psychischen
    Zustände bestimmt, mit welchen die entsprechenden Erlebnisse
    beim Kranken zusammengetrofl‘e‘n haben. Als Veranlassung
    hysteriseher Symptome findet man nämlich in der Hypnose
    auch Vorstellungen, Welche, an sich nicht hedeutungsvoll,
    ihre Erhaltung dem Umstande danken, daß sie in schweren
    lähmenden Afi‘ekten, wie zum Beispiel Schreck, entstanden
    sind, oder direkt in abnormen psychischen Zuständen wie
    im halbhypnotischen Dämmerzustand des Wachträumens, in
    Autohypnosen u. dgl. Hier ist es die Natur dieser Zustände,
    Welche eine Reaktion auf das Geschehnis unmöglich machte.

    Beiderlei Bedingungen können natürlich auch zusammen-
    trefl‘en und treffen in der Tat oft zusammen. Dies ist der
    Fall, wenn ein an sich wirksames Trauma in einen Zustand
    von schwerem lähmenden Afl'ekt oder von verändertem Be-
    wußtsein fällt; es scheint aber so zuzugehen, daß durch das
    psychische Trauma bei vielen Personen einer jener abnormen
    Zustände hervorgerufen wird, welcher dann seinerseits die
    Reaktion unmöglich macht.

    Beiden Gruppen von Bedingungen ist aber gemeinsam,
    daß die nicht durch Reaktion erledigten psychischen Traumen
    auch der Erledigung durch assoziative Verarbeitung cntbehren
    müssen. In der ersten Gruppe ist es der Vorsatz der Kranken,
    welcher an die peinlichen Erlebnisse vergessen Will und die—
    selben somit möglichst von der Assoziation ausschließt. In
    der zweiten Gruppe gelingt diese assoziative Verarbeitung
    darum nicht, weil zwischen dem normalen Bewußtseinszustand
    und den pathologischen, in denen diese Vorstellungen ent—
    standen sind, eine ausgiebige assoziative Verknüpfung nicht
    besteht. Wir werden sofort Anlaß haben, auf diese Verhält-
    nisse weiter einzugehen.

    Man darf also sagen, daß die pathogen ge-
    wordenen Vorstellungen sich darum so frisch

  • S.

    23

    und effektkräftig erhalten, weil ihnen die nor-
    male Usur durch Abreagieren und durch Repro—
    duktion in Zuständen ungeheminter Assoziation
    v e r s e g t i s t.

    DI.

    Als wir die Bedingungen mitteilten, welche nach unseren
    Erfahrungen dafür maßgebend sind, daß sich aus psychischen
    Traumen hysterischs Phänomene entwickeln, mußten wir be-
    reits von ahnorlnen Zuständen des Bewußtseins sprechen, in
    denen solche pathogene Vorstellungen entstehen, und mußten
    die Tatsache hervorheben, daß die Erinnerung an das wirk-
    same psychische Trauma nicht im normalen Gedächtnis des
    Kranken, sondern im Gedächtnis des Hypnetisierten zu finden
    ist. Je mehr wir uns nun mit diesen Phänomenen beschäftigten,
    desto sicherer wurde unsere Überzeugung, je 11 e Sp altung d e s
    Bewußtseins, die beiden ]) ekannten klassischen
    Fällen als double conscience so auffällig ist, b e—
    stehe in rudimentärer Weise bei jeder Hysterie,
    die Neigung zu dieser Dissoziation und damit
    zum Auftreten abnormer Bewußtseinszustände,
    die wir als „hypnoide“ zusammenfassen wollen,
    sei das Grundphänomen dieser Neurose. Wir treffen
    in dieser Anschauung mit B in e t und den beiden ‚T a n e t
    zusammen, über deren höchst merkwürdige Befunde bei
    Anästhetischen uns übrigens die Erfahrung mangelt.

    Wir möchten also dem. oft ausgesprochenen Satz : „Die
    Hypnose ist artefizielle Hysterie“ einen anderen an die Seite
    stellen : Grundlage und Bedingung der Hysterie ist die
    Existenz von hypnoiden Zuständen. Diese hypnoiden Zustände
    stimmen bei aller Verschiedenheit unter einander und mit der
    Hypnose in dem einen Punkte überein, daß die in ihnen auf-
    tauchenden Vorstellungen sehr intensiv, aber von dem Asso-
    ziativverkehr mit dem übrigen Bewußtseinsinhslt abgeperrt
    sind. Unter einander sind diese hypnoiden Zustände assoziierbar
    und deren Vorstellungsinhalt mag auf diesem Wege ver-
    schieden hohe Grade von psychischer Organisation erreichen.
    Im übrigen diirfi;e j a. die Natur dieser Zustände und. der
    Grad ihrer Abschließung von den übrigen Bewußtseinsvor-

  • S.

    24

    gängen in ähnlicher Weise variieren, wie wir es bei der
    Hypnose sehen, die sich von leichter Somnolenz bis zum
    Somnambulismus‚ von der vollen Erinnerung bis zur absoluten
    Amnesie erstreckt.

    Bestehen solche hypnoicle Zustände schon vor der mani—
    festen Erkrankung, so geben sie den Boden ab, auf welchem
    der Afl'ekt die pathogene Erinnerung mit ihren sometisehen
    Folgeerscheinungen ansiedelt. Dies Verhalten entspricht der
    disponierten Hysterie. Es ergibt sich aber aus unseren Be-
    obachtungen, daß ein schweres Trauma (wie das der trau—
    matischen Neurose), eine mühevol.le Unterdrückung (etwa des
    Sexualafi'ektes) auch bei dem sonst freien Menschen eine
    Abspaltung von Vorstellungsgruppen bewerkstelligen kann,
    und dies wäre der Mechanismus der psychisch acquirierten
    Hysterie. Zwischen den Extremen dieser beiden Formen muß
    man eine Reihe gelten lassen, innerhalb Welcher die Leichtig»
    keit der Dissoziation bei dem betrefi'enden Individuum und
    die Affektgröße des Traumas in entgegengesetztem Sinne
    variieren.

    Wir wissen nichts neues darüber zu sagen, Worin die
    disponierenden hypnoiden Zustände begründet sind. Sie ent—
    wickeln sich oft, sollten wir meinen, aus dem auch bei Ge-
    sunden so häufigen „Tegträurnen“, zu dem zum Beispiel die
    weiblichen Handarbeiten so viel Anlaß bieten, Die Frage,
    weshalb die „pathologischen Assoziationen“, die sich in
    solchen Zuständen bilden, so feste sind und die sometischen
    Vorgänge so viel stärker beeinflussen, als wir es sonst von
    Vorstellungen gewohnt sind, fällt zusammen mit dem Problem
    der Wirksamkeit hypnctischer Suggestionen überhaupt. Unsere
    Erfahrungen bringen hierüber nichts neues, sie beleuchten
    dagegen den Widerspruch zwischen dem Satz: „Hysterie ist
    eine Psychose“, und der Tatsache, dell man unter den Hyste—
    rischen die geistig klersten‚ Willensstärksten‚ eharaktervollsten
    und kritischesten Menschen finden kann, In diesen Fällen ist
    solche Charakteristik richtig für das wache Denken des
    Menschen, in seinen hypnoiden Zuständen ist er alieniert,
    wie wir es alle im Traum sind. Aber während unsere Traum—
    psychosen unseren Wachzustand nicht beeinflussen, ragen die

  • S.

    25

    Produkte der hypnoiden Zustände als hysterische Phänomene
    ins Wache Leben hinein.
    IV.

    Fast die nämlichen Behauptungen, die wir für die hyste-
    n'sehenbauersymptome aufgestellt haben, können wir auch
    für die hysterisehen Anfälle wiederholen. Wir besitzen, wie
    bekannt, eine von Charcot gegebene schematische Be—
    schreibung des „großen“ hysterischen Anfalles, Welcher zu-
    folge ein vollständiger Anfall vier Phasen erkennen läßt,
    1. die epileptoide, 2. die der großen Bewegungen, 3. die der
    attitudes passionnelles (die halluzinatorische Phase), 4. die
    des abschließenden Deliriums. Aus der Verkürzung und Ver—
    längerung, dem Ausfall und der Isolierung der einzelnen
    Phasen läßt Charcot alle jene Formen des hysterischen
    Anfalles hervorgehen, die man tatsächlich häufiger als die
    vollständige Grande attaque beobachtet.

    Unser Erklärungsversuch knüpft an die dritte Phase, die
    der attitudes passionelles an. Wo dieselbe ausgeprägt ist,
    liegt in ihr die halluzinatorische Reproduktion einer Erinnerung
    bloß, welche für den Ausbruch der Hysterie bedeutsam wer,
    die Erinnerung an das eine große Trauma. der xnn'äEax-‘nv so—
    genannten traumatischen Hysterie oder an eine Reihe von
    zusemmengehörigen Pertialtraumen, wie sie der gemeinen
    Hysterie zugrunde liegen. Oder endlich der Anfall bringt
    jene Geschehnisse wieder, welche durch ihr Zusammentreffen
    mit einem Moment besonderer Disposition zu Traumen erhoben
    werden sind.

    Es gibt aber auch Anfülle, die anscheinend nur aus
    motorischen Phänomenen bestehen, denen eine phase passionelle
    fehlt. Gelingt es bei einem solchen Anfall von allgemeinen
    Zuckungen, katsleptischer Starre oder bei einer attaque de
    sommeil sich Während desselben in Rapport mit dem Kranken
    zu setzen, oder noch besser, gelingt es, den Anfall in der
    Hypnose hervorzuxui‘en, so findet man, daß auch hier die
    Erinnerung an des psychische Trauma oder an eine Reihe
    von Traumen zugrunde liegt, die sich sonst in einer hallu—
    zinatorischen Phase auffällig macht. Ein kleines Mädchen
    leidet seit Jahren an Anfällen von allgemeinen Krämpfen,

  • S.

    26

    * die man fiir epileptisehe halten könnte und auch gehalten hat.

    \ Sie wird zum Zwecke der Difl’erentialdiagnose hypnotisiert
    und verfällt sofort in ihren Anfall. Beiä'agt: Was siehst Du

    , denn jetzt? antwortet sie aber: Der Hund, der Hund kommt!

    ‘ Und wirklich ergibt sich, daß der erste Anfall dieser Art
    nach einer Verfolgung durch einen wilden Hund aufgetreten
    war. Der Erfolg der Therapie vervollständigt dann die diag-
    nostische Entscheidung.

    Ein Angestellter, der infolge einer Mißhandlung von
    seiten seines Chefs hyster'isch geworden ist, leidet an Anfällen,
    in denen er zusammenstürzt, tobt und wütet, ohne ein Wort
    zu sprechen oder eine Halluzination zu verraten. Der An-
    fall läßt sich in der Hypnose provozieren und der Kranke
    gibt nun an, daß er die Szene wieder durchlebt, wie der
    Herr ihn auf der Straße beschimpft und mit einem Stock
    schlägt. Wenige Tage später kommt er mit der Klage Wi9d8r‚
    er habe denselben Anfall von neuem gehabt, und diesmal
    ergibt sich in der Hypnose, daß er die Szene durchlebt hat,
    an die sich eigentlich der Ausbruch der Krankheit knüpfte,
    die Szene im Gerichtssaal, als es ihm nicht gelang, Satisfak-
    tion für die Mißhandlung zu erreichen usw.

    Die Erinnerungen, welehe in den hysterisehen Anfällen
    hervortreten oder in ihnen geweckt werden können, entsprechen
    auch in allen anderen Stücken den Anlässen, Welche sich uns
    als Gründe hysterischer Dauersymptome ergeben haben. Wie
    diese, betreffen sie psychische'l‘raumen, die sich der Erledigung
    durch Abreagieren oder durch assoziative Denkarbeit entzogen
    haben; wie diese, fehlen sie gänzlich oder mit ihren Wesent—
    lichen Bestandteilen dern Erinnerungsvermögen des normalen
    Bewußtseins und zeigen sich als zugehörig zu dem Vorstellungs-
    inhalt hypnoider Bewußtseinsznstände mit eingeschränkter
    Assoziation. Endlich gestatten sie auch die therapeutische
    Probe Unsere Beobachtungen haben uns oftmals gelehrt,
    daß eine solche Erinnerung, die bis dahin Anfälle provoziert
    hatte, dazu unfähig wird, wenn man sie in der Hypnose zur
    Reaktion und assoziativen Korrektur bringt,

    Die motorischen Phänomene des hysterisehen Anfailes
    lassen sich zum Teil als allgemeine Reaktionsformen des die

  • S.

    27

    Erinnemng begleitenden Affektes, Wie das Zappeln mit
    allen Gliedern, dessen sich bereits der Säugling bedient, zum
    Teil als direkte Ausdrucksbeweglmgen dieser Erinnerung
    deuten, zum anderen Teil entziehen sie sich ebenso wie
    die bysterischen Stigmata bei den Dauersymptomen dieser
    Erklärung.

    Eine besondere Würdigung des hysterischen Anfalles
    ergibt sich noch, wenn man auf die vorhin engedeutete Theorie
    Rücksicht nimmt, daß bei der Hysterie in hypnoiden Zuständen
    entstandene Vorstellungsgruppen vorhanden sind, die, vom
    assoziativen Verkehr mit den übrigen ausgeschlossen, aber
    unter einander assoziierbar, ein mehr oder minder hoch
    organisiertes Rudiment eines zweiten Bewußtseins, einer con-
    dition seconde darstellen. Dann entspricht ein hysterisohes
    Dauersymptom einem Hineinragen dieses zweiten Zustandes
    in die sonst vom normalen Bewußtsein beherrschte Körper-
    innervation; ein hysterischer Anfall zeugt aber von einer
    höheren Organisation dieses zweiten Zustandes und bedeutet,
    wenn er frisch entstanden ist, einen Moment, in dem sich
    dieses Hypnoidbewußtsein der gesamten Existenz bemächtigt hat,
    also einer akuten Hysterie; wenn es aber ein wiederkehrender
    Anfall ist, der eine Erinnerung enthält, einer Wiederkehr
    eines solchen. Charcot hat bereits den Gedanken aus-
    gesprochen, daß der hysterische Anfall das Rudiment einer
    condition secondo sein dürfte. Während des Anfalles ist die
    Herrschaft über die gesamte Körperinnervation auf das hyp-
    noide Bewußtsein übergegangen. Das normale Bewußtsein
    ist, wie bekannte Erfahrungen zeigen, dabei nicht immer
    völlig verdrängt, es kann selbst die motorischen Phänomene
    des Anfalles wahrnehmen, Während die psychischen Vorgänge
    desselben seiner Kenntnisnahme entgehen.

    Der typische Verlauf einer schweren Hysterie ist be-
    kanntlich der, daß zunächst in hypnoiden Zuständen ein Ver-
    stellungsinhalt gebildet wird, der denn, genügend angewachsen,
    sich wiihrend einer Zeit von „akuter Hysterie“ der Körper-
    innervation und der Existenz des Kranken bemächtigt, Dauer-
    symptome und Anfälle schafl't und dann bis auf Reste abheilt.
    Kann die normale Person die Herrschaft wieder übernehmen,

    “__—.

  • S.

    28

    so kehrt das, Was von jenem hypnoiden Vorstellungsinhslt
    überlebt hat, in hysterischen Anfällen wieder und bringt die
    Person zeitweise wieder in ähnliche Zustände, die selbst
    Wieder beeinflußbar und fiir Traumen aufnahmsfabig sind.
    Es stellt sich dann häufig eine Art von Gleichgewicht zwischen
    den psychischen Gruppen her, die in derselben Person ver-
    einigt sind; Anfall und normales Leben gehen neben einander
    her, ohne einander zu beeinflussen. Der Anfall kommt dann
    spontan, wie auch bei uns die Erinnerungen zu kommen
    pflegen, er kann aber auch provoziert werden, wie jede Er-
    innerung nach den Gesetzen der Assoziation zu erwecken
    ist. Die Provokation des Anfalles erfolgt entweder durch die
    Reizung einer hysterogenen Zone oder durch ein neues Er-
    lebnis, Welches durch Ähnlichkeit an das pathogene Erlebnis
    anklingt. Wir hoffen zeigen zu können, daß zwischen beiden
    anscheinend so verschiedenen Bedingungen ein wesentlicher
    Unterschied nicht besteht, daß in beiden Fällen an eine hyper—
    ästhetische Erinnerung gerührt wird. In anderen Fällen ist
    dieses Gleichgewicht ein sehr labiles, der Anfall erscheint
    als Äußerung des hypnoiden Bewßtseinsrestes, so oft die
    normale Person erschöpft und leistungsunfiihig wird. Es ist
    nicht von der Hand zu weisen, daß in solchen Fällen auch
    der Anfall seiner ursprünglichen Bedeutung entkleidet als
    inhaltslose motorische Reaktion wiederkehren mag.

    Es bleibt eine Aufgabe Weiterer Untersuchung, Welche
    Bedingungen dafür maßgebend sind, ob eine hysterische In—
    dividualität sich in Anfa'llen, in Dauersymptomen oder in
    einem Gemenge von beiden äußert.

    V.

    Es ist nun verständlich, Wieso die hier von uns der-
    gelegte Methode der Psychotherapie heilend wirkt. Sie hebt
    die Wirksamkeit der ursprünglich nicht ebrea-
    gierten Vorstellung dadurch auf, daß sie dem ein—
    geklemmten Affekte derselben den Ablauf durch
    die Rede gestattet, und bringt sie zur assozie-
    tiven Korrektur, indem sie dieselbe ins normale
    Bewußtseinzieht (inleichterHypnose)oder durch

  • S.

    29

    ärztliche Suggestion aufhebt, wie es im Somnam-
    bulismus mit Amnesie geschieht.

    Wir halten den. therapeutischen Gewinn bei Anwendung
    dieses Verfahrens fiir einen bedeutenden. Natürlich heilen
    wir nicht die Hysterie, soweit sie Disposition ist, wir leisten
    ja nichts gegen die Wiederkehr hypnoider Zustände. Auch
    während des produktiven Stadiums einer akuten Hysterie kann
    unser Verfahren nicht Verhüten, daß die mühsam beseitigten
    Phänomene alsbald durch neue ersetzt werden. Ist aber dieses
    akute Stadium abgelaufen und eriihl'igen noch die Reste des-
    selben als hysterische Dauersymptome und Anfälle, so beseitigt
    unsere Methode dieselben häufig und für immer, Weil radikal,
    und scheint uns hierin die Wirksamkeit der direkten sugges-
    tiven Aufhebung, wie sie jetzt von den Psychotherapeuten
    geübt wird, Weit zu übertrefl'en.

    Wenn wir in der Aufdecku.ng des psychischen Mecha-
    nismus hysterischer Phänomene einen Schritt weiter auf der
    Bahn gemacht haben, die zuerst Charcot so erfolgreich
    mit der Erklärung und experimentellen Nachahmung hystero—
    traumatischer Lähmungen betreten hat, so verhehlen wir uns
    doch nicht, daß damit eben nur der Mechanismus hysterisclier
    Symptome und nicht die inneren Ursachen der Hysterie
    unserer Kenntnis näher gerückt werden sind. Wir haben die
    Ätiologie der Hysterie nur gestreift und eigentlich nur die
    Ursachen der acqnirierten Emmen, die Bedeutung des acciden—
    tellen Momentes fiir die Neurose beleuchten können.

    Wien, Dezember 1892.