S.
198
II
ÜBER DIE ALLGEMEINSTE ERNIEDRIGUNG DES
LIEBESLEBENS1
Wenn der psychoanalytische Praktiker sich fragt, wegen
welches Leidens er am häufigsten um Hilfe angegangen wird,
so muß er – absehend von der vielgestaltigen Angst – ant-
worten: wegen psychischer Impotenz. Diese sonderbare Störung
betrifft Männer von stark libidinösem Wesen und äußert sich
darin, daß die Exekutivorgane der Sexualität die Ausführung des
geschlechtlichen Aktes verweigern, obwohl sie sich vorher und
nachher als intakt und leistungsfähig erweisen können, und
obwohl eine starke psychische Geneigtheit zur Ausführung des
Aktes besteht. Die erste Anleitung zum Verständnis seines
Zustandes erhält der Kranke selbst, wenn er die Erfahrung macht,
daß ein solches Versagen nur beim Versuch mit gewissen Personen
auftritt, während es bei anderen niemals in Frage kommt. Er
weiß dann, daß es eine Eigenschaft des Sexualobjekts ist, von
welcher die Hemmung seiner männlichen Potenz ausgeht, und
berichtet manchmal, er habe die Empfindung eines Hindernisses
in seinem Innern, die Wahrnehmung eines Gegenwillens, der
die bewußte Absicht mit Erfolg störe. Er kann aber nicht
erraten, was dies innere Hindernis ist und welche Eigenschaft
des Sexualobjekts es zur Wirkung bringt. Hat er solches
Versagen wiederholt erlebt, so urteilt er wohl in bekannterS.
199
fehlerhafter Verknüpfung, die Erinnerung an das erste Mal habe
als störende Angstvorstellung die Wiederholungen erzwungen;
das erste Mal selbst führt er aber auf einen „zufälligen“ Eindruck
zurück.Psychoanalytische Studien über die psychische Impotenz sind
bereits von mehreren Autoren angestellt und veröffentlicht
worden.1 Jeder Analytiker kann die dort gebotenen Aufklärungen
aus eigener ärztlicher Erfahrung bestätigen. Es handelt sich
wirklich um die hemmende Einwirkung gewisser psychischer
Komplexe, die sich der Kenntnis des Individuums entziehen. Als
allgemeinster Inhalt dieses pathogenen Materials hebt sich die
nicht überwundene inzestuöse Fixierung an Mutter und Schwester
hervor. Außerdem ist der Einfluß von akzidentellen peinlichen
Eindrücken, die sich an die infantile Sexualbetätigung knüpfen,
zu berücksichtigen und jene Momente, die ganz allgemein die
auf das weibliche Sexualobjekt zu richtende Libido verringern.2Unterzieht man Fälle von greller psychischer Impotenz einem
eindringlichen Studium mittels der Psychoanalyse, so gewinnt
man folgende Auskunft über die dabei wirksamen psychosexuellen
Vorgänge. Die Grundlage des Leidens ist hier wiederum – wie
sehr wahrscheinlich bei allen neurotischen Störungen – eine
Hemmung in der Entwicklungsgeschichte der Libido bis zu ihrer
normal zu nennenden Endgestaltung. Es sind hier zwei Strö-
mungen nicht zusammengetroffen, deren Vereinigung erst ein
völlig normales Liebesverhalten sichert, zwei Strömungen, die
wir als die zärtliche und die sinnliche voneinander unter-
scheiden können.Von diesen beiden Strömungen ist die zärtliche die ältere. Sie
stammt aus den frühesten Kinderjahren, hat sich auf Grund der1)M. Steiner: Die funktionelle Impotenz des Mannes und ihre Behandlung,
1907. – W. Stekel: In „Nervöse Angstzustände und ihre Behandlung“, Wien
1908 (II. Auflage 1912). – Ferenczi: Analytische Deutung und Behandlung der
psychosexuellen Impotenz beim Manne. (Psychiat. ‑neurol. Wochenschrift, 1908.)2)W. Stekel: l. c., S. 191 ff.
S.
200
Interessen des Selbsterhaltungstriebes gebildet und richtet sich
auf die Personen der Familie und die Vollzieher der Kinderpflege.
Sie hat von Anfang an Beiträge von den Sexualtrieben, Kom-
ponenten von erotischem Interesse mitgenommen, die schon in
der Kindheit mehr oder minder deutlich sind, beim Neurotiker
in allen Fällen durch die spätere Psychoanalyse aufgedeckt
werden. Sie entspricht der primären kindlichen Objektwahl.
Wir ersehen aus ihr, daß die Sexualtriebe ihre ersten
Objekte in der Anlehnung an die Schätzungen der Ichtriebe
finden, gerade so, wie die ersten Sexualbefriedigungen in
Anlehnung an die zur Lebenserhaltung notwendigen Körper-
funktionen erfahren werden. Die „Zärtlichkeit“ der Eltern und
Pflegepersonen, die ihren erotischen Charakter selten verleugnet
(„das Kind ein erotisches Spielzeug“), tut sehr viel dazu, die
Beiträge der Erotik zu den Besetzungen der Ichtriebe beim
Kinde zu erhöhen und sie auf ein Maß zu bringen, welches
in der späteren Entwicklung in Betracht kommen muß,
besonders wenn gewisse andere Verhältnisse dazu ihren Beistand
leihen.Diese zärtlichen Fixierungen des Kindes setzen sich durch die
Kindheit fort und nehmen immer wieder Erotik mit sich, welche
dadurch von ihren sexuellen Zielen abgelenkt wird. Im Lebens-
alter der Pubertät tritt nun die mächtige “sinnliche” Strömung
hinzu, die ihre Ziele nicht mehr verkennt. Sie versäumt es
anscheinend niemals, die früheren Wege zu gehen und nun mit
weit stärkeren Libidobeträgen die Objekte der primären infantilen
Wahl zu besetzen. Aber da sie dort auf die unterdessen auf-
gerichteten Hindernisse der Inzestschranke stößt, wird sie das
Bestreben äußern, von diesen real ungeeigneten Objekten möglichst
bald den Übergang zu anderen, fremden Objekten zu finden, mit
denen sich ein reales Sexualleben durchführen läßt. Diese fremden
Objekte werden immer noch nach dem Vorbild (der Imago) der
infantilen gewählt werden, aber sie werden mit der Zeit dieS.
201
Zärtlichkeit an sich ziehen, die an die früheren gekettet war.
Der Mann wird Vater und Mutter verlassen — nach der
biblischen Vorschrift — und seinem Weibe nachgehen, Zärtl-
ichkeit und Sinnlichkeit sind dann beisammen. Die höchsten
Grade von sinnlicher Verliebtheit werden die höchste psychische
Wertschätzung mit sich bringen. (Die normale Überschätzung
des Sexualobjekts von seiten des Mannes.)Für das Mißlingen dieses Fortschrittes im Entwicklungsgang
der Libido werden zwei Momente maßgebend sein. Erstens das
Maß von realer Versagung, welches sich der neuen Objekt-
wahl entgegensetzen und sie für das Individuum entwerten wird.
Es hat ja keinen Sinn, sich der Objektwahl zuzuwenden, wenn
man überhaupt nicht wählen darf oder keine Aussicht hat,
etwas Ordentliches wählen zu können. Zweitens das Maß der
Anziehung, welches die zu verlassenden infantilen Objekte
äußern können, und das proportional ist der erotischen Besetzung,
die ihnen noch in der Kindheit zuteil wurde. Sind diese beiden
Faktoren stark genug, so tritt der allgemeine Mechanismus der
Neurosenbildung in Wirksamkeit. Die Libido wendet sich von
der Realität ab, wird von der Phantasietätigkeit aufgenommen
(Introversion), verstärkt die Bilder der ersten Sexualobjekte, fixiert
sich an dieselben. Das Inzesthindernis nötigt aber die diesen
Objekten zugewendete Libido, im Unbewußten zu verbleiben. Die
Betätigung der jetzt dem Unbewußten angehörigen sinnlichen
Strömung in onanistischen Akten tut das Ihrige dazu, um diese
Fixierung zu verstärken. Es ändert nichts an diesem Sachverhalt,
wenn der Fortschritt nun in der Phantasie vollzogen wird, der
in der Realität mißglückt ist, wenn in den zur onanistischen
Befriedigung führenden Phantasiesituationen die ursprünglichen
Sexualobjekte durch fremde ersetzt werden. Die Phantasien
werden durch diesen Ersatz bewußtseinsfähig, an der realen
Unterbringung der Libido wird ein Fortschritt nicht vollzogen.S.
202
Es kann auf diese Weise geschehen, daß die ganze Sinnlichkeit
eines jungen Menschen im Unbewußten an inzestuöse Objekte
gebunden oder, wie wir auch sagen können, an unbewußte
inzestuöse Phantasien fixiert wird. Das Ergebnis ist dann eine
absolute Impotenz, die etwa noch durch die gleichzeitig erworbene
wirkliche Schwächung der den Sexualakt ausführenden Organe
versichert wird.Für das Zustandekommen der eigentlich sogenannten psychischen
Impotenz werden mildere Bedingungen erfordert. Die sinnliche
Strömung darf nicht in ihrem ganzen Betrag dem Schicksal
verfallen, sich hinter der zärtlichen verbergen zu müssen, sie
muß stark oder ungehemmt genug geblieben sein, um sich zum
Teil den Ausweg in die Realität zu erzwingen. Die Sexual-
betätigung solcher Personen läßt aber an den deutlichsten Anzeichen
erkennen, daß nicht die volle psychische Triebkraft hinter ihr
steht. Sie ist launenhaft, leicht zu stören, oft in der Ausführung
inkorrekt, wenig genußreich. Vor allem aber muß sie der
zärtlichen Strömung ausweichen. Es ist also eine Beschränkung
in der Objektwahl hergestellt worden. Die aktiv gebliebene
sinnliche Strömung sucht nur nach Objekten, die nicht an die
ihr verpönten inzestuösen Personen mahnen; wenn von einer
Person ein Eindruck ausgeht, der zu hoher psychischer Wert-
schätzung führen könnte, so läuft er nicht in Erregung der
Sinnlichkeit, sondern in erotisch unwirksame Zärtlichkeit aus.
Das Liebesleben solcher Menschen bleibt in die zwei Richtungen
gespalten, die von der Kunst als himmlische und irdische (oder
tierische) Liebe personifiziert werden. Wo sie lieben, begehren
sie nicht, und wo sie begehren, können sie nicht lieben. Sie
suchen nach Objekten, die sie nicht zu lieben brauchen, um ihre
Sinnlichkeit von ihren geliebten Objekten fernzuhalten, und das
sonderbare Versagen der psychischen Impotenz tritt nach den
Gesetzen der „Komplexempfindlichkeit“ und der „Rückkehr des
Verdrängten“ dann auf, wenn an dem zur Vermeidung desS.
203
Inzests gewählten Objekt ein oft unscheinbarer Zug an das zu
vermeidende Objekt erinnert.Das Hauptschutzmittel gegen solche Störung, dessen sich der
Mensch in dieser Liebesspaltung bedient, besteht in der psychischen
Erniedrigung des Sexualobjektes, während die dem Sexual-
objekt normalerweise zustehende Überschätzung dem inzestuösen
Objekt und dessen Vertretungen reserviert wird. Sowie die
Bedingung der Erniedrigung erfüllt ist, kann sich die Sinnlichkeit
frei äußern, bedeutende sexuelle Leistungen und hohe Lust
entwickeln. Zu diesem Ergebnis trägt noch ein anderer Zusammen-
hang bei. Personen, bei denen die zärtliche und die sinnliche
Strömung nicht ordentlich zusammengeflossen sind, haben auch
meist ein wenig verfeinertes Liebesleben; perverse Sexualziele
sind bei ihnen erhalten geblieben, deren Nichterfüllung als
empfindliche Lusteinbuße verspürt wird, deren Erfüllung aber
nur am erniedrigten, geringgeschätzten Sexualobjekt möglich
erscheint.Die in dem ersten Beitrag1 erwähnten Phantasien des Knaben,
welche die Mutter zur Dirne herabsetzen, werden nun nach
ihren Motiven verständlich. Es sind Bemühungen, die Kluft
zwischen den beiden Strömungen des Liebeslebens wenigstens in
der Phantasie zu überbrücken, die Mutter durch Erniedrigung
zum Objekt für die Sinnlichkeit zu gewinnen.2
Wir haben uns bisher mit einer ärztlich‑psychologischen Unter-
suchung der psychischen Impotenz beschäftigt, welche in der
Überschrift dieser Abhandlung keine Rechtfertigung findet. Es
wird sich aber zeigen, daß wir dieser Einleitung bedurft haben,
um den Zugang zu unserem eigentlichen Thema zu gewinnen.Wir haben die psychische Impotenz reduziert auf das Nicht-
zusammentreffen der zärtlichen und der sinnlichen Strömung im1)S. 195 uff.
S.
204
Liebesleben und diese Entwicklungshemmung selbst erklärt durch
die Einflüsse der starken Kindheitsfixierungen und der späteren
Versagung in der Realität bei Dazwischenkunft der Inzestschranke.
Gegen diese Lehre ist vor allem eines einzuwenden: sie gibt
uns zu viel, sie erklärt uns, warum gewisse Personen an psychischer
Impotenz leiden, läßt uns aber rätselhaft erscheinen, daß andere
diesem Leiden entgehen konnten. Da alle in Betracht kommen-
den ersichtlichen Momente, die starke Kindheitsfixierung, die
Inzestschranke und die Versagung in den Jahren der Entwicklung
nach der Pubertät bei so ziemlich allen Kulturmenschen als
vorhanden anzuerkennen sind, wäre die Erwartung berechtigt,
daß die psychische Impotenz ein allgemeines Kulturleiden und
nicht die Krankheit einzelner sei.Es läge nahe, sich dieser Folgerung dadurch zu entziehen,
daß man auf den quantitativen Faktor der Krankheitsverursachung
hinweist, auf jenes Mehr oder Minder im Beitrag der einzelnen
Momente, von dem es abhängt, ob ein kenntlicher Krankheits-
erfolg zustandekommt oder nicht. Aber obwohl ich diese
Antwort als richtig anerkennen möchte, habe ich doch nicht die
Absicht, die Folgerung selbst hiemit abzuweisen. Ich will im
Gegenteil die Behauptung aufstellen, daß die psychische Impotenz
weit verbreiteter ist, als man glaubt, und daß ein gewisses Maß
dieses Verhaltens tatsächlich das Liebesleben des Kulturmenschen
charakterisiert.Wenn man den Begriff der psychischen Impotenz weiter faßt
und ihn nicht mehr auf das Versagen der Koitusaktion bei vor-
handener Lustabsicht und bei intaktem Genitalapparat einschränkt,
so kommen zunächst alle jene Männer hinzu, die man als
Psychanästhetiker bezeichnet, denen die Aktion nie versagt, die
sie aber ohne besonderen Lustgewinn vollziehen; Vorkommnisse
die häufiger sind, als man glauben möchte. Die psychoanalytische
Untersuchung solcher Fälle deckt die nämlichen ätiologischen
Momente auf, welche wir bei der psychischen Impotenz imS.
405
engeren Sinne gefunden haben, ohne daß die symptomatischen
Unterschiede zunächst eine Erklärung finden. Von den anästhetischen
Männern führt eine leicht zu rechtfertigende Analogie zur
ungeheuren Anzahl der frigiden Frauen, deren Liebesverhalten
tatsächlich nicht besser beschrieben oder verstanden werden kann
als durch die Gleichstellung mit der geräuschvolleren psychischen
Impotenz des Mannes.1Wenn wir aber nicht nach einer Erweiterung des Begriffes
der psychischen Impotenz, sondern nach den Abschattungen ihrer
Symptomatologie ausschauen, dann können wir uns der Einsicht
nicht verschließen, daß das Liebesverhalten des Mannes in unserer
heutigen Kulturwelt überhaupt den Typus der psychischen Impo-
tenz an sich trägt. Die zärtliche und die sinnliche Strömung
sind bei den wenigsten unter den Gebildeten gehörig mit-
einander verschmolzen; fast immer fühlt sich der Mann in seiner
sexuellen Betätigung durch den Respekt vor dem Weibe beengt
und entwickelt seine volle Potenz erst, wenn er ein erniedrigtes
Sexualobjekt vor sich hat, was wiederum durch den Umstand
mitbegründet ist, daß in seine Sexualziele perverse Komponenten
eingehen, die er am geachteten Weibe zu befriedigen sich nicht
getraut. Einen vollen sexuellen Genuß gewährt es ihm nur, wenn
er sich ohne Rücksicht der Befriedigung hingeben darf, was er
zum Beispiel bei seinem gesitteten Weibe nicht wagt. Daher
rührt dann sein Bedürfnis nach einem erniedrigten Sexualobjekt,
einem Weibe, das ethisch minderwertig ist, dem er ästhetische
Bedenken nicht zuzutrauen braucht, das ihn nicht in seinen
anderen Lebensbeziehungen kennt und beurteilen kann. Einem
solchen Weibe widmet er am liebsten seine sexuelle Kraft, auch
wenn seine Zärtlichkeit durchaus einem höherstehenden gehört.
Möglicherweise ist auch die so häufig zu beobachtende Neigung
von Männern der höchsten Gesellschaftsklassen, ein Weib aus1)Wobei gerne zugestanden sein soll, daß die Frigidität der Frau ein komplexes,
auch von anderer Seite her zugängliches Thema ist.S.
206
niederem Stande zur dauernden Geliebten oder selbst zur Ehefrau
zu wählen, nichts anderes als die Folge des Bedürfnisses nach
dem erniedrigten Sexualobjekt, mit welchem psychologisch die
Möglichkeit der vollen Befriedigung verknüpft ist.Ich stehe nicht an, die beiden bei der echten psychischen
Impotenz wirksamen Momente, die intensive inzestuöse Fixierung
der Kindheit und die reale Versagung der Jünglingszeit auch für
dies so häufige Verhalten der kulturellen Männer im Liebesleben
verantwortlich zu machen. Es klingt wenig anmutend und über-
dies paradox, aber es muß doch gesagt werden, daß, wer im
Liebesleben wirklich frei und damit auch glücklich werden soll,
den Respekt vor dem Weibe überwunden, sich mit der Vorstellung
des Inzests mit Mutter oder Schwester befreundet haben muß.
Wer sich dieser Anforderung gegenüber einer ernsthaften Selbst-
prüfung unterwirft, wird ohne Zweifel in sich finden, daß er
den Sexualakt im Grunde doch als etwas Erniedrigendes beur-
teilt, was nicht nur leiblich befleckt und verunreinigt. Die Ent-
stehung dieser Wertung, die er sich gewiß nicht gerne bekennt,
wird er nur in jener Zeit seiner Jugend suchen können, in
welcher seine sinnliche Strömung bereits stark entwickelt, ihre
Befriedigung aber am fremden Objekt fast ebenso verboten war
wie die am inzestuösen.Die Frauen stehen in unserer Kulturwelt unter einer ähnlichen
Nachwirkung ihrer Erziehung und überdies unter der Rückwir-
kung des Verhaltens der Männer. Es ist für sie natürlich eben-
sowenig günstig, wenn ihnen der Mann nicht mit seiner vollen
Potenz entgegentritt, wie wenn die anfängliche Überschätzung der
Verliebtheit nach der Besitzergreifung von Geringschätzung abge-
löst wird. Von einem Bedürfnis nach Erniedrigung des Sexual-
objekts ist bei der Frau wenig zu bemerken; im Zusammen-
hange damit steht es gewiß, wenn sie auch etwas der Sexual-
überschätzung beim Manne Ähnliches in der Regel nicht zustande
bringt. Die lange Abhaltung von der Sexualität und das VerweilenS.
297
der Sinnlichkeit in der Phantasie hat für sie aber eine
andere bedeutsame Folge. Sie kann dann oft die Verknüpfung der
sinnlichen Betätigung mit dem Verbot nicht mehr auflösen und
erweist sich als psychisch impotent, d. h. frigid, wenn ihr solche
Betätigung endlich gestattet wird. Daher rührt bei vielen Frauen
das Bestreben, das Geheimnis noch bei erlaubten Beziehungen
eine Weile festzuhalten, bei anderen die Fähigkeit normal zu
empfinden, sobald die Bedingung des Verbots in einem geheimen
Liebesverhältnis wiederhergestellt ist; dem Manne untreu, sind sie
imstande, dem Liebhaber eine Treue zweiter Ordnung zu bewahren.Ich meine, die Bedingung des Verbotenen im weiblichen Liebes-
leben ist dem Bedürfnis nach Erniedrigung des Sexualobjekts
beim Manne gleichzustellen. Beide sind Folgen des langen Auf-
schubes zwischen Geschlechtsreife und Sexualbetätigung, den die
Erziehung aus kulturellen Gründen fordert. Beide suchen die psy-
chische Impotenz aufzuheben, welche aus dem Nichtzusammen-
treffen zärtlicher und sinnlicher Regungen resultiert. Wenn der
Erfolg der nämlichen Ursachen beim Weibe so sehr verschieden
von dem beim Manne ausfällt, so läßt sich dies vielleicht auf
einen anderen Unterschied im Verhalten der beiden Geschlechter
zurückführen. Das kulturelle Weib pflegt das Verbot der Sexual-
betätigung während der Wartezeit nicht zu überschreiten und
erwirbt so die innige Verknüpfung zwischen Verbot und Sexuali-
tät. Der Mann durchbricht zumeist dieses Verbot unter der
Bedingung der Erniedrigung des Objekts und nimmt daher diese
Bedingung in sein späteres Liebesleben mit.Angesichts der in der heutigen Kulturwelt so lebhaften
Bestrebungen nach einer Reform des Sexuallebens ist es nicht
überflüssig, daran zu erinnern, daß die psychoanalytische Forschung
Tendenzen so wenig kennt wie irgendeine andere. Sie will nichts
anderes als Zusammenhänge aufdecken, indem sie Offen-
kundiges auf Verborgenes zurückführt. Es soll ihr dann recht
sein, wenn die Reformen sich ihrer Ermittlungen bedienen, umS.
208
Vorteilhafteres an Stelle des Schädlichen zu setzen. Sie kann
aber nicht vorhersagen, ob andere Institutionen nicht andere,
vielleicht schwerere Opfer zur Folge haben müßten.3
Die Tatsache, daß die kulturelle Zügelung des Liebeslebens
eine allgemeinste Erniedrigung der Sexualobjekte mit sich bringt,
mag uns veranlassen, unseren Blick von den Objekten weg auf
die Triebe selbst zu lenken. Der Schaden der anfänglichen
Versagung des Sexualgenusses äußert sich darin, daß dessen
spätere Freigebung in der Ehe nicht mehr voll befriedigend
wirkt. Aber auch die uneingeschränkte Sexualfreiheit von Anfang
an führt zu keinem besseren Ergebnis. Es ist leicht festzustellen,
daß der psychische Wert des Liebesbedürfnisses sofort sinkt,
sobald ihm die Befriedigung bequem gemacht wird. Es bedarf
eines Hindernisses, um die Libido in die Höhe zu treiben, und
wo die natürlichen Widerstände gegen die Befriedigung nicht
ausreichen, haben die Menschen zu allen Zeiten konventionelle
eingeschaltet, um die Liebe genießen zu können. Dies gilt für
Individuen wie für Völker. In Zeiten, in denen die Liebes-
befriedigung keine Schwierigkeiten fand, wie etwa während des
Niederganges der antiken Kultur, wurde die Liebe wertlos, das
Leben leer, und es bedurfte starker Reaktionsbildungen, um die
unentbehrlichen Affektwerte wieder herzustellen. In diesem
Zusammenhange kann man behaupten, daß die asketische Strömung
des Christentums für die Liebe psychische Wertungen geschaffen
hat, die ihr das heidnische Altertum nie verleihen konnte.
Zur höchsten Bedeutung gelangte sie bei den asketischen Mönchen,
deren Leben fast allein von dem Kampfe gegen die libidinöse
Versuchung ausgefüllt war.Man ist gewiß zunächst geneigt, die Schwierigkeiten, die sich
hier ergeben, auf allgemeine Eigenschaften unserer organischen
Triebe zurückzuführen. Es ist gewiß auch allgemein richtig, daßS.
209
die psychische Bedeutung eines Triebes mit seiner Versagung
steigt. Man versuche es, eine Anzahl der allerdifferenziertesten
Menschen gleichmäßig dem Hungern auszusetzen. Mit der Zunahme
des gebieterischen Nahrungsbedürfnisses werden alle individuellen
Differenzen sich verwischen und an ihrer Statt die uniformen
Äußerungen des einen ungestillten Triebes auftreten. Aber trifft
es auch zu, daß mit der Befriedigung eines Triebes sein psychischer
Wert allgemein so sehr herabsinkt? Man denke z. B. an das
Verhältnis des Trinkers zum Wein. Ist es nicht richtig, daß dem
Trinker der Wein immer die gleiche toxische Befriedigung bietet,
die man mit der erotischen so oft in der Poesie verglichen
hat und auch vom Standpunkte der wissenschaftlichen Auffassung
vergleichen darf? Hat man je davon gehört, daß der Trinker
genötigt ist, sein Getränk beständig zu wechseln, weil ihm das
gleichbleibende bald nicht mehr schmeckt? Im Gegenteil, die
Gewöhnung knüpft das Band zwischen dem Manne und der
Sorte Wein, die er trinkt, immer enger. Kennt man beim
Trinker ein Bedürfnis in ein Land zu gehen, in dem der Wein
teurer oder der Weingenuß verboten ist, um seiner sinkenden
Befriedigung durch die Einschiebung solcher Erschwerungen
aufzuhelfen? Nichts von alldem. Wenn man die Äußerungen
unserer großen Alkoholiker, z. B. Böcklins, über ihr Verhältnis
zum Wein anhört,1 es klingt wie die reinste Harmonie, ein
Vorbild einer glücklichen Ehe. Warum ist das Verhältnis des
Liebenden zu seinem Sexualobjekt so sehr anders?Ich glaube, man müßte sich, so befremdend es auch klingt,
mit der Möglichkeit beschäftigen, daß etwas in der Natur des
Sexualtriebes selbst dem Zustandekommen der vollen Befriedigung
nicht günstig ist. Aus der langen und schwierigen Entwicklungs-
geschichte des Triebes heben sich sofort zwei Momente hervor,
die man für solche Schwierigkeit verantwortlich machen könnte.
Erstens ist infolge des zweimaligen Ansatzes zur Objektwahl mit1)G. Floerke: Zehn Jahre mit Böcklin. 2. Aufl. 1902, S. 16.
S.
210
Dazwischenkunft der Inzestschranke das endgültige Objekt des
Sexualtriebes nie mehr das ursprüngliche, sondern nur ein
Surrogat dafür. Die Psychoanalyse hat uns aber gelehrt: wenn
das ursprüngliche Objekt einer Wunschregung infolge von
Verdrängung verloren gegangen ist, so wird es häufig durch
eine unendliche Reihe von Ersatzobjekten vertreten, von denen
doch keines voll genügt. Dies mag uns die Unbeständigkeit in
der Objektwahl, den „Reizhunger“ erklären, der dem Liebesleben
der Erwachsenen so häufig eignet.Zweitens wissen wir, daß der Sexualtrieb anfänglich in eine
große Reihe von Komponenten zerfällt, – vielmehr aus einer
solchen hervorgeht, – von denen nicht alle in dessen spätere
Gestaltung aufgenommen werden können, sondern vorher unter-
drückt oder anders verwendet werden müssen. Es sind vor allem
die koprophilen Triebanteile, die sich als unverträglich mit
unserer ästhetischen Kultur erwiesen, wahrscheinlich, seitdem wir
durch den aufrechten Gang unser Riechorgan von der Erde
abgehoben haben; ferner ein gutes Stück der sadistischen Antriebe,
die zum Liebesleben gehören. Aber alle solche Entwicklungs-
vorgänge betreffen nur die oberen Schichten der komplizierten
Struktur. Die fundamentellen Vorgänge, welche die Liebes-
erregung liefern, bleiben ungeändert. Das Exkrementelle ist allzu
innig und untrennbar mit dem Sexuellen verwachsen, die Lage
der Genitalien – inter urinas et faeces – bleibt das bestimmende
unveränderliche Moment. Man könnte hier, ein bekanntes Wort
des großen Napoleon variierend, sagen: die Anatomie ist das
Schicksal. Die Genitalien selbst haben die Entwicklung der
menschlichen Körperformen zur Schönheit nicht mitgemacht, sie
sind tierisch geblieben, und so ist auch die Liebe im Grunde
heute ebenso animalisch, wie sie es von jeher war. Die Liebes-
triebe sind schwer erziehbar, ihre Erziehung ergibt bald zu viel,
bald zu wenig. Das, was die Kultur aus ihnen machen will, scheint
ohne fühlbare Einbuße an Lust nicht erreichbar, die FortdauerS.
211
der unverwerteten Regungen gibt sich bei der Sexualtätigkeit als
Unbefriedigung zu erkennen.So müßte man sich denn vielleicht mit dem Gedanken
befreunden, daß eine Ausgleichung der Ansprüche des Sexual-
triebes mit den Anforderungen der Kultur überhaupt nicht
möglich ist, daß Verzicht und Leiden sowie in weitester Ferne
die Gefahr des Erlöschens des Menschengeschlechts infolge seiner
Kulturentwicklung nicht abgewendet werden können. Diese trübe
Prognose ruht allerdings auf der einzigen Vermutung, daß die
kulturelle Unbefriedigung die notwendige Folge gewisser
Besonderheiten ist, welche der Sexualtrieb unter dem Drucke der
Kultur angenommen hat. Die nämliche Unfähigkeit des Sexual-
triebes, volle Befriedigung zu ergeben, sobald er den ersten
Anforderungen der Kultur unterlegen ist, wird aber zur Quelle
der großartigsten Kulturleistungen, welche durch immer weiter
gehende Sublimierung seiner Triebkomponenten bewerkstelligt
werden. Denn welches Motiv hätten die Menschen, sexuelle
Triebkräfte anderen Verwendungen zuzuführen, wenn sich aus
denselben bei irgendeiner Verteilung volle Lustbefriedigung
ergeben hätte? Sie kämen von dieser Lust nicht wieder los und
brächten keinen weiteren Fortschritt zustande. So scheint es,
daß sie durch die unausgleichbare Differenz zwischen den
Anforderungen der beiden Triebe – des sexuellen und des
egoistischen – zu immer höheren Leistungen befähigt werden,
allerdings unter einer beständigen Gefährdung, welcher die
Schwächeren gegenwärtig in der Form der Neurose erliegen.Die Wissenschaft hat weder die Absicht zu schrecken noch zu
trösten. Aber ich bin selbst gern bereit zuzugeben, daß so weit-
tragende Schlußfolgerungen, wie die obenstehenden, auf breiterer
Basis aufgebaut sein sollten, und daß vielleicht andere Entwicklungs-
einrichtungen der Menschheit das Ergebnis der hier isoliert
behandelten zu korrigieren vermögen.
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