S.
V.
Über die Berechtigung, von der Neurasthenie
einen bestimmten Symptomenkomplex als
„Angstneurose“ abzutrennen').Es ist schwierig, etwas Allgemeingültiges von der Neur—
asthenie auszusagen, solange man diesen Krankheitsnamen all
das bedeuten'läßt, wofür Beard ihn gebraucht hat. Die Neuro-
pathologie, meine ich, kann nur dabei gewinnen, wenn man den
Versuch macht, von der eigentlichen Neurasthenie alle jene
neurotischen Störungen abzusondern‚ deren Symptome einerseits
untereinander fester verknüpft sind als mit den typischen neur-
asthenischen Symptomen (dem Kopfdruck, der Spinalirritation,
der Dyspepsie mit Flatulenz und Obstipation), und die ander-
seits in ihrer Ätiologie und ihrem Mechanismus wesentliche
Verschiedenheiten von der typischen neurasthenischen Neurose
erkennen lassen. Nimmt man diese Absicht an, so wird man
bald ein ziemlich einflirmiges Bild der Nenrasthenie gewonnen
haben. Man wird es dann dahin bringen, schärfer, als es bisher
gelungen ist, verschiedene Pseudoneurasthenien (das Bild der
organisch vermittelten nasa_len Reflexneurose, die nervösen Stö-
rungen der Kachexien und der Arteriosklerose, die Vorstadien
der progressiven Paralyse und mancher Psychosen) von echter
Neurasthenie zu unterscheiden, ferner werden sich —— nach
Möbins’ Vorschlag — manche Status nervosi der hereditär
Degenerierten abseits stellen lassen, und man wird auch Gründe
finden, manche Neurosen, die man heute Nemesthenie heißt,
besonders intennittierender oder periodischer Natur, vielmehr1) „Neurologisches Zentralblatt“, 1895, Nr. 2.
S.
61
der Melancholie zuzurechnen. Die einschneidendste Veränderung
bahnt man aber an, wenn man sich entschließt, von der.Neu.r—
asthenie jenen Symptomenkomplex abzutrennen„ den ich im
folgenden beschreiben werde und der die obenaufgestellteli
Bedingungen in besonders zureiohender Weise erfüllt. Die
Symptome dieses Komplexes stehen klinisch einander weit näher
als den echt neurasthenischen (d. h. sie kommen häufig zusam-
men vor, vertreten einander im Krankheitsverlauf), und Ätio-
logie Wie Mechanismus dieser Neurose sind grundverschieden
von der Ätiologie und dem Mechanismus der echten Neurasthenie,
wie sie uns nach solcher Sonderung erübrigt.Ich nenne diesen Symptomenkomplex „Angstneurose“, weil
dessen sämtliche Bestandteile sich um das Hanptsymptom der
Angst gruppieren lassen, weil jeder einzelne von ihnen eine
bestimmte Beziehung zur Angst besitzt. Ich glaubte, mit dieser
Auffassung der Symptome der Angstneurose originell zu sein,
bis mit ein interessanter Vortrag von E. Hecker‘) in die Hände
fiel, iuwelchem ich die nämliche Deutung mit aller_wiinschens-
werten Klarheit und Vollständigkeit dargelegt fand. Hecker
löst die von ihm als Äquivalente oder Rudimente des Angst-
anfalles erkannten Symptome allerdings nicht aus dem Zusammen-
bauge der Neurasthenie‚ wie ich es beabsichtige; allein dies
rührt oflenba.r daher, daß er auf die Verschiedenheit der ätio-
logischen Bedingungen hier und dort keine Rücksicht genommen
hat. Mit der Kenntnis dieser letzteren Differenz entfällt jeder
Zwang, die Angstsymptome mit demselben Namen wie die echt
ueurasthenischen zu bezeichnen, denn die sonst willkürliche
Namengebung hat vor allem den'Zweck, uns die Aufstellung
allgemeiner Behauptungen zu erleichtern.|. Klinische Symptomatologie der Angstneurose.
Was ich „Angstneurose“ nenne, kommt in vollständiger
oder rudimentäi'er Ausbildung, isoliert oder in Kombination mit‘) E. Hecker: Über lan-vierte und abortive Angstzustände bei Neur-
asthem'e. Zentralblatt fiir Nervenheilkunde, Dezember 1893. — Die Angst
wird geradezu unter den Hauptsymptornen der Neurasthenie angeführt in
der Studie von Kann: Der neurasthenische Angstafl'ekt bei Zwangsvorstel-
lungen und der primordisle Grübelzwang, Wien, 1893.S.
62
anderen Neurosen zur Beobachtung. Die einigermaßen vollstän-
digen und dabei isolierten Fälle sind natürlich diejenigen, welche
den Eindruck, daß die Angstneurose klinische Selbständigkeit
besitze, besonders unterstützen. In anderen Fällen steht man
vor der Aufgabe, aus einem Symptomenkomplex, welcher einer
„gemischten Neurose“ entspricht, diejenigen herauszuklauben
und zu sondern, die nicht der Neuresthenie, Hysterie u. dgl.,
sondern der Angstneurose zugehören.Das klinische Bild der Angstueurose umfaßt folgende
Symptome:1. Die allgemeine Reizbarkeit. Diese ist ein häufiges
nervöses Symptom, als solches vielen Status nervosi eigen. Ich
führe sie hier an, weil sie bei der Angstneurose konstant vor-
kommt und theoretisch bedeutsam ist. Gesteigerte Reizbarkeit
deutet ja stets auf Anhäufung von Erregung oder auf Unfähig—
keit, Anhänfung zu ertragen, also auf absolute oder relative
Reizanhäufung. Einer besonderen Hervorhebung wert finde ich
den Ausdruck dieser gesteigerten Reizbarkeit durch eine Ge-
hörshyperästhesie, eine Überempfindlichkeit gegen Ge-
räusche, welches Symptom sicherlich durch die mitgeborene
innige Beziehung zwischen Gehörseindrücken und Erschrecken
zu erklären ist. Die Gehörshyperästhesie findet sich häufig als
Ursache der Schlaflosigkeit‚ von welcher mehr als eine
Form zur Angstneurose gehört.2. Die ängstliche Erwartung. Ich kann den Zustand,
den ich meine, nicht besser erläutern, als durch diesen Namen
und einige beigefügte Beispiele. Eine Frau z. B., die an ängst-
licher Erwartung leidet, denkt bei jedem Hustenstoße ihres
katarrhalisch affizierten Mannes an Influenzapneumonie und
sieht im Geiste seinen Leichenzug vorüberziehen. Wenn sie auf
dem Wege nach Hause zwei Personen vor ihrem Haustor bei-
sammenstehend sieht, kann sie sich des Gedankens nicht er-
wehren, daß eines ihrer Kinder aus dem Fenster gestürzt sei;
wenn sie die Glocke läuten hört, so bringt man ihr eine Trauer-
botschaft u. dgl., während doch in allen diesen Fällen kein be-
sonderer Anlaß zur Verstärkung einer bloßen Möglichkeit vorliegt.Die ängstliche Erwartung klingt natürlich stetig ins Nor-
male ab, umfaßt alles, was man gemeinhin als „Ängstliehkeit,S.
68
Neigung zu pessimistischer Auffassung der Dinge“ bezeichnet,
geht aber so oft als möglich über solche plausible Ängstliehkeit
hinaus und ist häufig selbst für den Kranken als eine Art von
Zwang erkenntlich. Für eine Form der ängstliehen Erwartung.
nämlich für die in bezug auf die eigene Gesundheit, kann man
den alten Krankheitsnamen Hypochondrie reservieren. Die
Hypochondrie geht nicht immer der Höhe der allgemeinen
ängstliohen Erwartung parallel, sie verlangt als Vorbedingnng
die Existenz von Parästhesien und peinlichen Körperempfin-
dungen, und so wird die Hypochondrie die Form, welche die
echten Neurastheniker bevorzugen, sobald sie, was häufig ge—
schieht, der Angstneurose verfallen.Eine weitere Äußerung der ängstlichen Erwartung dürfte
die bei moralisch empfindlicheren Personen so häufige Neigung
zur Gewissensangst, zur Skrupulosität und Pedanterie sein,
die gleichfalls vom Normalen bis zur Steigerung als Zweifel—
sucht variiert.Die ängstliche Erwartung ist das Kernsymptom der Neu—
rose; in ihr liegt auch ein Stück von der Theorie derselben
frei zutage. Man kann etwa sagen, daß hier ein Quantum
Angst frei flottierend vorhanden ist, welches bei der Er-
wartung die Auswahl der Vorstellungen beherrscht und jeder-
zeit bereit ist, sich rnit irgend einem passenden Vorstellungs-
inhalt zu verbinden.3.Es ist dies nicht die einzige Art, wie die furs Bewußt-
sein meist latente, aber konstant lanernde Ängstlichkeit sich
äußern kann: Diese kann vielmehr auch plötzlich ins Bewußt-
sein hereinbreehen, ohne vom Vorstellungsablauf geweckt zu
werden, und so einen Angstanfall hervorrufen. Ein solcher
Angstanfall besteht entweder einzig aus dem Angstgefühle ohne
jede assoziierte Vorstellung oder mit der naheliegenden Deutung
der Lebensvernichtung, des „Schlagtreffens“, des drohenden
Wahnsinnes, oder aber dem Angstgefühle ist irgend welche
Parästhesie beigemengt (ähnlich der hysterischen Aura), oder
endlich mit der Angsternpfindung ist eine Störung irgend einer
oder mehrerer Körperfunktionen, der Atmung, Herztätigkeit, der
vasomotorischen Innervation, der Drüsentätigkeit verbunden. Aus
dieser Kombination hebt der Patient bald das eine, bald dasS.
64!
andere Moment besonders hervor, er klagt über „Herzkrampf“,
„Atemnot“, „Sehweißausbriiche“, „Heißhunger“ u. dgl., und in
seiner Darstellung tritt das Angstgefiihl häufig ganz zurück
oder wird recht unkenntlich als ein „Schlechtwerden“ , „Un-
behagen“ usw. bezeichnet. ' -4. Interessant und diagnostisch bedeutsam ist nun, daß
das Maß der Mischung dieser Elemente im Angstfalle ungemein
variiert, und daß nahezu jedes begleitende Symptom den Anfall
ebensowohl allein konstituieren kann wie die Angst selbst. Es
gibt demnach rudimentä.re Angstanfälle und Äqui-
valente des Angstanfalles, wahrscheinlich alle von der
gleichen Bedeutung, die einen großen und bis jetzt wenig ge-
würdigten Reichtum an Formen zeigen. Das genauere Studium
dieser larvierten Angstzustände (Hecker) und ihre diagnostische
Trennung von anderen Anfällen dürfte bald zur notwendigen
Arbeit für den Neuropathologen werden.Ich füge hier nur die Liste der mir bekannten Formen
des Angstanfalles an:a) Mit Störungen der Herztätigkeit, Herzklopfen, mit
kurzer Arrhythmie, mit länger anhaltender Tachykardie bis zu
schweren Sohwächezuständen des Herzens, deren Unterscheidung
von organischer Herzefl'ektion nicht immer leicht ist; Pseudo—
angina pectoris,ein diagnostisch- heikles Gebiet!b) Mit Störungen der Atmung, mehrere Formen von
nervöser Dyspnoé, asthmaartigem Anfalle u. dgl. Ich hehe her-
vor, daß selbst diese Anfii11e nicht immer von kenntlicher Angst
begleitet sind.e) Anfälle von Sehweißausbrüchen, oft nächtlioh.
d) Anfälle von Zittern und Schütteln‚ die nur zu
leicht mit hysterischen verwechselt werden.e) Anfälle von Heißhunger, oft mit Schwindel ver-
bunden.f) Anfallsweise auftretende Diarrhöen.
‘ y) Anfälle von lokomotorischem Schwindel.
h) Anfälle von sogenannten Konge-stionen, so ziem-
lich alles, was man vasomotorische Neurasthenie genannt hat;
' @) Anfälle von Parästhesien (diese aber selten ohne
Angst oder ein ähnliches Unbehagen). ’S.
65
5. Nichts als eine Abart des Angstanfslles ist sehi‘ häufig
das nächtliche Aufschrecken (Ps.vor nocturnus der Er--
wachsenen), gewöhnlich mit Angst, mit Dyspnoä, Schweiß u. dgl.
verbunden. Diese Störung bedingt eine zweite Form von Schlaf—
losigkeit im Rahmen der Angstneurose. — Es ist mir übrigens
nnzweifelhaft geworden, daß auch der Pavor nocturnus der
Kinder eine Form zeigt, die zur Angstneurose gehört. Der hyste-
rische Anstrich, die Verknüpfung der Angst mit der Reproduk-
tion eines hierzu geeigneten Erlebnisses oder Treumes, lassen
den Pavor noctumus der Kinder als etwas Besonderes. er-
scheinen; er kommt aber auch rein vor, ohne Traum oder wieder-
kehrende Halluzina.tion.6.‘Eine hervo'rragende Stellung in der Symptomeng’ruppe
der Angstueuxose nimmt der „Schwindel“ ein, der in seinen
leichtesten Formen besser als „Taumel“ zu bezeichnen ist, in
schwererer Ausbildung als „Schwindelsnfall“ mit oder ohne
Angst zu den folgenschwersten Symptomen der Neurose gehört.
Der Schwindel der Angstneurose ist weder ein Drehschwindel,
noch läßt er, wie der Meniéresche Schwindel, einzelne Ebenen
und Richtungen hervorheben. Er gehört dem lokomotorischen
oder koordinatorischen Schwindel an wie der Schwindel bei
Augenmuslrellähmung; er besteht in einem spezifischen Miß-
behagen, begleitet von den Empfindungen, daß der Boden wagt,
die Beine versinken, daß es unmöglich ist, sich weiter aufrecht
zu halten, und dabei sind die Beine bleischwer, zittern oder
knicken ein. Zum Hinstiirzen führt dieser Schwindel nie. Da,-
gegen möchte ich behaupten, daß ein solcher Schwindelanfall
auch durch einen Anfall von tiefer Ohnmacht vertreten werden
kann. Andere ohnmachtartige Zustände bei der Angstneurose
scheinen von einem Herzkollaps abzuhängen.Der Schwindelanfall ist nicht selten von der schlimmsten
Art von Angst begleitet, häufig mit Herz— und Atemstörungen
kombiniert. Höhenschwindel, Berg- und Abgrundschwindel finden
sich nach meinen Beobachtungen gleichfalls bei der Angstneurose
häufig vor; auch weiß ich nicht, ob man noch berechtigt ist,
nebenher einen Vertigo a. stomacho laesc anzuerkennen.7. Auf Grund der chronischen Angstlichkeit (ängstliche
Erwartung) einerseits, der Neigung zum SchwindelangstanfalleFreud, Nenrosenlehre. I. 3. Auflage. 5
S.
.». *
66
anderseits entwickeln sich zwei Gruppen von typischen Phobien,
die erste auf die allgemein physiologischen Bedrohungen, die
andere auf die Lokomotion bezüglich. Zur ersten Gruppe ge—
hören die Angst vor Schlangen, Gewitter, Dunkelheit, Unge-
ziefer u. dgl. sowie die_ typische moralische Überbedenklichkeit,
Formen der Zweifelsucht; hier wird die disponible Angst ein-
fach zur Verstärkung von Abneigungen verwendet, die jedem
Menschen instinktiv eingepflanzt sind. Gewöhnlich bildet sich
eine zwangsartig wirkende Phobie aber erst dann, wenn eine
Reminiszenz an ein Erlebnis hinzukommt, bei welchem diese
Angst sich äußern konnte, z. B. nachdem der Kranke ein Ge-
witter im Freien mitgemacht hat. Man tut Unrecht, solche Fälle
einfach als Fortdauer starker Eindrücke erklären zu
wollen; was diese Erlebnisse bedeutsam und ihre Erinnerung
dauerhaft macht, ist doch nur die Angst, die damals hervor-
treten konnte und heute ebenso hervortreten kann. Mit anderen
Worten, solche Eindrücke bleiben kräftig nur bei Personen mit
„ängstlicher Erwartung“. 'Die andere Gruppe enthält die Agoraphobie mit allen
ihren Nebenarten, sämtliche charakterisiert durch die Beziehung
auf die Lokomotion. Ein vorausgegangener Schwindelanfall
findet sich hierbei häufig als Begründung der Phobie; ich glaube
nicht, daß man ihn jedesmal postulieren darf. Gelegentlich sieht
man, daß nach einem ersten Schwindelanfall ohne Angst die
Lokomotion zwar beständig von der Sensation des Schwindels
begleitet wird, aber ohne Einschränkung möglich bleibt, daß
dieselbe aber unter den Bedingungen des Alleinseins, der engen
Straße u. dgl. versagt, wenn einmal sich zum Schwindelanfalle
Angst hinzugesellt hat.Das Verhältnis dieser Phobien zu den Phobien der Zwangs-
neurose, deren Mechanismus ich in einem früheren Aufsatzo‘)
in diesem Blatte aufgedeckt habe, ist folgender Art: Die Über-
einstimmung liegt darin, daß hier wie dort einem Vorstellung
zwangsartig wird durch die Verknüpfung mit einem disponiblen
Afl‘ekt. Der Mechanismus der Affektversetzung gilt also
für beide Arten von Phobien. Bei den Phobien der Angstneurose[) Die Abwehrneuropsychosen. Nemo]. Zentralbl., 1894, Nr. 10 u. 11.
S.
67
ist aber 1. dieser Afiekt ein monotoner, stets der der Angst;
2. stammt er nicht von einer verdrängten Vorstellung her, son-
dern erweist sich bei psychologischer Analyse als nicht w e it 6 r
reduz ierb er, wie er auch durch Psychotherapie nicht
anfechtb ar ist. Der Mechanismus der Sub stitution gilt
also fiir die Phobien der Angstneurose nicht.Beiderlei Arten von Phobien (oder Zwangsvorstellungen)
kommen häufig nebeneinander vor, obwohl die aty‘pischen Pho-
bien, die auf Zwangsvorstellungen beruhen, nicht notwendig auf
dem Boden der Angstueurosé erwachsen müssen. Ein sehr
häufiger, anscheinend komplizierter Mechanismus stellt sich heraus,
wenn bei einer ursprünglich einfachen Phobie der Angstneurose
der Inhalt der Phobie durch eine andere Vorstellung substituiert
wird, die Substitution also nachträglich zur Phobie hinzukommt.
Zur Substitution werden am häufigsten die „Schutzmaß-
regeln“ benutzt, die ursprünglich zur Bekämpfung der Phobie
versucht werden sind. So entsteht 2. B. die Grübelsucht aus
dem Bestreben, sich den Gegenbeweis zu liefern, daß man nicht
verrückt ist, wie die hypochondrische Phobie behauptet: das
Zaudem und Zweifeln, vielmehr Repetieren der Folie de doute
entspringt dem berechtigten Zweifel in die Sicherheit des eigenen
Gedankengblaufes, da. man sich doch so hartnäckiger Störung
durch die zwangsartige Vorstellung bewußt ist u. dgl. Man kann
daher behaupten, daß auch viele Syndrome der Zwangsnenrose,
wie die Folie du doute und ähnliches, klinisch, wenn auch nicht
begrifl'lich, der Angstneurose zuzurechnen sind 1).8. Die Verdauungstätigkeit erfährt bei der Angstneurose nur ’
wenige, aber charakteristische Störungen. Sensationen wie Brech-
neigung und Übligkeiten sind nichts Seltenes, und das Symptom
des Heißhungers kann allein oder mit anderen (Kongestionen)
einen rudimentären Angstanfall abgeben; als chronische Ver-
änderung, analog der ängstlichen Erwartung, findet man eine
Neigung zur Diarrhöe, die zu den seltsamsten diagnostischen
Irrtümern Anlaß gegeben hat. Wenn ich nicht irre, ist es diese
Diarrhöe, auf welche Möbius’) unlängst in einem kleinen Auf-‘) Obsessions et phobies. Révue neurologique, 1895.
2) Möbius: NeuropnthologischeBeiträge, 1894, 2. Heft.5*
S.
68
satze die Aufmerksamkeit gelenkt hat. Ich vermute ferner,
Peyers reflektorische Diarrhöe, die er von Erkrankungen der
Prostata. ableitet‘)7 ist nichts anderes als diese Diarrhöe der
Angstnenrose. Eine reflektorische Beziehung wird dadurch vor-
getäuscht, daß in der Ätiologie der Angstneurose dieselben
Faktoren ins Spiel kommen, die bei der Entstehung von solchen
Prostataafl'ektionen u. dgl. tätig sind.Das Verhalten der Magendarmtätigkeit bei der Angst-
neurose zeigt einen scharfen Gegensatz zu der Beeinflussung
derselben Funktion bei der Neumsthenie. Mischtälle zeigen oft
die bekannte „Abwechslung von Diarrhöe und Verstopfung“.
Der Diarrhöe analog ist der Harndrang der Angstneurose.9. Die Parästhesien, die den Schwindel- oder Angst-
anfall begleiten können, werden dadurch interessant, daß sie
sich, ähnlich wie die Sensationen der hysterischen Aura, zu
einer festen Reihenfolge assoziieren; doch finde ich diese asso-
ziierten Empfindungen im Gegensatze zuden hysterischen aty-
pisoh und wechselnd. Eine weitere Ähnlichkeit mit der Hysterie
wird dadurch erzeugt, daß bei der Angstneurose eine Art von
Konversion“) auf körperliche Sensationen stattfindet, die
sonst, nach Belieben übersehen werden können, z. B. auf die
rheumatischen Muskeln. Eine ganze Anzahl sogenannter Rheu-
matiker, die übrigens auch als solche nachweisbar sind, leidet
eigentlich an — Angstneurose. Neben dieser Steigerung der
Schmerzempfindlichkeit habe ich bei einer Anzahl von Fällen
der Angstneurose eine Neigung zu Halluzinationen
beobachtet, welch letztere sich nicht als hysterische deuten
ließen.10..Mehrere der genannten Symptome, welche den Angst-
anfalbbegleiten oder vertreten, kommen auch in chronischer
Weise vor. Sie sind dann noch weniger leicht kenntlich, da. die
sie begleitende ängstliche Empfindung nndeutlicher ausfällt als
beim Angstanfalle. Dies gilt besonders für die Diarrhöe, den
Schwindel und die Parästhesien. Wie der Schwindelanfall durch„ 1) Peyer: Die nervösen Afl‘ektionen des Darmes. Wiener Klinik,
Jänner 1893. '
2) Freud. Abwehri1enropsychosen.S.
69
einen Ohnmachtsäanfsll, so kann der chronische Schwindel durch
die andauernde Empfindung großer Hinfälligkeit, Mattigkeit
u. dgl. vertreten werden.II. Vorkommen und Ätiologie der Angstneurose.
In manchen Fällen von Angstneurose läßt sich eine Ätio-
logie überhaupt nicht erkennen. Es ist bemerkenswert, daß in
solchen Fällen der Nachweis einer schweren hereditären Be-
lastung selten auf Schwierigkeiten stößt.Wo man aber Grund hat, die Neurose fiir eine erwor-
bene zu halten, da findet man bei sorgfältigem, dahin zielendem
Examen als ätiologisch wirksame Momente eine Reihe .von
Schädlichkeiten und. Einflüssen aus dem Sexualleben. Die-
selben scheinen zunächst mannigfaltiger Natur, lassen aber leicht
den gemeinsamen Charakter herausfinden, der ihre gleichartige
Wirkung auf das Nervensystem erklärt; sie finden sich ferner
entweder allein oder neben anderen banalen Schädlichkeiten‘,
denen man eine unterstützende Wirkung zuschreiben darf. Diese
sexuelle Ätiologie der Angstneurose ist so überwiegend häufig
nachzuweisen, daß ich mich getraue, für die Zwecke dieser
kurzen_Mitteilung die Fälle mit zweifelhafter oder anders-
artiger Ätiologie beiseite zu lassen.Für die genauere Darstellung der ätiologischen Bedingun-
gen, unter denen die Angstneurose vorkommt, wird es' sich
empfehlen, Männer und Frauen gesondert zu behandeln. Die
Angstnenrose stellt sich bei weiblichen Individuen — nun ab-
gesehen von deren Disposition —— in folgenden Fällen ein:“a) als virginale Angst oder Angst der Adoles-
zenten. Eine Anzahl von unzweideutigen Beobachtungen hat
mir gezeigt, daß ein erstes Zusammentreffen mit dem sexuellen
Problem, eine einigermaßen plötzliche Enthüllung des bisher
Verschleierten, z. B. durch den Anblick eines sexuellen Aktes,
eine Mitteilung oder Lektüre, bei heranreifenden Mädchen eine
Angstnenrose hervorrufen kann, die fast in typischer Weise mit
Hysterie kombiniert ist;b) als Angst der Neuvermählten. Junge Frauen, die
bei den ersten Kohabitationen anästhetisch geblieben sind, ver-
fallen nicht selten der Angstneurose, die wieder verschwindet,S.
70
nachdem die Anästhesie normaler Empfindlichkeit Platz gemacht
hat. Da die meisten jungen Frauen bei solcher anfänglicher
Anästhesie gesund bleiben, bedarf es für das Zustandekommen
dieser Angst Bedingungen, die ich auch angeben werde;0) als Angst der Frauen, deren Männer Ejaculatio praecox
oder sehr herabgesetzte Potenz zeigen; undd) deren Männer den Coitus interruptus oder reservatus
üben. Diese Fälle gehören zusammen, denn man kann sich bei
der Analyse einer großen Anzahl von Beispielen leicht über-
zeugen, daß es nur darauf ankommt, ob die Frau beim Koitus
zur Befriedigung gelangt oder nicht. Im letzteren Falle ist die
Bedingung für die Entstehung der Angstneurose gegeben. Da-
gegen bleibt die Frau von der Neurose verschont, wenn der mit
Ejaculatio praecox behaftete Mann den Congressus unmittelbar
darauf mit besserem Erfolge wiederholen kann. Der Congressus
reservatus mittels des Kondome stellt für die Frau keine
Schädlichkeit dar, wenn sie sehr rasch erregbar und der Mann
sehr potent ist; im andern Falle steht diese Art des Prä—
ventivverkehres den andern an Schädlichkeit nicht nach. Der
Coitus interruptus ist fast regelmäßig eine Schädlichkeit; für die
Frau wird er es aber nur dann, wenn der Mann ihn rück-
sichtslos übt, daß heißt den Koitus unterbricht, sobald er der
Ejakulation nahe ist, ohne sich um den Ablauf der Erregung
der Frau zu kümmern. Wartet der Mann im Gegenteile die
Befriedigung der Frau ab, so hat ein solcher Koitus für letztere
die Bedeutung eines normalen; es erkrankt aber dann der Mann
an Angstneurose. Ich habe eine große Anzahl von Beobach-
tungen gesammelt nnd analysiert, aus denen obige Sätze her-
vorgehen;e) als Angst der 'Witwen und absichtlich Absti-
nenten, nicht selten in typischer Kombination mit Zwangs-
vorstellungen; _f) als Angst im Klimakterium während der letzten
großen Steigerung der sexuellen Bedürftigkeit.Die Fälle c), d) und e) enthalten die Bedingungen, unter
denen die Angstneuröse beim weiblichen Geschlecht am häu g-
sten und am ehesten unabhängig von hereditärer Disposition
entsteht. An diesen —, heilbaren, erworbenen — Fällen vonS.
71
Angstneurose werde ich den Nachweis zu führen versuchen, daß
die aufgefundene sexuelle Sehädlichkeit wirklich das ätiologisohe
Moment der Neurose darstellt. Ich will nur vorher auf die
sexuellen Bedingungen der Angstneurose bei Männern eingehen.
Hier möchte ich folgende Gruppen aufstehen, die sämtlich ihre
Analogien bei den Frauen finden.a) Angst der absichtlich Abstinenten, häufig mit
Symptomen der Abwehr (Zwangsvorstellungen, Hysterie) kom-
biniert. Die Motive, die für absichtliche Abstinenz maßgebend
sind, bringen es mit sich, daß eine Anzahl von hereditär Ver-
anlagten, Sonderlingen u. dgl. zu dieser Kategorie zählt.11) Angst der Männer mit frustraner Erregung (während
des Brautstandes), Personen, die (aus Furcht vor den Folgen
des sexuellen Verkehres) sich rnit Betasten oder Beschauen des
Weibes begnügen. Diese Gruppe von Bedingungen (die übrigens
unverändert auf das andere Geschlecht zu übertragen ist —
Brantschaft, Verhältnisse mit sexueller Schonung) liefert die. reinsten Fälle der Neurose.
0) Angst der Männer, die Coitus interruptus üben. Wie
schon bemerkt, schädigt der Coitus interruptus die Frau, wenn
er ohne Rücksicht auf die Befriedigung der Frau geübt wird;
er wird aber zur Schädlichkeit fiir den Mann, wenn dieser, um
die Befriedigung der Frau zu erzielen, den Coitus willkürlich
dirigiert, die Ejakulation aufschiebt. Auf solche Weise läßt sich
verstehen, daß von den Ehepaaren, die im Coitus interruptus
leben, gewöhnlich nur ein Teil erkrankt. Bei Männern erzeugt
der Coitus interruptus übrigens nur selten reine Angstneurose,
meist eine Vermengung derselben mit Neurasthenie.d) Angst der Männer im Senium. Es gibt Männer, die
wie die Frauen ein Klimakterium zeigen und zur Zeit ihrer ab-
nehmenden Potenz und steigenden Libido Angstneurose pro-
duzieren.Endlich muß ich noch zwei Fälle anschließen, die für
beide Geschlechter gelten:0) Die Neurastheniker infolge von Masturbation verfallen
in Angstneurose, sobald sie von ihrer Art der sexuellen Befrie-
digung ablassen. Diese Personen haben sich besonders unfähig
gemacht, die Abstinenz zu ertragen.S.
72
Ich bemerke hier als wichtig für das Verständnis der
Angstneurose, daß eine irgend bemerkenswerte Ausbildung der-
selben nur bei patent „gebliebenen Männern und bei nicht
anästhetischen Frauen zustande kommt. Bei Neurasthenikern,
die durch Masturbation bereits schwere Schädigung ihrer Potenz
erworben haben, fällt die Angstneurose im Falle der Abstinenz
recht dürftig aus und beschränkt sich meist auf Hypochondrie
und leichten chronischen Schwindel. Die Frauen sind ja in
ihrer Mehrheit ‚als „potent“ zu nehmen; eine wirklich impotente,
d. h. wirklich anästhetische Frau ist gleichfalls der Angstneurose
wenig zugänglich und erträgt die angeführten Schädlichkeiten
auffällig gut.Wieweit man etwa sonst berechtigt ist, konstante Be-
ziehungen zwischen einzelnen ätiologischen Momenten und ein—
zelnen Symptomen aus dem Komplex der Angstneu.rose anzu-
nehmen, möchte ich hier noch nicht erörtern.f) Die letzte der anzufiihrenden ätiologischen Bedingungen
scheint zunächst überhaupt nicht sexueller Natur zu sein. Die ‚
Angst_neurose entsteht, und zwar bei beiden Geschlechtern, auch
durch ‚das Moment der Überarbeitung, erschöpfender Anstren—
gung, z. B. nach Nachtwachen, Krankenpflegen und selbst
nach schweren Krankheiten.Der Haupteinwand gegen meine Aufstellung einer, sexuellen
Ätiologie der Angstneurose wird wohl dahin lauten: derartige
abnorn1e Verhältnisse des Sexuallebens fänden sich so überaus
häufig, daß sie überall zur Hand sein müssen, wo man nach
ihnen sucht. Ihr Vorkommen in den angeführten_ Fällen von
Angstneurqse beweise also nicht, daß in ihnen die Atiologie' der
Neurose aufgedeckt sei. Übrigens sei die Anzahl der Personen,
die Coitus interruptus u. dgl. treiben, unvergleichlich größer
als die Anzahl der_mit Angstneurose Behafteten, und die über—
wiegende Menge der ersteren befände sich bei dieser Schädlich—
keit recht „wohl.Ich habe darauf zu erwidern, daß ‚man bei der anerkannt
über-großen Häufigkeit der Neurosen und der Angstneurose spe-
ziell ein selten vorkommendes ätiologisches Moment gewißS.
73
nicht erwarten dürfe; ferner daß damit geradezu ein Postulat
der Pathologie erfüllt sei, wenn sich bei einer ätiologischen
Untersuchung des ätiologisehe Moment noch häufiger nachweisen
lasse als dessen Wirkung, da. ja für letztere noch andere Be-'
dingungen (Disposition, Summation der spezifischen Ätiologie,
Unterstützung durch andere, banale Schädlichkeiten) erfordert
werden können; ferner, daß die detaillierte Zergliederuug ge-
eigneter Fälle von Angstneurose die Bedeutung des sexuellen
Momentes ganz unzweideutig erweist. Ich will mich hier aber
nur auf das, ätiologische Moment des Coitus interruptus und
auf die Hervorhebung einzelner beweisender Erfahrungen be-
schränken.1. Solange die Angstneurose bei jungen Frauen noch
nicht konstituiert ist, sondern in Ansätzen hervortritt, die immer
wieder spontan verschwinden, läßt sich nachweisen, daß jeder
solche Schub der Neurose auf einen Koitus mit mangelnder
Befriedigung zurückgeht. Zwei Tage nach dieser Einwirkung,
bei wenig resistenten Personen am Tage nachher, tritt regel-
mäßig der Angst- oder Schwindelanfall auf, an den sich andere
Symptome der Neurose schließen, um — bei seltenerem ehe-
lichen Verkehr — wieder miteinander abzuklingen. Eine zufällige
Reise des Mannes, ein Aufenthalt im Gebirge, der mit Trennung
des Ehepaares verbunden ist, tun gut; die zumeist in erster
Linie eingeleitete gynäkologische Behandlung nützt dadurch, daß
während ihrer Dauer der eheliche Verkehr aufgehoben ist. Merk-
würdigerweise ist der Erfolg der lokalen Behandlung ein vor-
übergehender, stellt sich die Neurose noch im Gebirge wieder
ein, sobald der Mann seinerseits in die Ferien tritt u. dgl. Läßt
man als ein dieser Ätiologie kundiger Arzt bei noch nicht kon-
stituierter Neurose den Coitus interruptus durch normalen Ver—
kehr ersetzen, so ergibt sich die therapeutische Probe auf
die hier aufgestellte Behauptung. Die Angst ist behoben und
kehrt ohne neuen, ähnlichen Anlaß nicht wieder.2. In der Anamnese vieler Fälle von Angstneurose findet
man bei Männern wie bei Frauen ein auffälliges Schwanken in
der Intensität der Erscheinungen, ja im Kommen und Gehen
des ganzen Zustandes. Dieses Jahr war fast ganz gut, das
nächstfolgende gräßlich u. dgl., einmal fällt die Besserung zu-S.
74
gunsten einer bestimmten Kur aus, die aber beim nächsten An-
falle ganz im Stich gelassen hat u. dgl. m. Erkundigt man sich
nun nach Anzahl und Reihenfolge der Kinder und stellt diese
Ehechronik dem eigentii.mlichen Verlauf der Neurose gegenüber,
so ergibt sich als einfache Lösung, daß die Perioden von Besse-
rung oder Wohlbefinden mit den Graviditäten der Frau zusammen—
fallen, während welcher natürlich der Anlaß für den Präventiv-
verkehr entfallen war. Dem Manne aber hatte jene Kur, sei es
beim Pfarrer Kneipp oder in der hydrotherapeutischen Anstalt,
genützt, nach welcher er seine Frau gravid antraf.3. Aus der Anamnese der Kranken ergibt sich häufig, daß
die Symptome der Angstneurose zu einer bestimmten—Zeit die
einer andern Neurose, etwa der Nenrasthenie, abgelöst und sich
an deren Stelle gesetzt haben. Es läßt sich dann ganz regel-
mäßig nachweisen, daß kurz vor diesem Wechsel des Bildes ein
entsprechender Wechsel in der Art der sexuellen Schädigung
stattgefunden hat.Während derartige, nach Belieben zu vermehrende Er—
fahrungen dem Arzte für eine gewisse Kategorie von Fällen die
sexuelle Ätiologie geradezu aufdrängen, lassen sich andere Fälle,
die sonst unverständlich blieben, mittels des Schlüssels der
sexuellen Ätiologie wenigstens widerspruchslos verstehen und.
einreihen. Es sind dies jene sehr zahlreichen Fälle, in denen
zwar alles vorhanden ist, was wir bei der vorigen Kategorie ge-
funden haben, die Erscheinungen der Angstneurose einerseits,
das spezifische Moment des Coit-us interruptus anderseits, wo
aber noch etwas anderes sich einschiebt, nämlich ein langes
Intervall zwischen der vermeintlichen Ätiologie und deren Wir-
kung, und etwa noch ätiologische Momente nicht sexueller Natur.
Da ist z. B. ein Mann, der auf die Nachricht vom Tode seines
Vaters einen Herzanfall bekommt und von da an der Angst-
neurose verfallen ist. Der Fall ist nicht zu verstehen, denn der» Mann war bisher nicht nervös; der Tod des hochbejahrten Vaters
erfolgte keineswegs unter besonderen Umständen, und man wird
zugeben, daß das normale, erwartete Ableben eines alten Vaters
nicht zu den Erlebnissen gehört, die einen gesunden Erwach-
senen krank zu machen pflegen. Vielleicht wird die ätiologische
Analyse durchsichtiger, wenn ich hinzunehme, daß dieser MannS.
75
seit 11 Jahren den Coitus interruptus mit Rücksicht auf seine
Frau ausübt. Die Erscheinungen sind wenigstens genau die
nämlichen, wie sie bei anderen Personen nach kurzer derartiger
sexueller Schädigung und ohne Dazwischenkunft eines anderen
Traumas auftreten. Ähnlich zu beurteilen ist der Fall einer
Frau, deren Angstneurose nach dem Verlust eines Kindes aus-
bricht, oder des Studenten, der in der Vorbereitung zu seiner
letzten Staatsprüfung durch die Angstneurose gestört wird. Ich
finde die Wirkung hier wie dort nicht durch die angegebene
Ätiologie erklärt. Man muß sich nicht beim Studieren „über-
arbeiten“, und eine gesunde Mutter pflegt auf den Verlust eines
Kindes nur mit normaler Trauer zu reagieren. Vor allem aber
würde ich erwarten, daß der Student durch Überarbeitung eine
Zephalasthenie, die Mutter in unserem Beispiele eine Hysterie
akquirieren sollte. Daß sie beide Angstneurose bekommen, ver-
anlaßt mich, Wert darauf zu legen, daß die Mutter seit 8Jahren
irn ehelichen Coitus interruptus lebt, der Student aber seit
3 Jahren ein warmes Liebesverhältnis mit einem „anständigen“
Mädchen unterhält, das er nicht schwängern darf.Diese Ausführungen laufen auf die Behauptung hinaus,
daß die spezifische sexuelle Schädlichkeit des Coitus interruptus
dort, wo sie nicht imstande ist, für sich allein die Angstneurose
hervorzurufen, doch wenigstens zu ihrer Erwerbung dis-
poniert. Die Angstneurose bricht dann aus, sobald zur la-
tenten Wirkung des spezifischen Momentes die Wirkung. einer
andern, banalen Schädlicbkeit binzutritt. Letztere kann. das
spezifische Moment quantitativ vertreten, aber nicht
qualitativ ersetzen. Das spezifische Moment bleibt stets
dasjeuige, welches die Form der Neurose bestimmt. Ich hoffe,
diesen Satz für die Ätiologie der Neurose auch im größeren
Umfang erweisen zu können.Ferner ist in den letzten Erörterungen die an sich nicht
unwahrscheinliche Annahme enthalten, daß eine sexuelle Schäd-
lichkeit wie der Coitus interruptus sich durch Summation
zur Geltung bringt. Je nach der Disposition des Individuums
und der sonstigen Belastung von dessen Nervensystem wird es
kürzere oder längere Zeit brauchen, ehe der Efl‘ekt dieser
Summation sichtbar wird. Die Individuen, welche den CoitusS.
76
interruptus scheinbar ohne Nachteil ertragen, werden in Wirk-
lichkeit durch denselben zu Störungen der Angstneurose dispo-
niert‚ die irgend einmal spontan oder nach einem banalen, sonst
unangemessenen Trauma losbreehen können, gerade wie der
chronische Alkoholiker auf dem Wege der Summation endlich
eine Zirrhose oder andere Erkrankung entwickelt oder unter
dem Einfluß eines Fiebers in ein Del.i‚rium verfällt.|||. Ansätze zu einer Theorie der Angstneurose.
Die nachstehenden Ausführungen beanspruchen nichts als
den Wert eines ersten, tastendeu Versuches, dessen Beurteilung
die Aufnahme der im vorigen enthaltenen Tatsachen nicht
beeinflussen sollte. Die Würdigung dieser „Theorie der Angst-
neurose“ wird ferner noch dadurch erschwert, daß sie bloß einem
Bruchstücke aus einer umfassendean Darstellung der Neurosen
entspricht.In dem bisher über die Angstneurose Vorgehrachten sind
bereits einige Anhaltspunkte für einen Einblick in den Mecha-
nismus dieser Neurose enthalten. Zunächst die Vermutung, es
dürfte sich um eine Anhäufung von Erregung handeln, sodann
die überaus wichtige Tatsache, daß die Angst, die den Er-
scheinungen der Neurose zugrunde liegt,’ keine psychische
Ableitung zuläßt‚ Eine solche wäre z; B. vorhanden, wenn
sich als Grundlage der Angstneurose ein einmaliger oder wieder—
holter,- berechtigter Schreck fände, der seither die Quelle der
Bereitschaft zur Angst abgäbé. Allein dies ist nicht der Fall;
durch einen einmaligen Schreck kann zwar eine Hysterie oder
eine traumatische Neurose erworben werden, nie aber eine
Angstneurose. Ich habe, da sich unter den Ursachen der Angst-
neurose der Coitus interruptus so sehr in den Vordergrund
drängt, anfangs gemeint, die Quelle der kontinuierlichen Angst
könnte in der beim Akte jedesmal sich wiederholenden Furcht
liegen, die Technik könnte mißglücken und demnach Konzeption
erfolgen. Ich habe aber gefunden, daß dieser Gemütszustand
der Frau‘ oder des Mannes während des Coitus interruptus für
die Entstehung der Angstneurose gleichgültig ist, daß die gegen
die Folgen einer möglichen Konzeption im Grunde gleichgül-
tigen Frauen der Neurose ebenso ausgesetzt sind wie die vorS.
77
dieser Möglichkeit Schaudernden, und daß es nur darauf an-
kam, welcher Teil bei dieser sexuellen Technik seine Befriedi-
gung einbiißte. ’ .Einen weiteren Anhaltspunkt bietet die noch nicht er-
wähnte Beobachtung, daß in ganzen Reihen von Fällen die
Angstneurose mit der deutlichsten Verminderung der sexuellen
Libido, der psychischen Lust, einhergeht, so daß die Kran-
ken auf die Eröffnung, ihr Leiden führe von „ungenügender
Befriedigung“, regelmäßig antworten: Das sei unmöglich, gerade
jetzt sei alles Bedürfnis bei ihnen erloschen. Aus all diesen
Andeutungen, daß es sich um Anhäufung von Erregung handle,
daß die Angst, welche solcher angehäufter Erregung wahrschein-
lich entspricht, sometischer Herkunft sei, so daß also somatische
Erregung angehäuft werde, ferner daß diese sometische Erre-
gung sexueller Natur sei und daß eine Abnahme der psychi-
schen Beteiligung an den Sexualvorgängen nebenher gehe ——
alle diese Andeutungen, sage ich, begünstigen die Erwartung,
der Mechanismus der Angstneurose sei in der Ab-
lenkung der sometischen Sexualerregung vom Psy-
chischen und einer dadurch‚vernrsachten abnormen
Verwendung dieser Erregung zu suchen.Man kann sich diese Vorstellung vom Mechanismus der
Angstneurose klarer machen, wenn man folgende Betrachtung
über den Sexualvorgang akzeptiert, die sich zunächst auf den
Mann bezieht. Im geschlechtsreifen männlichen Organismus
wird — wahrscheinlich kontinuierlich —— die sometische Sexual-
erregung produziert, die periodisch zu einem Reiz für das psy-
chische Leben wird. Schalten wir, um unsere Vorstellungen dar-
über besser zu fixieren, ein, daß diese sometische Sexualerre«
gung sich als Druck auf die mit Nervenendigungen versehene
Wendung der Samenbläschen äußert, so wird diese viszerale
Erregung zwar kontinuierlich anwachsen, aber erst von einer
gewissen Höhe an imstande sein, den Widerstand der eingeschal-
teten Leitung bis zur Hirnrinde zu überwinden und sich als '
psychischer Reiz zu äußern. Dann aber wird die in dei-.Psyche
vorhandene sexuelle Vorstellungsgruppe mit Energie ausgestattet,
und es entsteht der psychische Zustand libidinöser Spannung,
welcher den Drang nach Aufhebung dieser Spannung mit sichS.
78
bringt. Eine solche psychische Entlastung ist nur auf dem Wege
möglich, den ich als spezifische oder adäquate Aktion be-
zeichnen will. Diese adäquate Aktion besteht für den männ-
lichen Sexualtrieb in einem komplizierten spinalen Reflexakt, der
die Entlastung jener Nervenendigungen zur Folge hat, und in
allen psychisch zu leistendeu Vorbereitungen für die Auslösung
dieses Reflexes. Etwas anderes als die adäquate Aktion würde
nichts fruchten, denn die sometische Sexualerregung setzt sich,
nachdem sie einmal den Schwellenwert erreicht hat, kontinuier-
lich in psychische Erregung um; es muß durchaus dasjenige
geschehen, was die Nervenendigungen von dem auf sie lasten-
den Druck befreit, somit die ganze derzeit vorhandene sema-
tische Erregung aufhebt und der subkortikalen Leitung gestattet,
ihren Widerstand herzustellen.Ich werde es mir versagen, kompliziertere Fälle des Sexual-
vorganges in ähnlicher Weise darzustellen. Ich Will nur noch
die Behauptung aufstellen, daß dieses Schema im wesentlichen
auch auf die Frau zu übertragen ist, trotz aller das Problem
verwirrenden, artefiziellen Verzögerung und Verkümmerung des
weiblichen Geschlechtstriebes. Es ist auch bei der Frau eine
somatische Sexualerregung anzunehmen und ein Zustand, in
dem diese Erregung psychischer Reiz wird, Libido und den
Drang nach der spezifischen Aktion hervorruft, an welche sich
das Wollustgefiihl knüpft. Nur ist man bei der Frau nicht im-
stande, anzugeben, was etwa der Entspannung der Samenbliis—
chen hier analog wäre.In den Rahmen dieser Darstellung des Sexualverganges
läßt sich nun sowohl die Ätiologie der echten Neurasthenie als
die der Angstneurose eintragen. Neurasthenie entsteht jedesmal,
wenn die adäquate (Aktion) Entlastung durch eine minder
adäquate ersetzt wird, der normale Koitus unter den günstigsten
Bedingungen, also durch eine Masturbation oder spontane Pol-
lution; zur Angstneurose aber führen alle Momente, welche die
psychische Verarbeitung der sometischen Sexualerregung ver-
hindern. Die Erscheinungen der Angstneurose kommen zustande,
indem die von der Psyche abgelenkte sometische Sexualerregung
sich subkortikal, in ganz und gar nicht adäquaten Reaktionen
ausgibt.S.
79
Ich will es nun versuchen, die vorhin angegebenen ätio—
logischen Bedingungen der Angstneurosc daraufhin zu prüfen,
ob sie den von mir aufgestellten gemeinsamen Charakter erkennen
lassen. Als erstes ätiologisches Moment habe ich für den Mann
die absichtliche Abstinenz angeführt. Abstinenz besteht in der
Verengung der spezifischen Aktion, die sonst auf die Libido
erfolgt. Eine solche Versagung wird zwei Konsequenzen haben
können, nämlich, daß die semantische Erregung sich anhäuft,
und dann zunächst, daß sie auf andere Wege abgelenkt wird,
auf denen ihr eher Entladung winkt als auf dem Wege über
die Psyche. Es wird also die Libido endlich sinken und die
Erregung subkortika.l als Angst sich äußern. Wo die Libido
nicht verringert wird, oder die sometische Erregung auf kurzem
Wege in Pollutionen versusgabt wird oder infolge der Zurück-
drängung wirklich versiegt, da. entsteht eben alles andere als
Angstneurose. Auf solche Weise führt die Abstinenz zur Angst-
neurose. Die Abstinenz ist aber auch das Wirksame an der
zweiten ätiologischen Gruppe, der frustrauen Erregung. Der
dritte Fall, der des rücksichtsvollen Coitus reservetus, wirkt da.-
durch, daß er die psychische Bereitschaft für den Sexualablauf
stört, indem er neben der Bewältigung des Sexualafl'ektes eine
andere, ablenkeude, psychis'che Aufgabe einführt. Auch durch
diese psychische Ablenkung schwindet allmählich die Libido, der
weitere Verlauf ist dann derselbe wie im Falle der Abstineuz.
Die Angst im Senium (Klimakterium der Männer) erfordert eine
andere Erklärung. Hier läßt die Libido nicht nach; es findet
aber, wie während des Klima.kteriurns der Weiber, eine solche
Steigerung in der Produktion der somafischen Erregung statt,
daß die Psyche für die Bewältigung derselben sich als relativ
insuffizient erweist.Keine größeren Schwierigkeiten bereitet die Subsumie-
rung der ätiologisehen Bedingungen bei der Frau unter den
angeführten Gesichtspunkt. Der Fall der virginalen Angst ist
besondere klar. Hier sind eben die Vorstellungsgruppen noch
nicht genug entwickelt, mit denen sich die sometische Sexual-
erregung verknüpfen soll. Bei der anästhetischen N euvermählten
tritt die Angst nur dann auf, wenn die ersten Kohabitationen
ein genügendes Maß von sometischer Erregung wecken. Wo dieS.
80
lokalen Zeichen solcher Erregtheit (wie spontane Reizempfindung,
Harndrang u. dgl.) fehlen, da bleibt auch die Angst aus. Der
Fall der Ejaculatio praecox, des Coitus interruptus, erklärt sich
ähnlich wie beim Marine dadurch, daß für den psychisch unbe-
friedigenden Akt allmählich die Libido schwindet, während die
dabei wachgerufene Erregung subkortikal ausgegeben wird. Die
Herstellung einer Entfremdung zwischen dem Somatischen
und dem Psychischen im Ablauf der Sexualerregung erfolgt beim
Weihe rascher und ist schwerer zu beseitigen als beim Manne.
Der Fall der Witwenschaft und der gewollteu Abstinenz sowie
der Fall des Klimakteriums erledigt sich beim \Veibe wohl
ebenso wie beim Marine, doch kommt für den Fall der Absti-
nenz gewiß noch die absichtliche Verdrängung des sexuellen
Vorstellungskreises hinzu, zu welcher die mit der Versuchung
kämpfende abstinente Frau sich häufig entschließen muß, und
ähnlich mag in der Zeit der Menopause der Abscheu wirken,
den die alternde Frau gegen die übergroß gewordene Libido
empfindet. '
Auch die beiden zuletzt angeführten ätiologischen Bedin—
gungen scheinen sich ohne Schwierigkeit einzuordnen. ‚
Die Angstneigung der neurasthenisch gewordenen Mastur-
banten erklärt sich daraus, daß diese Personen so leicht in den
Zustand der „Abstinenz“ geraten, nachdem sie sich so lange ge—
wöhnt hatten, jeder kleinen Quantität sometischer Erregung
eine allerdings fehlerhafte Abfuhr zu schafl'en. Endlich läßt der
letzte Fall, die Entstehung der Angstneurose durch schwere
Krankheit, Überarbeitung, erschöpfende Krankenpflege u. dgl.,
in‚Anlehnung an die Wirkungsweise des Coitus interruptus die
zwanglose Deutung zu, die Psyche werde hier durch Ablenkung
insuffizient zur Bewältigung der somaüschen Sexualerregung,
einer Aufgabe, die ihr ja kontinuierlich obliegt. Man weiß, wie
tief unter denselben Bedingungen die Libido sinken kann, und
.man hat hier ein schönes Beispiel einer Neurose, die zwar
keine sexuelle Ätiologie, aber doch einen sexuellen
Mechanismus erkennen läßt.
Die hier entwickelte Auffassung stellt die Symptome der
Angstneurose gewissermaßen als Surrogate der nnterlassenen
spezifischen Aktion auf die Sexualerregung dar. Ich erinnereS.
81
zur weiteren Unterstützung derselben daran, daß auch beim
normalen Koitns die Erregung sich nebstbei als Atembeschleuni—
gung, Herzklopfen, Schweißansbruch, Kongestion u. dgl. aus-
giht. Im entsprechenden Angstanfalle unserer Neurose hat man
die Dyspnoä, das Herzklopfen u. dgl. des Koitus isoliert und
gesteigert vor sich.Es könnte noch gefragt werden: Warum gerät denn das
Nervensystem unter solchen Umständen, bei psychischer Unzu-
li'mglichkeit zur Bewältigung der Sexualerregung, in den eigen-
tümlichen Afl'ektzustand der Angst? Darauf ist andeutüngs-
weise zu erwidem: Die Psyche gerät in den Afl‘ekt der Angst,
wenn sie sich unfähig fühlt, eine von außen nahende Auf-
gabe (Gefahr) durch entsprechende Reaktion zu erledigen; sie
gerät in die Neurose der Angst, wenn sie sich unfähig merkt,
die endogen entstandene (Sexual-) Erregung auszugleichen. Sie
benimmt sich also, als projizierte sie diese Erre-
gung nach außen. Der Aflekt und die ihm entsprechende
Neurose stehen in fester Beziehung zueinander, der erstere ist
die Reaktion auf eine exogene, die letztere die Reaktion auf die
analoge endogene Erregung. Der Afl‘ekt ist ein rasch vorüber-
gehender Zustand, die Neurose ein chronischer, weil die exogene
Erregung wie ein einmaliger Stoß, die endogene wie eine kon—
stante Kraft wirkt. Das Nervensystem reagiert in der
Neurose gegen eine innere Erregungsquelle wie in
dem entsprechenden Affekt gegen eine analoge
äußere.IV. Beziehung zu anderen Neurosen.
Es erübrigen noch einige Bemerkungen über die Bezie-
hungen der Angstneurose zu den anderen Neurosen nach Vor-
kommen und innerer Verwandtschaft.Die reinsten Fälle von Angstneurose sind auch meist die
ausgeprägtesten. Sie finden sich bei potenten jugendlichen Indi-
viduen, bei einheitlicher Ätiologie und nicht zu langem Bestande
des Krankseins.Häufiger ist allerdings das gleichzeitige und gemeinsame
Vorkommen von Angstsymptomen mit solchen der Nenrasthenie,
Hysterie, der Zwangsvorstellungen, der Melancholie. Wollte manFreud, Neurosenlehre. ]. 5, Auflagn, (;
S.
82
sich durch solche klinische Vermengung abhalten lassen, die
Angstneurose als eine selbständige Einheit anzuerkennen, so
müßte man konsequenterweise auch auf die mühsam erworbene
Trennung von Hysterie und Neurasthenie wieder verzichten.Fiir die Analyse der „gemischten Neuroseu“ kann ich den
wichtigen Satz vertreten: Wo sich eine gemischte Neu-
rose vorfindet, da läßt sich eine Vermengung meh-
rerer spezifischer Ätiologien nachweisen.Eine solche Vielheit ätiologischer Momente, die eine ge—
mischte Neurose bedingt, kann bloß zufällig zustande kommen,
etwa indem eine neu hinzutretende Schädlichkeit ihre. Wirkungen
zu denen einer friiher vorhandenen addiert; zum Beispiel eine
Frau, die von jeher Hysterica war, tritt zu einer gewissen Zeit
ihrer Ehe in den Coitus reservatus ein und erwirbt jetzt zu
ihrer Hysterie eine Angstueurose; ein Mann, der bisher mastur-
biert hatte und neurasthenis‘eh wurde, wird Bräutigam, erregt
sich bei seiner Braut, und jetzt gesellt sich zur Neurasthenie
eine frische Augstneurose hinzu.In anderen Fällen ist die Mehrheit ätiologisoher Momente
keine zufällige, sondern das eine derselben hat das andere mit-
zur Wirkung gebracht; zum Beispiel eine Frau, mit welcher ihr
Mann Coitus reservatus ohne Rücksicht auf ihre Befriedigung
übt, sieht sich genötigt, die peinliche Erregung nach einem
solchen Akt durch Masturbation zu beenden; sie zeigt infolge-
dessen nicht reine Angstneurose, sondern daneben Symptome
von Neurasthenie; eine zweite Frau wird unter derselben Schäd-
lichkeit mit lüsteruen Bildern zu kämpfen haben, deren sie sich
erwehren Will, und wird auf solche Weise durch den Coitus
interruptus nebst der Augstueurose Zwangsvorstelluugen erwer-
ben; eine dritte Frau endlich wird infolge des Coitus inter-
ruptus die Neigung zu ihrem Menue einbüßen, eine andere
Neigung erwerben, welche sie sorgfältig geheim hält, und wird
infolgedessen ein Gemeuge von Angstneurose und Hysterie zeigen.In einer dritten Kategorie von gemischten Neurosen ist
der Zusammenhang der Symptome ein noch innigerer, indem
die nämliche ätiologische Bedingung gesetzmäßig und gleich—
zeitig beide Neurosen _hervorrufi. So zum Beispiel erzeugt die
plötzliche sexuelle Aufklärung, die wir bei der virginnlen AngstS.
83
gefunden haben, immer auch Hysterie; die allermeisten Fälle
von absichtlicher Abstinenz verknüpfen sich von Anfang an mit
echten Zwangsvorstellungen; der Coitus interruptus der Männer
scheint mir niemals reine Angstneurose provozieren zu können,
sondern stets eine Vermengung derselben mit Nenrasthenie u. dgl.Es geht aus diesen Erörterungen hervor, daß man die
ätiologischen Bedingungen des Vorkommens_noch unterscheiden
muß von den spezifischen ätiologisehen Momenten der Neurosen.
Erstere, zum Beispiel der Coitus interruptus, die Masturbation, ‘
die Abstinenz, sind noch vieldeutig und können ein jedes ver-
schiedene Neurosen produzieren; erst die aus ihnen abstrahierten
ätiologischen Momente, wie inadäquate Entlastung, psy-
chische Unzulänglichkeit, Abwehr mit Substitution,
haben eine unzweideutige und spezifische Beziehung zur Ätio-
logie der einzelnen großen Neurosen.Ihrem inneren Wesen nach zeigt die Angstneurose die
interessantesten Übereinstimmungen und Verschiedenheiten gegen
die anderen großen Neurosen, besonders gegen Neurasthenie
und Hysterie. Mit der Neura.sthenie teilt sie den einen Haupt-
charakter, daß die Errgungsquelle, der Anlaß zur Störung,
auf sometischem Gebiete liegt, anstatt wie bei Hysterie und
Zwangsneurose auf psychischem. Im übrigen läßt sich eher eine
Art von Gegensätzlichkeit zwischen den Symptomen der Neur-
a'sthenie und denen der Angstneurose erkennen, die etwa in den
Schlagworten: Anhäufung — Verarmung an Erregung, ihren
Ausdruck fände. Diese Gegensätzlichkeit hindert nicht, daß sich
die beiden Neurosen miteinander vermengen, zeigt sich aber
doch darin, daß die extremsten Formen in beiden Fällen auch
die reinsten sind.Mit der Hysterie zeigt die Angstneurose zunächst eine
Reihe von Übereinstimmungen in der Symptomatologie, deren
genauere Würdigung noch aussteht. Das Auftreten der Erschei-
nungen als Dauersymptome oder in Anfällen, die auraartig
gruppierten Parästhesien, die Hyperästhesieu und Druckpunkte,
die sich bei gewissen Surrogaten des Angstanfalles, bei der
Dyspnoä und dem Herzanfalle finden, die Steigerung der etwa.6.
S.
84
organisch berechtigten Schmerzen (durch Konversion): — diese
und andere gémeinschaftliche Züge lassen sogar vermuten, daß
manches, was man der Hysterie zurechnet, mit mehr Fug und
Recht zur Angstneurose geschlagen werden dürfte. Geht man
auf den Mechanismus der beiden Neurosen ein, soweit er sich
bis jetzt hat durchschauen lassen, so ergeben sich Gesichts-
punkte, welche die Angstneurose geradezu als das somatische
Seitenstück zur Hysterie erscheinen lassen. Hier wie dort An-
h_äufung von Erregung — worin vielleicht die vorhin geschilderte
Ahnlichkeit der Symptome gegründet ist —; hier wie dort eine
psychische Unzulänglichkeit, der zufolge abnorme
somatische Vorgänge zustandekommen. ‘Hier wie dort
tritt an Stelle einer psychischen Verarbeitung eine Ablenkung
der Erregung in das Somatische ein; der Unterschied liegt bloß
darin, daß die Erregung, in deren Verschiebung sich die Neu-
rose äußert, bei der Angst-neurose eine rein sometische (die
sometische Sexualerregung), bei der Hysterie eine psychische
(durch Konflikt hervorgerufen e) ist. Es kann daher nicht Wunder
nehmen, daß Hysterie und Angstneurose sich gesetzmäßig mit-
einander kombinieren, wie bei der „virginalen Angst“ oder
der „sexuellen Hysterie“, daß die Hysterie eine Anzahl
von Symptomen einfach der Angstneumse entlehnt u, dgl. Diese
innigen Beziehungen der Angstneurose zur Hysterie geben auch
ein neues Argument ab, um die Trennung der Angstneurose
von der Neurasthenie zu fordern; denn verweigert man diese,
so kann man auch die so mühsam erworbene und für die Theorie
der Neurosen so unentbehrliche Unterscheidung von Neurasthenie
und Hysterie nicht mehr aufrecht erhalten.Wien, im Dezember 1894.
sksn13
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