S.
[1]
Über die Psychogenese
eines Falles von weiblicher Homosexualität.Von Sigm. Freud.
I.
Die weibliche Homosexualität, gewiß nicht weniger häufig als
die männliche, aber doch weit weniger lärmend als diese, ist nicht
nur vom Strafgesetz übergangen, sondern auch von der psycho-
analytischen Forschung vernachlässigt worden. Die Mitteilung eines
einzelnen, nicht allzu grellen Falles, in dem es möglich wurde,
dessen psychische Entstehungsgeschiehte fast lückenlos und mit voller
Sicherheit zu erkennen, mag daher einen gewissen Anspruch auf Be-
achtung erheben. Wenn die Darstellung nur die allgemeinsten Um-
risse der Geschehnisse und die aus dem Falle gewonnenen Einsichten
bringt und alle charakteristischen Einzelheiten unterschlägt, auf
denen die Deutung ruht, so ist diese Einschränkung durch die von
einem frischen Fall geforderte ärztliche Diskretion leicht erklärlich.Ein 18jähriges, schönes und kluges Mädchen aus sozial hoch-
stehender Familie hat das Mißfallen und die Sorge seiner Eltern,
durch die Zärtlichkeit erweckt, mit der sie, eine etwa zehn Jahre
ältere Dame „aus der Gesellschaft“ verfolgt. Die Eltern behaupten,
daß diese Dame trotz ihres vornehmen Namens nichts anderes ist
als eine Kokotte. Es sei von ihr bekannt, daß sie bei einer ver-
heirateten Freundin lebt, mit der sie intime Beziehungen unterhält,
während sie gleichzeitig in lockeren Liebesverhältnissen zu einer
Anzahl von Männern steht. Das Mädchen bestreitet diese üble Nach-
rede nicht, läßt sich aber durch sie in der Verehrung der Dame nicht
beirren, obwohl es ihr am Sinn für das Schickliche und Reinliche
keineswegs gebricht. Kein Verbot und keine Überwachung hält sie
ab, jede der spärlichen Gelegenheiten zum Beisammensein mit der
Geliebten auszunützen, alle ihre Lebensgewohnheiten auszukund-
schaften, stundenlang vor ihrem Haustor oder an Trambahnhalte-S.
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stellen auf sie zu warten, ihr Blumen zu schicken u. dgl. Es ist
offenkundig, daß dies eine Interesse bei dem Mädchen alle anderen
verschlungen hat. Sie kümmert sich nicht um ihre weitere Ausbil-
dung, legt keinen Wert auf gesellschaftlichen Verkehr und mädchen-
hafte Vergnügungen und hält nur den Umgang mit einigen Freun-
dinnen aufrecht, die ihr als Vertraute oder als Helferinnen dienen
können. Wie weit es zwischen ihrer Tochter und jener zweifel-
haften Dame gekommen ist, ob die Grenzen einer zärtlichen Schwär-
merei bereits überschritten worden sind, wissen die Eltern nicht. Ein
Interesse für junge Männer und Wohlgefallen an deren Huldigungen
haben sie an dem Mädehen nie bemerkt; dagegen sind sie sich klar
darüber, daß diese gegenwärtige Neigung für eine Frau nur in er-
höhtem Maße fortsetzt, was sich in den letzten Jahren für andere
weibliche Personen angezeigt und den Argwohn sowie die Strenge
des Vaters wachgerufen hatte.Zwei Stücke ihres Benehmens, scheinbar einander gegensätzlich,
wurden dem Mädchen von den Eltern am stärksten verübelt. Daß
sie keine Bedenken trug, sich öffentlich in belebten Straßen mit der
anrüchigen Geliebten zu zeigen und also die Rücksicht auf ihren
eigenen Ruf vernachlässigte, und daß sie kein Mittel der Täuschung,
keine Ausrede und keine Lüge verschmähte, um die Zusammen-
künfte mit ihr zu ermöglichen und zu decken. Also zuviel Offen-
heit in dem einen, vollste Verstellung im anderen Falle. Eines Tages
traf es sich, was ja unter diesen Umständen einmal geschehen mußte,
daß der Vater seine Tochter in Begleitung jener ihm bekanntgewor-
denen Dame auf der Straße begegnete. Er ging mit einem zornigen
Blick, der nichts Gutes ankündigte, an den beiden vorüber. Un-
mittelbar darauf riß sich das Mädchen los und stürzte sich über die
Mauer in den dort nahen Einschnitt der Stadtbahn. Sie büßte diesen
unzweifelhaft ernst gemeinten Selbstmordversuch mit einem langen
Krankenlager, aber zum Glück mit nur geringer dauernder Schädi-
gung. Nach ihrer Herstellung fand sie die Situation für ihre
Wünsche günstiger als zuvor. Die Eltern wagten es nicht mehr ihr
ebenso entschieden entgegenzutreten, und die Dame, die sich bis da-
hin gegen ihre Werbung spröde ablehnend verhalten hatte, war
durch einen so unzweideutigen Beweis ernster Leidenschaft gerührt
und begann sie freundlicher zu behandeln.Etwa ein halbes Jahr nach diesem Unfall wendeten sich die
Eltern an den Arzt und stellten ihm die Aufgabe, ihre Tochter
zur Norm zurückzubringen. Der Selbstmordversuch des Mädchens
hatte ihnen wohl gezeigt, daß die Machtmittel der häuslichen Dis-
ziplin nicht im Stande waren, die vorliegende Störung zu bewältigen.
Es ist aber gut, hier die Stellung des Vaters und die der MutterS.
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gesondert zu behandeln. Der Vater war ein ernsthafter, respektabler
Mann, im Grunde sehr zärtlich, durch seine angenommene Strenge
den Kindern etwas entfremdet. Sein Benehmen gegen die einzige
Tochter wurde allzu sehr durch Rücksichten auf seine Frau, ihre
Mutter, bestimmt. Als er zuerst von den homosexuellen Neigungen
der Tochter Kenntnis bekam, Walter er zornig auf und wollte sie
durch Drohungen unterdrücken; er mag damals zwischen verschie-
denen, gleich peinlichen Auffassungen geschwankt haben, ob er ein
lasterhaftes, ein entartetes oder geisteskrankes Wesen in ihr sehen
sollte. Auch nach dem Unfall brachte er es nicht zur Höhe jener
überlegenen Resignation, welcher einer unserer ärztlichen Kollegen
bei einer irgend wie ähnlichen Entgleisung in seiner Familie durch
die Rede Ausdruck gab: „Es ist eben ein Malheur wie ein anderes!“
Die Homosexualität seiner Tochter hatte etwas, was seine vollste
Erbitterung weckte. Er war entschlossen, sie mit allen Mitteln zu
bekämpfen; die in Wien so allgemein verbreitete Geringschätzung
der Psychoanalyse hielt ihn ab, sich an sie um Hilfe zu
wenden. Wenn dieser Weg versagte, hatte er immer noch das stärkste
Gegenmittel im Rückhalt; eine rasche Verheiratung sollte die natür-
lichen Instinkte des Mädchens wachrufen und dessen unnatürliche
Neigungen ersticken.Die Einstellungen der Mutter des Mädchens war nicht so leicht
zu durchschauen. Sie war eine noch jugendliche Frau, die dem
Anspruch, selbst durch Schönheit zu gefallen, offenbar nicht ent-
sagen wollte. Es war nur klar, daß sie die Schwärmerei ihrer
Tochter nicht so tragisch nahm und sich keineswegs so sehr dar-
über entrüstete wie der Vater. Sie hatte sogar durch längere Zeit
das Vertrauen des Mädchens in betreff ihrer Verliebtheit in jene
Dame genossen; ihre Parteinahme dagegen schien wesentlich durch
die schädliche Offenheit bestimmt, mit der die Tochter ihre Ge-
fühle vor aller Welt kundgab. Sie war selbst durch mehrere Jahre
neurotisch gewesen, erfreute sich großer Schonung von Seiten ihres
Mannes, behandelte ihre Kinder recht ungleichmäßig, war eigentlich
hart gegen die Tochter und überzärtlich mit ihren drei Knaben;
von denen der jüngste ein Spätling war, gegenwärtig noch nicht
über drei Jahre alt. Bestimmteres über ihren Charakter zu erfahren,
war nicht leicht, denn infolge von Motiven, die erst später ver-
standen werden können, hielten die Angaben der Patientin über ihre
Mutter stets eine Reserve ein, von der im Falle des Vaters keine
Rede war.Der Arzt, welcher die analytische Behandlung des Mädchens über-
nehmen sollte, hatte mehrere Gründe, sich unbehaglich zu fühlen.
Er fand nicht die Situation vor, welche die Analyse anfordert, undS.
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in der sie allein ihre Wirksamkeit erproben kann. Diese Situation
sieht in ihrer idealen: Ausprägung bekanntlich so aus, daß jemand,
der sonst: sein eigener Herr ist, an einem inneren Konflikt leidet,
den er allein nicht zu Ende bringen kann, daß er dann zum Analytiker
kommt, es ihm klagt und ihn um seine Hilfeleistung bittet, Der
Arzt arbeitet dann Hand in Hand mit dem einen Anteil der krank-
haft entzweiten Persönlichkeit gegen den anderen Partner des Kon-
flikts. Andere Situationen als diese sind für die Analyse mehr oder
minder ungünstig, fügen zu den inneren Schwierigkeiten des Ifalles
neue hinzu. Situationen wie die des Bauherrn, der beim Architekten
eine Villa nach seinem Geschmack und Bedürfnis bestellt, oder des
frommen Stifters, der sich vom Künstler ein Heiligenbild malen
läßt, in dessen Ecke dann sein eigenes Porträt als Anbetender Platz
findet, sind mit den Bedingungen der Psychoanalyse im Grunde nicht
vereinbar. Es kommt zwar alle Tage vor, daß sich ein Ehemann
an den Arzt mit der Information wendet: Meine Frau ist nervös,
sie verträgt sich darum schlecht mit mir; machen Sie sie gesund,
so daß wir wieder eine glückliche Ehe führen können. Aber es
stellt sich oft genug heraus, daß ein solcher Auftrag unausführbar
ist, d. h. daß der Arzt nicht das Ergebnis herstellen kann, wegen
dessen der Mann die Behandlung wünschte. Sowie die Frau von
ihren neurotischen Hemmungen befreit ist, setzt sie die Trennung
der Ehe durch, deren Erhaltung nur unter der Voraussetzung ihrer
Neurose möglich war. Oder Eltern: verlangen, daß man ihr Kind
gesund mache, welches nervös und unfügsam ist. Sie verstehen unter
einem gesunden Kind ein solches, das den Eltern keine Schwierig-
keiten; bereitet, an dem sie ihre Freude haben können. Die Ierstel-
lung des Kindes mag dem Arzt gelingen, aber es geht nach der Ge-
nesung um so entschiedener seine eigenen Wege, und die Ultern sind
jetzt weit mehr unzufrieden als vorher. Kurz, es ist nicht gleich-
gültig, ob ein Mensch aus eigenem Streben in die Analyse kommt,
oder darum, weil andere ihn: dahin bringen, ob er selbst seine Ver-
änderung wünscht oder nur seine Angehörigen, die ihn lieben, oder
von denen man solche Liebe erwarten sollte.Als weitere ungünstige Momente waren die Tatsachen zu be-
werten, daß das Mädchen ja keine Kranke war — sie litt nicht
aus inneren Gründen, beklagte sieh nicht über ihren Zustand —, und
daß die gestellte Aufgabe nicht darin bestand, einen neurotischen
Konflikt zu lösen, sondern die eine Variante der genitalen Sexual-
organisation in die andere überzuführen. Diese Leistung, die Be-
seitigung der genitalen Inversion oder Homosexualität, ist meiner
Erfahrung niemals leicht erschienen. Ich habe vielmehr gefun-
den, daß sie nur unter besonders günstigen Umständen gelingt,S.
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und auch dann bestand der Erfolg wesentlich darin, daß man der
homosexuell eingeengten Person den bis dahin versperrten Weg zum
anderen Geschlecht frei machen konnte, also ihre volle bisexuelle
Funktion wiederherstellte. Es lag dann in ihrem Belieben, ob sie
den anderen, von der Gesellschaft geächteten Weg veröden lassen
wollte, und in einzelnen Fällen hat sie es auch so getan. Man muß
sich sagen, daß auch die normale Sexualität auf einer Einschränkung
der Objektwahl beruht, und im allgemeinen ist das Unternehmen, einen
voll entwickelten Homosexuellen in einen Heterosexuellen zu ver-
wandeln, nicht viel aussichtsreicher als das umgekehrte, nur daß
man dies aus guten praktischen Gründen niemals versucht.Die Erfolge der psychoanalytischen Therapie in der Behand-
lung der allerdings sehr vielgestaltigen Homosexualität sind der
Zahl nach wirklich nicht bedeutsam. In der Regel vermag der
Homosexuelle sein Lustobjekt nicht aufzugeben; es gelingt nicht, ihn
zu überzeugen, daß er die Lust, auf die er hier verzichtet, im Falle
der Umwandlung am anderen Objekt wiederfinden würde. Wenn
er sich überhaupt in Behandlung begibt, so haben ihn zumeist äußere
Motive dazu gedrängt, die sozialen Nachteile und Gefahren seiner
Objektwahl, und solche Komponenten des Selbsterhaltungstriebes er-
weisen sich als zu schwach im Kampfe gegen die Sexualstrebungen.
Man kann dann bald seinen geheimen Plan aufdecken, sich durch
den eklatanten Mißerfolg dieses Versuches die Beruhigung zu schaffen,
daß er das Möglichste gegen seine Sonderartung getan habe und sich
ihr nun mit gutem Gewissen überlassen könne. Wo die Rücksicht
auf geliebte Eltern und Angehörige den Versuch zur Heilung moti-
viert hat, da liegt der Fall etwas anders. Es sind dann wirklich
libidinöse Strebungen vorhanden, die zur homosexuellen Objektwahl
gegensätzliche Energien entwickeln können, aber deren Kraft reicht
selten aus. Nur wo die Fixierung an das gleichgeschlechtliche Objekt
noch nicht stark genug geworden ist, oder wo sich erhebliche Ansätze
und Reste der heterosexuellen Objektwahl vorfinden, also bei noch
schwankender oder bei deutlich bisexueller Organisation, darf die
Prognose der psychoanalytischen Therapie günstiger gestellt werden.Aus diesen Gründen vermied ich es durchaus, den Eltern die
Erfüllung ihres Wunsches in Aussieht zu stellen. Ich erklärte mich
bloß bereit dazu, das, Mädchen durch einige Wochen oder Monate
sorgfältig zu studieren, um mich danach über die Aussichten einer
Beeinflussung durch Fortsetzung der Analyse äußern zu können.
In einer ganzen Anzahl von Fällen zerlegt sich ja die Analyse in
zwei deutlich gesonderte Phasen; in einer ersten verschafft sich der
Arzt die notwendigen Kenntnisse vom Patienten, macht ihn mit den
Voraussetzungen Und Postulaten der Analyse bekannt und entwickeltS.
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vor ihm die Konstruktion der Entstehung seines Leidens, zu welcher
er sich auf Grund des von der Analyse gelieferten Materials berech-
tigt glaubt. In einer zweiten Phase bemächtigt sich der Patient
selbst des ihm vorgelegten Stoffes, arbeitet an: ihm, erinnert von
dem bei ihn angeblich Verdrängten, was er erinnern kann, und
trachtet, das andere in einer Art von Neubelebung zu wiederholen.
Dabei kann er die Aufstellungen des Arztes bestätigen, ergänzen und
zichtigstellen. Erst während dieser Arbeit erfährt er durch die
Überwindung von Widerständen die innere Veränderung, die man
erzielen will, und gewinnt die Überzeugungen, die ihn von der
ärztlichen Autorität unabhängig machen. Nicht immer sind diese
beiden. Phasen im Ablauf der analytischen Kur scharf voneinander
geschieden; es kann dies nur geschehen, wenn der Widerstand be-
stimmte Bedingungen einhält. Aber wo es der Fall ist, kann man
den Vergleich mit zwei entsprechenden Abschnitten einer Reise her-
anziehen. Der erste umfaßt alle notwendigen, heute so komplizierten
und sehwer zu erfüllenden Vorbereitungen, bis man endlich die Fahr-
karte gelöst, den Perron betreten und seinen Platz im Wagen er-
obert hat. Man hat jetzt das Recht und die Möglichkeit, in das
ferne Land. zu reisen, aber man ist nach all diesen Vorarbeiten noch
nicht dort, eigentlich dem Ziele um keinen Kilometer näher gerückt.
Es gehört noch dazu, daß man die Reise selbst von einer Station
zur anderen zurücklege, und dieses Stück der Reise ist mit der
zweiten Phase gut vergleichbar.Die Analyse bei meiner nunmehrigen Patientin verlief nach
diesem Zweiphasenschema, wurde aber nicht über den Beginn der
zweiten Phase hinaus fortgeführt. Eine besondere Konstellation des
Widerstandes ermöglichte es trotzdem, die volle Bestätigung meiner
Konstruktionen und eine im großen und ganzen zureiehende Ein-
sicht in. den Entwicklungsgang ihrer Inversion zu gewinnen. Ehe
ich aber die Ergebnisse der Analyse bei ihr darlege, muß ich einige
Punkte erledigen, die ich entweder schon selbst gestreift oder die
sich dem Leser als die ersten Gegenstände seines Interesses aufge-
drängt haben.Ich hatte die Prognose zum Teil davon abhängig gemacht, wie
weit das Mädchen in der Befriedigung seiner Leidenschaft gekommen
war. Die Auskunft, die ich während der Analyse erhielt, schien
in dieser Hinsicht günstig. Bei keinem der Objekte ihrer Schwär-
merei hatte sie mehr als einzelne Küsse und Umarmungen genossen,
ihre Genitalkeuschheit, wenn man so sagen darf, war unversehrt ge-
blieben. Die Halbweltdame gar, die die jüngsten und weitaus stärk-
sten Gefühle bei ihr erweckt hatte, war spröde gegen sie geblieben,
hatte ihr nie eine höhere Gunst gegönnt als die, ihr die HandS.
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küssen zu dürfen. Das Mädchen machte wahrscheinlich eine Tugend
aus ihrer Not, wenn sie immer wieder die Reinheit ihrer Liebe und
ihre physische Abneigung gegen einen Sexualverkehr betonte. Viel-
leicht hatte sie aber nicht ganz unrecht, wenn sie von ihrer hehren
Geliebten rühmte, daß sie, von vornehmer Herkunft, und nur durch
widrige Familienverhältnisse in ihre gegenwärtige Position gedrängt,
sich auch hier noch ein ganzes Stück Würde bewahrt habe. Denn
diese Dame pflegte ihr bei jedem Zusammentreffen zuzureden, ihre
Neigung von ihr und von den Frauen überhaupt abzuwenden, und
hatte sich bis zum Selbstmordversuch immer nur streng abweisend
gegen sie benommen.Ein zweiter Punkt, den ich alsbald aufzuklären versuchte, be-
traf die eigenen Motive des Mädchens, auf welche die analytische
Behandlung sich etwa stützen konnte. Sie versuchte mich nicht
durch die Behauptung zu täuschen, daß es ihr ein dringendes Be-
dürfnis sei, von ihrer Homosexualität befreit zu werden. Sie könne
sich im Gegenteil gar keine andere Verliebtheit vorstellen, aber,
setzte sie hinzu, der Eltern wegen wolle sie den therapeutischen
Versuch ehrlich unterstützen, denn sie empfinde es sehr schwer,
den Eltern solchen Kummer zu bereiten. Auch diese Äußerung
mußte ich zunächst als günstig auffassen; ich konnte nicht ahnen,
welche unbewußte Affekteinstellung sich hinter ihr verbarg. Was
hier dann später zum Vorschein kam, hat die Gestaltung der Kur
und deren vorzeitigen Abbruch entscheidend beeinflußt.Nichtanalytische Leser werden längst die Beantwortung zweier
anderer Fragen ungeduldig erwarten. Zeigte dieses homosexuelle
Mädchen deutliche somatische Charaktere des anderen Geschlechts
und erwies sie sich als ein Fall von angeborener oder von erworbener
(später entwickelter) Homosexualität?Ich verkenne die Bedeutung nicht, welche der ersteren Frage
zukommt. Nur möge man diese Bedeutung nicht übertreiben und zu
ihren Gunsten die Tatsachen verdunkeln, daß vereinzelte sekundäre
Merkmale des anderen Geschlechts bei normalen menschlichen In-
dividuen überhaupt sehr häufig vorkommen, und daß sehr gut aus-
geprägte somatische Charaktere des anderen Geschlechts sich an
Personen finden können, deren Objektwahl keine Abänderung im
Sinne einer Inversion erfahren hat. Daß also, anders ausgedrückt,
bei beiden Geschlechtern das Maß des physischen Herma-
phroditismus von dem des psychischen im hohen
Grade unabhängig ist. Als Einschränkung der beiden Sätze
ist hinzuzufügen, daß diese Unabhängigkeit beim Manne deutlicher
ist als beim Weibe, wo die körperliche und die seelische Ausprägung
des entgegengesetzten Geschlechtscharakters eher regelmäßig zu-S.
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sammentreffen. Ich bin aber doch nieht in der Lage, die erste der
hier gestellten: Fragen für meinen Fall befriedigend zu beantworten.
Der Psychoanalytiker pflegt sich ja eine eingehende körperliche
Untersuchung seiner Patienten in bestimmten Fällen zu versagen.
Eins auffällige Abweichung vom körperlichen Typus des Weibes
bestand jedenfalls nicht, auch keine menstruale Störung. Wenn das
schöne und wohlgebildete Mädehen den hohen Wuchs des Vaters
und eher scharfe als mädchenhaft weiche Gesichtszüge zeigte, so
mag man darin Andeutungen einer somatischen Männlichkeit er-
blicken. Auf männliches Wesen konnte man auch einige ihrer in-
tellektuellen Eigenschaften beziehen, so die Schärfe ihres Verständ-
nisses und die kühle Klarheit ihres Denkens, insoweit sie nicht
unter der Herrschaft ihrer Leidenschaft stand. Doch sind diese
Unterscheidungen eher konventionell als wissenschaftlich berechtigt.
Bedeutsamer ist gewiß, daß sie in ihrem Verhalten zu ihrem Liebes-
objekt durchaus den männlichen Typus angenommen hatte, also die
Demut und großartige Sexualüberschätzung des liebenden Mannes
zeigte, den Verzicht auf jede narzißtische Befriedigung, die Bevor-
zugung des Liebens vor dem Geliebtwerden. Sie hatte also nicht
nur ein weibliches Objekt gewählt, sondern auch eine männliche
Einstellung zu ihm gewonnen.Die andere Frage, ob ihr Fall einer angeborenen oder einer
erworbenen Homosexualität entsprach, soll durch die ganze Ent-
wieklungsgeschichte ihrer Störung beantwortet werden. Dabei wird
sich ergeben, inwieweit diese Fragestellung selbst unfruchtbar und
unangemessen ist.II.
Auf eine so weitschweifige Einleitung kann ich nun eine ganz
knappe und übersichtliche Darstellung der Libidogeschichte dieses
Falles folgen lassen. Das Mädchen hatte in den Kinderjahren die
normale Einstellung des weiblichen Ödipuskomplexes1) in wenig auf-
fälliger Weise durchgemacht, später auch begonnen, den Vater durch
den um wenig älteren Bruder zu ersetzen. Sexuelle Traumen in
früher Jugend wurden weder erinnert noch durch die Analyse auf-
gedeckt. Die Vergleichung der Genitalien des Bruders mit den
eigenen, die etwa zu Beginn der Latenzzeit (zu fünf Jahren oder
etwas früher) vorfiel, hinterließ ihr einen starken Eindruck und war
in ihren Nachwirkungen weit zu verfolgen. Auf frühinfantile Ona-
nie deutete sehr wenig, oder die Analyse kam nicht so weit, um1) Ich sehe in der Einführung des Terminus „Elektrakomplex“ keinen Fort-
schritt oder Vorteil und möchte denselben nicht befürworten.S.
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diesen Punkt aufzuklären. Die Geburt eines zweiten Bruders, als
sie zwischen fünf und sechs Jahren alt war, äußerte kernen beson-
deren Einfluß auf ihre Entwicklung. In den Schul- und Vorpubertäts-
jahren wurde sie allmählich mit den Tatsachen des Sexuallebens
bekannt und empfing dieselben mit dem normal zu nennenden, auch
im Ausmaß nicht übertriebenen Gemenge von Lüsternheit und er-
schreckter Ablehnung. Alle diese Auskünfte erscheinen recht mager,
ich kann auch nicht dafür einstehen, daß sie vollständig sind. Viel-
leicht war die Jugendgeschichte doch weit reichhaltiger; ich weiß
es nicht. Die Analyse brach, wie gesagt, nach kurzer Zeit ab und
lieferte darum eine Anamnese, die nicht viel verläßlicher ist als die
anderen, mit gutem Recht beanstandeten Anamnesen von Homo-
sexuellen. Das Mädchen war auch niemals neurotisch gewesen, brachte
nicht ein hysterisches Symptom in die Analyse mit, so daß sich
die Anlässe zur Durchforschung ihrer Kindergeschichte nicht so bald
ergeben konnten.Mit 13 und 14 Jahren zeigte sie eine, nach dem Urteil Aller
übertrieben starke, zärtliche Vorliebe für einen kleinen, noch nicht
dreijährigen Jungen, den sie in einem Kinderpark regelmäßig sehen
konnte. Sie nahm sich des Kindes so herzlich an, daß daraus eine
langdauernde freundschaftliche Beziehung zu den Eltern des Kleinen
entstand. Man darf aus diesem Vorfall schließen, daß sie damals
von einem starken Wunsche, selbst Mutter zu sein und ein Kind
zu haben, beherrscht war. Aber kurze Zeit nachher wurde ihr der
Knabe gleichgültig, und sie begann ein Interesse für reife, doch
noch jugendliche Frauen zu zeigen, dessen Äußerungen ihr bald eine
empfindliche Züchtigung von seiten des Vaters zuzogen.Es wurde über jeden Zweifel sichergestellt, daß diese Wand-
lung zeitlich mit einem Ereignis in der Familie zusammenfällt, von
dem wir demnach die Aufklärung der Wandlung erwarten dürfen.
Vorher war ihre Libido auf Mütterlichkeit eingestellt gewesen, nach-
her war sie eine in reifere Frauen verliebte Homosexuelle, was sie
seither geblieben ist. Dies für unser Verständnis so bedeutsame Er-
eignis war eine neue Gravidität der Mutter und die Geburt eines
dritten Bruders, als sie etwa 16 Jahre alt war.Der Zusammenhang, den ich nun im folgenden aufdecken werde,
ist kern Produkt meiner Kombinationsgabe; er ist mir durch so ver-
trauenswürdiges analytisches Material nahegelegt worden, daß ich
objektive Sicherheit für ihn beanspruchen kann. Insbesondere hat
eine Reihe von ineinander greifenden, leicht deutbaren Träumen für
ihn entschieden.Die Analyse ließ unzweideutig erkennen, daß die geliebte Dame
ein Ersatz für die — Mutter war. Nun war diese selbst allerdingsS.
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keine Mutter, aber sie war auch nicht die erste Liebe des Mädchens
gewesen. Die ersten Objekte ihrer Neigung seit der Geburt des
letzten Bruders waren wirklich Mütter, Frauen zwischen 30 und 35
Jahren, die sie mit ihren Kindern in der Sommerfrische oder im
Familienverkehr der Großstadt kennen lernte. Die Bedingung der
Mütterlichkeit wurde später fallen gelassen, weil sie sich mit einer
anderen, die immer gewichtiger wurde, in der Realität nicht gut
vertrug. Die besonders intensive Bindung an die letzte Geliebte, die
„Dame“, hatte noch einen anderen Grund, den das Mädchen eines
Tages obne Mühe auffand. Sie wurde durch die schlanke Erschei-
nung, die strenge Schönheit und das rauhe Wesen der Dame an ihren
eigenen, etwas älteren Bruder gemahnt. Das endlich gewählte Objekt
entsprach also nicht nur ihrem Frauen-, sondern auch ihrem Männer-
ideal, es vereinigte die Befriedigung der homosexuellen Wunsch-
richtung mit jener der heterosexuellen. Bekanntlich hat die Analyse
männlicher Homosexueller in zahlreichen Fällen das nämliche
Zusammentreffen gezeigt, ein Wink, sich Wesen und Entstehung
der Inversion nicht allzu einfach vorzustellen und die durch-
gängige Bisexualität des Menschen nicht aus dem Auge zu ver-
lieren1).Wie soll man es aber verstehen, daß das Mädchen gerade durch
die Geburt eines späten Kindes, als sie selbst schon reif geworden
war und eigene starke Wünsche hatte, bewogen wurde, ihre leiden-
schaftliche Zärtlichkeit der Gebärerin dieses Kindes, ihrer eigenen
Mutter, zuzuwenden und an einer Vertreterin der Mutter zum Aus-
druck zu bringen? Nach allem, was man sonst weiß, hätte man das
Gegenteil erwarten sollen. Die Mütter pflegen sich unter solchen
Umständen vor ihren beinahe heiratsfähigen Töchtern zu genieren,
die Töchter haben für die Mutter ein aus Mitleid, Verachtung und
Neid gemischtes Gefühl bereit, das nichts dazu beiträgt, die Zärtlich-
keit für die Mutter zu steigern. Das Mädchen unserer Beobachtung
hatte überhaupt wenig Grund, für ihre Mutter zärtlich zu empfinden.
Der selbst noch jugendlichen Frau war diese rasch erblühte Tochter
eine unbequeme Konkurrentin, sie setzte sie hinter den Knaben zu-
rück, schränkte ihre Selbständigkeit möglichst ein und wachte be-
sonders eifrig darüber, daß sie dem Vater ferne blieb. Ein Bedürfnis
nach einer liebenswürdigeren Mutter mag also bei dem Mädchen von
jeher gerechtfertigt gewesen sein; warum es aber damals und in
Gestalt einer verzehrenden Leidenschaft aufflackerte, ist nieht be-
greiflich.1) Vgl. J. Sadger, Jahresbericht über sexuelle Perversionen. Jahrbuch
der Psychoanalyse, VI, 1914 und a. a. O.S.
11
Die Erklärung ist die folgende: Das Mädchen befand sich in der
Phase der Pubertätsauffrischung des infantilen Ödipuskomplexes, als
die Enttäuschung über sie kam. Hell bewußt wurde ihr der Wunsch,
ein Kind zu haben, und zwar ein männliches; daß es ein Kind vom
Vater und dessen Ebenbild sein sollte, durfte ihr Bewußtes nicht
erfahren. Aber da geschah es, daß nicht sie das Kind bekam, son-
dern die im Unbewußten gehaßte Konkurrentin, die Mutter. Empört
und erbittert wendete sie sich vom Vater, ja vom Manne überhaupt
ab Nach diesem ersten großen Mißerfolg verwarf sie ihre Weib-
lichkeit und strebte nach einer anderen Unterbringung ihrer Libido.Sie benahm sich dabei ganz ähnlich wie viele Männer, die nach
einer ersten peinlichen Erfahrung dauernd mit dem treulosen Ge-
schlecht der Frauen zerfallen und Weiberfeinde werden. Von einer
der anziehendsten und unglücklichsten fürstlichen Persönlichkeiten
unserer Lebenszeit wird erzählt, daß er darum homosexuell geworden,
weil ihn die verlobte Braut mit einem fremden Gesellen hinter-
gangen hatte. Ich weiß nicht, ob dies historische Wahrheit ist,
aber ein Stück psychologischer Wahrheit steckt hinter diesem Ge-
rücht. Unser aller Libido schwankt normalerweise lebenslang zwi-
schen dem männlichen und dem weiblichen Objekt; der Junggeselle
gibt seine Freundschaften auf, wenn er heiratet, Und kehrt zum Stamm-
tisch zurück, wenn seine Ehe schal geworden ist. Freilich, wo die
Schwankung so gründlich und so endgültig ist, da richtet sich unsere
Vermutung auf ein besonderes Moment, welches die eine oder die
andere Seite entscheidend begünstigt, vielleicht nur auf den geeig-
neten Zeitpunkt gewartet hat, um die Objektwahl nach seinem Sinne
durchzusetzen.Unser Mädchen hatte also nach jener Enttäuschung den Wunsch
nach dem Kinde, die Liebe zum Manne und die weibliche Bolle über-
haupt von sich gewiesen. Und nun hätte offenbar sehr Verschieden-
artiges geschehen können; was wirklich geschah, war das Extremste.
Sie wandelte sich zum Manne um und nahm die Mutter an Stelle
des Vaters zum Liebesobjekt1). Ihre Beziehung zur Mutter war
sicherlich von Anfang an ambivalent gewesen, es gelang leicht, die
frühere Liebe zur Mutter wiederzubeleben und mit ihrer Hilfe die
gegenwärtige Feindseligkeit gegen die Mutter zur Überkompensation
zu bringen. Da mit der realen Mutter wenig anzufangen war, ergab
sich aus der geschilderten Gefühlsumsetzung das Suchen nach einem1) Es ist gar nicht so selten, daß man eine Liebesbeziehung dadurch ab-
bricht, daß man sich selbst mit dem Objekt derselben identifiziert, was einer
Art von Regression zum Narzißmus entspricht. Nachdem dies erfolgt ist, kann
man bei neuerlicher Objektwahl leicht das dem früheren entgegengesetzte Ge-
schlecht mit seiner Libido besetzen.S.
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Mutterersatz, an: dem man mit leidenschaftlicher Zärtlichkeit hängen
konnte1).Ein praktisches Motiv aus ihren: realen Beziehungen zur Mutter
kam als „Krankheitsgewinn“ noch hinzu. Die Mutter legte selbst noch
Wert darauf, von Männern hofiert und gefeiert zu werden. Wenn
sie also homosexuell wurde, der Mutter die Männer überließ, ihr
sozusagen „auswich“, räumte sie etwas aus dem Wege, was bisher
an der Mißgunst der Mutter Schuld getragen hatte2).Die so gewonnene Libidoeinstellung wurde nun gefestigt, als
das Mädchen merkte, wie unangenehm sie dem Vater war. Seit jener
ersten Züchtigung wegen einer allzu zärtlichen Annäherung an eine
Frau wußte sie, womit sie den Vater kränken, und wie sie sich an1) Die hier beschriebenen Verschiebungen der Libido sind gewiß jedem
Analytiker-aus der Erforschung der Anamnesen von-Neurotikern bekannt. Nur
fallen sie bei diesen letzteren im zarten Kindesalter, zur Zeit der Frühblüte des
Liebeslebens vor, bei unserem ganz und gar nicht neurotischen Mädchen voll-
ziehen sie sich in den ersten Jahren nach der Pubertät, übrigens gleichfalls
völlig unbewußt. Ob dieses zeitliche Moment sich nicht einstmals als sehr
bedeutsam herausstellen wird?2) Da ein solches Ausweichen bisher unter den Ursachen der Homosexualität
wie im Mechanismus der Libidofixierung überhaupt keine Erwähnung gefunden
hat, will ich eine ähnliche analytische Beobachtung hier anschließen, die durch
einen besonderen Umstand interessant ist. Ich habe einst zwei Zwillingsbrüder
kennen gelernt, die beide mit starken libidinösen Impulsen begabt waren. Der
eine von ihnen hatte viel Glück bei Frauen und ließ sich in ungezählte Ver-
hältnisse mit Frauen und Mädchen ein. Der andere war zuerst auf demselben
Wege, aber dann wurde es ihm unangenehm, dem Bruder ins Gehege zu kommen,
infolge seiner Ähnlichkeit bei intimen Anlässen mit ihm verwechselt zu werden,
und er half sich dadurch, daß er homosexuell wurde. Er überließ dem Bruder
die Frauen und war ihm so „ausgewichen“. Ein andermal behandelte ich einen
jüngeren Mann, Künstler und unverkennbar bisexuell angelegt, bei dem sich
die Homosexualität gleichzeitig mit einer Arbeitsstörung durchgesetzt hatte. Er
floh in einem die Frauen und sein Werk. Die Analyse, die ihn zu beiden
zurückführen konnte, wies die Scheu vor dem Vater als das mächtigste psychische
Motiv für beide Störungen, eigentlich Entsagungen, nach. In seiner Vorstel-
lung gehörten alle Frauen dem Vater, und er flüchtete zu den Männern aus Er-
gebenheit, um dem Konflikt mit dem Vater auszuweichen, Solche Motivierung
der homosexuellen Objektwahl muß sich häufiger finden lassen; in den Ur-
zeiten des Menschengeschlechtes war es wohl so, daß alle Frauen dem Vater und
Oberhaupt; der Urhorde gehörten. — Bei Geschwistern, die nicht Zwillinge sind,
spielt solches Ausweichen auch auf anderen Gebieten als dem der Liebeswahl
eine große Rolle. Der ältere Bruder pflegt z. B. Musik und findet dafür An-
erkennung, der jüngere, musikalisch weit begabter, bricht trotz seiner Sehn-
sucht danach das Musikstudium bald ab und ist nicht mehr zu bewegen, ein
Instrument zu berühren. Es ist dies ein einzelnes Beispiel für ein sehr häufiges
Vorkommen, und die Untersuchung der Motive, die zum Ausweichen anstatt
zur Aufnahme der Konkurrenz führen, deckt sehr komplizierte psychische Be-
dingungen auf.S.
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ihm rächen konnte. Sie blieb jetzt homosexuell aus Trotz gegen den
Vater Sie machte sich auch kein Gewissen daraus, ihn auf jede
Weise zu hintergehen und zu belügen. Gegen die Mutter war sie
ja nur so weit unaufrichtig, als es nötig war, damit der Vater nichts
erfahre. Ich hatte den Eindruck, daß sie nach dem Grundsatz der
Talion handelte: Hast du mich betrogen, so mußt du es dir gefallen
lassen, daß ich auch dich betrüge. Auch die auffälligen Unvor-
sichtigkeiten des sonst raffiniert klugen Mädchens kann ich nicht
anders beurteilen. Der Vater mußte doch gelegentlich von ihrem Um-
gang mit der Dame erfahren, sonst wäre ihr die Rachebefriedigung,
die ihr die dringendste war, entgangen. So sorgte sie dafür, indem
sie sich mil der Angebeteten öffentlich zeigte, in den Straßen nahe
dem Geschäftslokal des Vaters spazieren ging u. dgl. Auch diese
Ungeschicklichkeiten geschahen nicht absichtslos. Es ist übrigens
merkwürdig, daß beide Eltern sich so benahmen, als ob sie die
geheime Psychologie ihrer Tochter verstünden. Die Mutter zeigte
sich tolerant, als ob sie das Ausweichen der Tochter als Gefällig-
keit würdigte, der Vater raste, als fühlte er die gegen seine Person
gerichtete Racheabsicht.Die letzte Kräftigung erfuhr aber die Inversion des Mädchens,
als sie in der „Dame“ auf ein Objekt stieß, welches gleichzeitig dem
noch am Bruder haftenden Anteil ihrer heterosexuellen Libido Be-
friedigung bot.III.
Die lineare Darstellung eignet sich wenig zur Beschreibung der
verschlungenen und in verschiedenen seelischen Schichten ablaufen-
den seelischen Vorgänge. Ich bin genötigt, in der Diskussion des
Falles innezuhalten und einiges von dem Mitgeteilten zu erweitern
und zu vertiefen.Ich habe erwähnt, daß das Mädchen in ihrem Verhältnis zur
verehrten Dame den männlichen Typus der Liebe annahm. Ihre
Demut und zärtliche Anspruchslosigkeit, „che poco spera e nulla
chiede“, die Seligkeit, wenn ihr gestattet wurde, die Dame ein Stück
weit zu begleiten und ihr beim Abschied die Hand zu küssen, die
Freude, wenn sie sie als schön rühmen hörte, während die Anerken-
nung ihrer eigenen Schönheit von fremder Seite ihr gar nichts be-
deutete, ihre Pilgerbesuche nach Örtlichkeiten, wo die Geliebte sich
vorher einmal aufgehalten hatte, das Verstummen aller weiter rei-
chenden sinnlichen Wünsche: alle diese kleinen Züge entsprachen
etwa der ersten schwärmerischen Leidenschaft eines Jünglings für
eine gefeierte Künstlerin, die er hoch über sich stehend glaubt, und
zu der er seinen Blick nur schüchtern zu erheben wagt. Die Über-S.
14
einstimmung mit einem von mir beschriebenen „Typus der männ-
lichen Objektwahl“, dessen Besonderheiten ich auf die Bindung an
die-Mutter zurückgeführt habe1), ging bis in die Einzelheiten. Es
konnte auffällig erscheinen, daß sie durch den schlechten Leumund
der Geliebten nicht im mindesten abgeschreckt wurde, obwohl ihre
eigenen Beobachtungen sie von der Berechtigung dieser Nachrede
genügend. überzeugten. Sie war doch eigentlich ein wohlerzogenes
und keusches Mädchen, das für ihre eigene Person sexuellen Aben-
teuern aus dem Wege gegangen war und grobsinnliche Befriedigungen
als unästhetisch empfand. Aber bereits ihre ersten Schwärmereien
hatten Frauen gegolten, denen man keine Neigung zu besonders
strenger Sittlichkeit nachrühmte. Den ersten Protest des Vaters
gegen ihre Liebeswahl hatte sie durch die Hartnäckigkeit hervor-
gerufen, mit der sie sich um den: Verkehr mit einer Kinoschauspielerin
an jenem Sommerorte bemühte. Dabei hatte es sich keineswegs um
Frauen gehandelt, die etwa im Rufe der Homosexualität standen
und ihr somit Aussicht auf solche Befriedigung geboten hätten;
vielmehr warb sie unlogischerweise um kokette Frauen im gewöhn-
liehen Sinne des Wortes; eine homosexuelle, ihr gleichaltrige Freun-
din, die sich ihr bereitwilligst zur Verfügung stellte, wies sie ohne
Bedenken ab. Der schlechte Ruf der „Dame“ aber war geradezu
eine Liebesbedingung für sie, und alles Rätselhafte dieses Verhaltens
verschwindet, wenn wir uns erinnern, daß auch für jenen von der
Mutter abgeleiteten männlichen Typus der Objektwahl die Bedingung
besteht, daß die Geliebte irgendwie „sexuell anrüchig“ sei, eigentlich
eine Kokotte genannt werden dürfe. Als sie später erfuhr, in wel-
chem Ausmaß diese Kennzeichnung für ihre verehrte Dame zutraf,
und daß diese einfach von der Preiegabe ihres Körpers lebte, be-
stand ihre Reaktion: in einem großen Mitleid und in der Entwicklung
von Phantasien und Vorsätzen, wie sie die Geliebte aus diesen un-
würdigen Verhältnissen „retten“ könne. Dieselben Rettungsbestre-
bungen sind uns bei den Männern jenes von mir beschriebenen Typus
aufgefallen, und ich habe an der erwähnten Stelle die analytische
Ableitung dieses Strebens zu geben versucht.In ganz andere Regionen der Erklärung führt die Analyse des
Selbstmordversuches, den ich als einen ernstgemeinten gelten lassen
muß, der übrigens ihre Position sowohl bei den Eltern als auch bei
der geliebten Dame beträchtlich verbesserte. Sie ging eines Tages
mit ihr in einer Gegend und zu einer Stunde spazieren, wo eine
Begegnung mit dem vom Bureau kommenden Vater nicht unwahr-
scheinlich war. Der Vater ging auch an ihnen vorüber und warf1) Sammlung kl. Schriften zur Neurosenlehre, IV, Folge, 1919.
S.
15
einen wütenden Blick auf sie und die ihm bereite bekannte Beglei-
terin. Kurz darauf stürzte sie sieh in den Stadtbahngraben. Ihre
Rechenschaft von der näheren Verursachung ihres Entschlusses klingt
nun ganz plausibel. Sie hatte der Dame eingestanden, daß der Herr,
der sie beide so böse angeschaut hatte, ihr Vater sei, der von diesem
Verkehr absolut nichts wissen wolle. Die Dame war nun aufgebraust,
hatte ihr befohlen, sie sofort zu verlassen und nie mehr zu erwarten
oder anzureden, diese Geschichte müsse nun ein Ende haben. In
der Verzweiflung darüber, daß sie so die Geliebte für immer ver-
loren habe, wollte sie sich den Tod geben. Die Analyse gestattete
aber eine andere und tiefer greifende Deutung hinter der ihrigen
aufzudecken und durch ihre eigenen Träume zu stützen. Der Selbst-
mordversuch war, wie man erwarten durfte, außerdem noch zweier-
lei: eine Straferfüllung (Selbstbestrafung) und eine Wunscherfül-
lung. Als letztere bedeutete er die Durchsetzung jenes Wunsches,
dessen Enttäuschung sie in die Homosexualität getrieben hatte,
nämlich vom Vater ein Kind zu bekommen, denn nun kam sie
durch die Schuld des Vaters nieder1). Es stellt die Verbindung
dieser Tiefendeutung mit der dem Mädchen bewußten, oberfläch-
lichen her, daß in diesem Moment die Dame genau so gesprochen
hatte wie der Vater und das: nämliche Verbot hatte ergehen
lassen. Als Selbstbestrafung bürgt uns die Handlung des Mäd-
chens dafür, daß sie starke Todeswünsche gegen den einen oder
den anderen Elternteil in ihrem Unbewußten entwickelt hatte.
Vielleicht aus Rachsucht gegen den ihre Liebe störenden Vater,
noch wahrscheinlicher aber auch gegen die Mutter, als; sie mit
dem kleinen Bruder schwanger ging. Denn die Analyse hat uns
zum Rätsel des Selbstmordes die Aufklärung gebracht, daß viel-
leicht niemand die psychische Energie sich zu töten findet, der
nicht erstens dabei ein Objekt mittötet, mit dem er sich identifiziert
hat, und der nicht zweitens dadurch einen Todeswunsch gegen sich
selbst wendet, welcher gegen eine andere Person gerichtet war. Die
regelmäßige Aufdeckung solcher unbewußter Todeswünsche beim
Selbstmörder braucht übrigens weder zu befremden, noch als Bestä-
tigung unserer Ableitungen zu imponieren, denn das Unbewußte aller
Lebenden ist von solchen Todeswünschen, selbst gegen sonst geliebte
Personen, übervoll2). In der Identifizierung mit der Mutter, die
an der Niederkunft mit diesem, ihr (der Tochter) vorenthaltenen,1) Diese Deutungen der Wege des Selbstmords durch sexuelle Wunscherfül-
lungen sind längst allen Analytikern vertraut. (Vergiften = schwanger werden,
ertränken = gebären; von einer Höhe herabstürzen — niederkommen.)2) Vgl. Zeitgemäßes über Krieg und Tod, Imago, IV, 1915 — Sammlung
IV. Folge, 1919.S.
16
Kinde hätte sterben sollen, ist aber diese Straferfüllung selbst wieder
eine Wunscherfüllung. Endlich, daß die verschiedensten starken
Motive zusammenwirken mußten, um eine Tat wie die unseres Mäd-
chens zu ermöglichen, wird unserer Erwartung nicht widersprechen.In der Motivierung des Mädchens kommt der Vater nicht vor,
nicht einmal die Angst vor seinem Zorn wird erwähnt. In der von
der Analyse erratenen Motivierung fällt ihm die Hauptrolle zu. Die-
selbe entscheidende Bedeutung hatte das Verhältnis zum Vater auch
für den Verlauf und den Ausgang der analytischen Behandlung
oder vielmehr Exploration. Hinter der vorgeschützten Rücksicht
auf die Eltern, denen zuliebe sie den Versuch einer Umwandlung
unterstützen wollte, verbarg sich die Trotz- und Racheeinstellung
gegen den Vater, welche sie in der Homosexualität festhielt. Durch
solche Deckung gesichert, gab der Widerstand ein großes Gebiet
der analytischen Erforschung frei. Die Analyse vollzog sich fast
ohne Anzeichen von Widerstand, unter reger intellektueller Beteili-
gung der Analysierten, aber auch bei völliger Gemütsruhe derselben.
Als ich ihr einmal ein besonders wichtiges und sie nahe betreffendes
Stück der Theorie auseinandersetzte, äußerte sie mit unnachahmlicher
Betonung: Ach, das ist ja sehr interessant, wie eine Weltdame, die
durch ein Museum geführt wird und Gegenstände, die ihr voll-
kommen gleichgültig sind, durch ein Lorgnon in Augenschein nimmt.
Der Eindruck von ihrer Analyse näherte sich dem einer hypnotischen
Behandlung, in welcher sich der Widerstand gleichfalls bis zu einer
bestimmten Grenze zurückgezogen hat, an der er sich dann als un-
besiegbar erweist. Dieselbe — russische — Taktik, könnte man sie
nennen, befolgt der Widerstand sehr oft in Fällen von Zwangs-
neurose, die darum eine Zeitlang die klarsten Ergebnisse liefern
und einen tiefen Einblick in die Verursachung der Symptome ge-
statten. Man beginnt dann sich zu wundern, warum so große Fort-
schritte im analytischen: Verständnis auch nicht die leiseste Ände-
rung in den Zwängen und Hemmungen des Kranken mit sich bringen,
bis man endlich bemerkt, daß alles, was man zu stande gebracht
hat, mit dem Vorbehalt des Zweifels behaftet war, hinter welchem
Schutzwall sich die Neurose sicher fühlen dürfte. „Es wäre ja
alles recht schön,“ heißt es im Kranken, oft auch bewußterweise,
„wenn ich dem Manne Glauben schenken müßte, aber davon ist ja
keine Rede, und solange das nicht der Fall ist, brauche ich auch
nichts zu ändern.“ Nähert man sich dann der Motivieruug dieses
Zweifels, so bricht der Kampf mit den Widerständen ernsthaft los.Bei unserem Mädchen war es nicht der Zweifel, sondern das
affektive Moment der Rache am Vater, das ihre kühle Reserve er-
möglichte, die Analyse deutlich in zwei Phasen zerlegte und dieS.
17
Ergebnisse der ersten Phase so vollständig und übersichtlich werden
ließ. Es hatte auch den Anschein, als ob bei dem Mädchen nichts
einer Übertragung auf den Arzt Ähnliches zu stande gekommen sei.
Aber das ist natürlich ein Widersinn oder eine ungenaue Ausdrucks-
weise; irgend ein Verhältnis zum Arzt muß sich doch herstellen
und dies wird zu allermeist aus einer infantilen Relation übertragen
sein. In Wirklichkeit übertrug sie auf mich die gründliche Ableh-
nung des Mannes, von der sie seit ihrer Enttäuschung durch den
Vater beherrscht war. Die Erbitterung gegen den Mann hat es
in der Regel leicht, sich am Arzt zu befriedigen, sie braucht keine
stürmischen Gefühlsäußerungen hervorzurufen, sie äußert sich ein-
fach in der Vereitlung all seiner Bemühungen und im Festhalten
am Kranksein. Ich weiß aus Erfahrung, wie schwierig es ist, den
Analysierten zum Verständnis gerade dieser stummen Symptomatik
zu bringen und solche latente, oft exzessiv große, Feindseligkeit
ohne Gefährdung der Kur bewußt zu machen. Ich brach also ab,
sobald ich die Einstellung des Mädchens zum Vater erkannt hatte,
und gab den Rat, den therapeutischen Versuch, wenn man Wert
auf ihn legte, bei einer Ärztin fortführen zu lassen. Das Mädchen
hatte unterdes dem Vater das Versprechen abgegeben, wenigstens
den Verkehr mit der „Dame“ zu unterlassen, und ich weiß nicht,
ob mein Rat, dessen Motivierung ja durchsichtig ist, befolgt wer-
den wird.Ein einziges Mal kam auch in dieser Analyse etwas vor, was
ich als positive Übertragung, als außerordentlich abgeschwächte Er-
neuerung der ursprünglichen leidenschaftlichen Verliebtheit in den
Vater auffassen konnte. Auch diese Äußerung war vom Zusatz
eines anderen Motivs nicht frei, ich erwähne sie aber, weil sie nach
anderer Sichtung ein interessantes Problem der analytischen Technik
zur Frage bringt. Zu einer gewissen Zeit, nicht lange nach dem
Beginn der Kur, brachte das Mädchen eine Reihe von Träumen vor,
die, gebührend entstellt und in korrekter Traumsprache abgefaßt,
doch leicht und sicher zu übersetzen waren. Ihr gedeuteter Inhalt
war aber auffällig. Sie antizipierten die Heilung der Inversion durch
die Behandlung, drückten ihre Freude über die ihr nun eröffneten
Lebensaussichten aus, gestanden die Sehnsucht nach der Liebe eines
Mannes und nach Kindern ein und konnten somit als erfreuliche Vor-
bereitung zur erwünschten Wandlung begrüßt werden. Der Wider-
spruch gegen ihre gleichzeitigen Äußerungen im Wachen war sehr
groß. Sie machte mir kein Hehl daraus, daß sie zwar zu heiraten
gedenke, aber nur um sich der Tyrannei des Vaters zu entziehen
und ungestört ihren wirklichen Neigungen zu leben. Mit dem Manne,
meinte sie etwas verächtlich, würde sie schon fertig werden, undS.
18
endlich könne man ja, wie das Beispiel der verehrten Dame zeige,
auch gleichzeitig sexuelle Beziehungen mit einem Manne und mit
einer Frau haben. Durch irgend einen leisen Eindruck gewarnt, er-
klärte ich ihr eines Tages, ich glaube diesen Träumen nicht, sie
seien lügnerisch oder heuchlerisch, und ihre Absicht sei, mich zu
betrügen, wie sie den Vater zu betrügen pflegte. Ich hatte Recht,
diese Art von Träumen blieb von dieser Aufklärung an aus. Ich
glaube aber doch, neben der Absicht der Irreführung lag auch ein
Stück Werbung in diesen Träumen; es war auch ein Versuch, mein
Interesse und meine gute Meinung zu gewinnen, vielleicht um mich
später desto gründlicher zu enttäuschen.Ich kann mir vorstellen, daß der Hinweis auf die Existenz
solch lügnerischer Gefälligkeitsträume bei manchen, die sich Ana-
Iytiker nennen, einen wahren Sturm von hilfloser Entrüstung ent-
fesseln wird. „Also kann auch das Unbewußte lügen, der wirkliche
Kern: unseres Seelenlebens, dasjenige in uns, was dem Göttlichen
so viel näher ist als unser armseliges Bewußtsein! Wie kann man
dann noch auf die Deutungen der Analyse und die Sicherheit unserer
Erkenntnisse bauen?“ Dagegen muß gesagt werden, daß die An-
erkennung solch lügenhafter Träume eine erschütternde Neuheit
nicht bedeutet. Ich weiß zwar, daß das Bedürfnis der Menschen
nach Mystik unausrottbar ist, und daß es unablässige Versuche macht,
das durch die „Traumdeutung“ der Mystik entrissene Gebiet für sie
wiederzugewinnen, aber in dem Falle, der uns beschäftigt, liegt doch
alles einfach genug. Der Traum ist nicht das „Unbewußte“, er !st
die Form, in welche ein aus dem Vorbewußten oder selbst aus dem
Bewußten des Wachlebens erübrigter Gedanke dank den Begünsti-
gungen des Schlafzustandes umgegossen werden konnte, Im Schlaf-
zustand hat er die Unterstützung unbewußter Wunschregungen ge-
wonnen und dabei die Entstellung durch die „Traumarbeit“ erfahren,
welche durch die fürs Unbewußte geltenden Mechanismen bestimmt
wird. Bei unserer Träumerin stammte die Absicht, mich irre zu
führen, wie sie es beim Vater zu tun pflegte, gewiß aus dem Vor-
bewußten, wenn sie nicht etwa gar bewußt war; sie konnte sich num
durchsetzen, indem sie mit der unbewußten Wunschregung, dem Vater
(oder Vaterersatz) zu gefallen, in Verbindung trat, und schuf so einen
lügnerischen Traum. Die beiden Absichten, den Vater zu betrügen
und dem Vater zu gefallen, stammen. aus demselben Komplex; die
erstere ist aus der Verdrängung der letzteren erwachsen, die spätere
wird durch die Traumarbeit auf die frühere zurückgeführt. Von
einer Entwürdigung des Unbewußten, von einer Erschütterung des
Zuirauens in die Ergebnisse unserer Analyse kann also nicht die
Rede sein.S.
19
Ich will die Gelegenheit nicht versäumen, auch einmal das Er-
staunen darüber zu Worte kommen zu lassen, daß die Menschen so
große und bedeutungsvolle Stücke ihres Liebeslebens durchmachen
können ohne viel davon zu bemerken, ja mitunter, ohne das mindeste
davon zu ahnen, oder daß sie, wenn es zu ihrem Bewußtsein kommt,
sich mit dem Urteil so gründlich darüber täuschen. Das geschieht
nicht nur unter den Bedingungen der Neurose, wo wir mit dem
Phänomen vertraut sind, sondern scheint auch sonst recht gewöhnlich
zu sein In unserem Falle entwickelt ein Mädchen eine Schwärmerei
für Frauen, die von den Eltern zuerst nur als ärgerlich empfunden,
aber kaum ernst genommen wird; sie selbst weiß wohl, wie sehr sie
davon in Anspruch genommen wird, fühlt aber doch nur wenig von
den Sensationen einer intensiven Verliebtheit, bis sich bei einer be-
stimmten Versagung eine ganz exzessive Reaktion ergibt, die allen
Teilen zeigt, daß man es mit einer verzehrenden Leidenschaft von
elementarer Stärke zu tun hat. Von den Voraussetzungen, die für das
Hervorbrechen eines solchen seelischen Sturmes erforderlich sind, hat
auch das Mädchen niemals etwas bemerkt. Andere Male trifft man
auf Mädchen oder Frauen in schweren Depressionen, die, nach der
möglichen Verursachung ihres Zustandes befragt, die Auskunft geben,
sie haben wohl ein gewisses Interesse für eine bestimmte Person ver-
spürt, aber es sei ihnen nicht tief gegangen und sie seien sehr bald
damit fertig geworden, nachdem es aufgegeben werden mußte. Und
doch ist dieser anscheinend so leicht ertragene Verzicht die Ursache
der schweren Störung geworden. Oder man hat es mit Männern zu
tun, die oberflächliche Liebesbeziehungen zu Frauen erledigt haben
und erst, aus den Folgeerscheinungen erfahren müssen, daß sie in das
angeblich geringgeschätzte Objekt leidenschaftlich verliebt waren.
Man erstaunt auch über die ungeahnten Wirkungen, die von einem
künstlichen Abortus, der Tötung einer Leibesfrucht, ausgehen können,
zu der man sich ohne Reue Und Bedenken entschlossen hatte. Man
sieht sich so genötigt, den Dichtern Recht zu geben, die uns mit
Vorliebe Personen schildern, welche lieben ohne es zu wissen, oder
die es nicht wissen, ob sie lieben, oder die zu hassen glauben, während
sie lieben. Es scheint, daß gerade die Kunde, die unser Bewußtsein
von unserem Liebesleben erhält, besonders leicht unvollständig,
lückenhaft oder gefälscht sein kann. In diesen Erörterungen habe
ich es natürlich nicht versäumt, den Anteil eines nachträglichen
Vergessens in Abzug zu bringen.IV.
Ich kehre nun zu der vorhin abgebrochenen Diskussion des Falles
zurück. Wir haben uns einen Überblick über die Kräfte verschafft,S.
20
welche die Libido des Mädchens aus der normalen Ödipuseinstellung
in die der Homosexualität überführt haben, und über die psychischen
Wege, die dabei beschritten worden sind. Obenan unter diesen be-
wegenden Kräften stand der Eindruck der Geburt ihres kleinen Bru-
ders, und somit ist uns nahegelegt, den Fall als einen von spät er-
worbener Inversion zu klassifizieren.Allein hier werden wir auf ein Verhältnis aufmerksam, welches
uns auch bei vielen anderen Beispielen von psychoanalytischer Auf-
klärung eines seelischen Vorganges entgegentritt. Solange wir die
Entwicklung von ihrem Endergebnis aus nach rückwärts verfolgen,
stellt sich uns ein lückenloser Zusammenhang her, und wir halten
unsere Einsicht für vollkommen befriedigend, vielleicht für erschöp-
fend. Nehmen: wir aber den umgekehrten Weg, gehen wir von den
durch die Analyse gefundenen Voraussetzungen aus und suchen diese
bis zum Resultat zu verfolgen, so kommt uns der Eindruck einer not-
wendigen und auf keine andere Weise zu bestimmenden Verkettung
ganz abhanden. Wir merken sofort, es hätte sich auch etwas anderes
ergeben können, und dies andere Ergebnis hätten wir ebensogut ver-
standen und aufklären können. Die Synthese ist also nicht so be-
friedigend wie die Analyse; mit anderen Worten, wir wären nicht
im stande, aus der Kenntnis der Voraussetzungen die Natur des
Ergebnisses vorherzusagen.Es ist sehr leicht, diese betrübliche Erkenntnis auf ihre Ur-
sachen zurückzuführen, Mögen uns auch die ätiologischen Faktoren,
welche für einen: bestimmten Erfolg maßgebend sind, vollständig be-
kannt sein, wir kennen sie doch nur nach ihrer qualitativen Eigen-
art und nicht nach ihrer relativen Stärke. Einige von ihnen werden
als zu schwach von: anderen unterdrückt werden und für das End-
ergebnis nicht in Betracht kommen. Wir wissen aber niemals. vorher,
welche der bestimmenden Momente sich als die schwächeren oder
stärkeren erweisen werden. Wir sagen nur am Ende, die sich durch-
gesetzt haben, das waren die stärkeren. Somit ist die Verursachung
in der Richtung der Analyse jedesmal sicher zu erkennen, deren Vor-
hersage in der Richtung der Synthese aber unmöglich.Wir wollen also nicht behaupten, daß jedes Mädchen, dessen
aus der Ödipuseinstellung der Pubertätsjahre. herrührende Liebes-
sehnsucht eine solche Enttäuschung erfährt, darum notwendigerweise
der Homoösexualität verfallen: wird. Andersartige Reaktionen auf
dies Trauma werden im Gegenteil häufiger sein. Dann müssen aber
bei diesem Mädchen besondere Momente den Ausschlag gegeben haben,
solche außerhalb des Traumas, wahrscheinlich innerer Natur. Es
hat auch keine Schwierigkeit, sie aufzuzeigen.S.
21
Bekanntlich braucht es auch heim Normalen eine gewisse Zeit,
bis sieh die Entscheidung über das Geschlecht des Liebesobjekts end-
gültig durchgesetzt hat. Homosexuelle Schwärmereien, übermäßig
starke, sinnlich betonte Freundschaften sind bei beiden Geschlechtern
in den ersten Jahren nach der Pubertät recht gewöhnlich. So war
es auch bei unserem Mädchen, aber diese Neigungen zeigten sich bei
ihr unzweifelhaft stärker und hielten länger an als bei anderen.
Dazu kommt, daß diese Vorboten der späteren Homosexualität immer
ihr bewußtes Leben eingenommen hatten, während die dem Ödipus-
komplex entspringende Einstellung unbewußt geblieben war und nur
in solchen Anzeichen wie jene Verzärtelung des kleinen Knaben zum
Vorschein kam. Als Schulmädchen war sie lange Zeit verliebt in
eine unnahbar strenge Lehrerin, einen offenkundigen Mutterersatz.
Ein besonders lebhaftes Interesse für manche jungmütterliche Frauen
hatte sie lange vor der Geburt des Bruders und um so sicherer lange
Zeit vor jener ersten Zurechtweisung durch den Vater gezeigt. Ihre
Libido lief also von sehr früher Zeit her in zwei Strömungen, von
denen die oberflächlichere unbedenklich eine homosexuelle genannt
werden darf. Diese war wahrscheinlich die direkte, unverwandelte
Fortsetzung einer infantilen Fixierung an die Mutter. Möglicherweise
haben wir durch unsere Analyse auch nichts anderes aufgedeckt als
den Prozeß, der bei einem geeigneten Änlaß auch die tiefere hetero-
sexuelle Libidoströmung in die manifeste homosexuelle überführte.Ferner lehrte die Analyse, daß das Mädchen aus ihren Kinder-
jahren einen stark betonten „Männlichkeitskomplex“ mitgebracht
hatte. Lebhaft, rauflustig, durchaus nicht gewillt, hinter dem wenig
älteren Bruder zurückzustehen, hatte sie seit jener Inspektion der
Genitalien einen mächtigen Penisneid entwickelt, dessen Abkömmlinge
immer noch ihr Denken erfüllten. Sie war eigentlich eine Frauen-
rechtlerin, fand es ungerecht, daß die Mädchen nicht dieselben Frei-
heiten genießen sollten wie die Burschen, und sträubte sich überhaupt
gegen das Los der Frau. Zur Zeit der Analyse waren ihr Schwanger-
schaft und Kindergebären unliebsame Vorstellungen, wie ich ver-
mute, auch wegen der damit verbundenen körperlichen Entstellung.
Auf diese Abwehr hatte sich ihr mädchenhafter Narzißmus zurück-
gezogen1), der sich nicht mehr als Stolz auf ihre Schönheit äußerte.
Verschiedene Anzeichen wiesen auf eine ehemals sehr starke Schau-
und Exhibitionslust hin. Wer das Recht der Erwerbung in der Ätio-
logie nicht verkürzt sehen will, wird aufmerksam machen, daß das
geschilderte Verhalten des Mädchens gerade so war, wie es durch
die vereinte Wirkung der mütterlichen Zurücksetzung und der Ver-1) Vgl. Kriemhilds Bekenntnis im Nibelungenlied.
S.
22
gleichung ihrer Genitalien mit denen des Bruders bei starker Mutter-
fixierung bestimmt werden: mußte. Auch hier besteht eine Möglich-
keit, etwas auf Prägung durch frühzeitig wirksamen äußeren. Ein-
fluß zurückzuführen, was man gern als konstitutionelle Bigenart auf-
gefaßt hätte. Und auch von dieser Erwerbung — wenn sie wirklich
stattgefunden hat — wird ein Anteil auf Rechnung der mitgebrachten
Konstitution zu setzen sein. So vermengt und vereinigt sich in
der Beobachtung beständig, was wir in der Theorie zu einem Paar
von Gegensätzen — Vererbung und Erwerbung — auseinanderlegen
möchten.Hatte ein früherer, vorläufiger Abschluß der Analyse zum Aus-
spruch geführt, es handle sich um einen Fall von später Erwerbung
der Homosexualität, so drängt die jetzt vorgenommene Überprüfung
des Materials vielmehr zum Schluß, es liege angeborene Homosexua-
lität vor, die sich wie gewöhnlich erst in der Zeit nach der Pubertät
fixiert und unverkennbar gezeigt habe. Jede dieser Klassifizierungen
wird. nur einem Anteil des durch Beobachtung festzustellenden Sach-
verhaltes gerecht, vernachlässigt den. anderen. Wir treffen das Rich-
tige, wenn wir den Wert dieser Fragestellung überhaupt gering ver-
anschlagen:Die Literatur der Homosexualität pflegt die Fragen: der Objekt-
wahl einerseits und des Geschlechtscharakters und der geschlecht-
lichen Einstellung anderseits nicht scharf genug zu trennen, als ob
die Entscheidung über den einen Punkt notwendigerweise mit der
des anderen verknüpft wäre. Die Erfahrung zeigt jedoch das Cegen-
teil: Ein Mann mit überwiegend männlichen Eigenschaften, der auch
den männlichen Typus des Liebeslebens zeigt, kann doch in bezug
aufs Objekt invertiert sein, nur Männer anstatt Frauen lieben. Ein
Mann, in dessen Charakter die weiblichen Eigenschaften augenfällig
vorwiegen, ja, der sich in der Liebe wie ein Weib benimmt, sollte
durch diese weibliche Einstellung auf den Mann als Liebesobjekt
hingewiesen werden; er kann aber trotzdem heterosexuell sein, nicht
mehr Inversion in bezug aufs Objekt zeigen als durchschnittlich ein
Normaler. Dasselbe gilt für Frauen, auch bei ihnen treffen psychi-
scher Geschlechtscharakter und Objektwahl nicht zu fester Relation
zusammen. Das Geheimnis der Homosexualität ist also keineswegs
80 einfach, wie man es zum populären Gebrauch gern darstellt: Bine
weibliche Seele, die darum den: Mann lieben muß, zum Unglück in
einen männlichen Körper geraten, oder eine männliche Seele, die un-
widerstehlich vom Weib angezogen wird, leider in einen weiblichen
Leib gebannt, Vielmehr handelt es sich um drei Reihen von Cha-
rakterenS.
23
Somatische Geschlechtscharaktere — Psychischer Geschlechtscharakter
(Physischer Hermaphroditismus) (männl./weibl. Einstellung)
— Art der Objektwahl,die bis zu einem gewissen Grade voneinander unabhängig variieren
und sich bei den einzelnen Individuen in mannigfachen Permutationen
vorfinden. Die tendenziöse Literatur hat den Einblick in diese Ver-
hältnisse erschwert, indem sie aus praktischen Motiven das dem Laien
allein auffällige Verhalten im dritten Punkt, dem der Objektwahl,
in den Vordergrund rückt und außerdem die Festigkeit der Beziehung
zwischen diesem und dem ersten Punkt übertreibt. Sie versperrt sich
auch den Weg, der zur tieferen Einsicht in all das führt, was man
uniform als Homosexualität bezeichnet, indem sie sich gegen zwei
Grundtatsachen sträubt, welche die psychoanalytische Forschung auf-
gedeckt hat. Die erste, daß die homosexuellen Männer eine besonders
starke Fixierung an die Mütter erfahren haben; die zweite, daß alle
Normalen neben ihrer manifesten Heterosexualität ein sehr erheb-
liches Ausmaß von latenter oder unbewußter Homosexualität erkennen
lassen. Trägt man diesen Funden Rechnung, so ist es allerdings um
die Annahme eines von der Natur in besonderer Laune geschaffenen
„dritten Geschlechts“ geschehen.Die Psychoanalyse ist nicht dazu berufen, das Problem der
Homosexualität zu lösen. Sie muß sich damit begnügen, die psychi-
schen Mechanismen zu enthüllen, die zur Entscheidung in der Objekt-
wahl geführt haben, und die Wege von ihnen zu den Triebanlagen zu
verfolgen. Dann bricht sie ab und überläßt das übrige der biolo-
gischen Forschung, die gerade jetzt in den Versuchen von Steinach1)
so bedeutungsvolle Aufschlüsse über die Beeinflussung der obigen
zweiten und dritten Reihe durch die erste zu Tage fördert. Sie
steht auf gemeinsamem Boden mit der Biologie, indem sie eine ur-
sprüngliche Bisexualität des menschlichen (wie des tierischen) In-
dividuums zur Voraussetzung nimmt. Aber das Wesen dessen, was
man im konventionellen oder im biologischen Sinne „männlich“ und
„weiblich“ nennt, kann die Psychoanalyse nicht aufklären, sie über-
nimmt die beiden Begriffe und legt sie ihren Arbeiten zu Grunde.
Beim Versuch einer weiteren Zurückführung verflüchtigt sich ihr
die Männlichkeit zur Aktivität, die Weiblichkeit zur Passivität, und
das ist zu wenig. Inwieweit die Erwartung zulässig oder bereits
durch Erfahrung bestätigt ist, es werde sich auch aus dem Stück
Aufklärungsarbeit, welches in den Bereich der Analyse fällt, eine
Handhabe zur Abänderung der Inversion ergeben, habe ich vorhin1) S. A. Lipschütz, Die Pubertätsdrüse und ihre Wirkungen. E. Bircher,
Bern 1919.S.
24
auszuführen versucht. Vergleicht man dieses Ausmaß von Beein-
flussung mit den großartigen Umwälzungen, die Steinach in ein-
zelnen Fällen durch operative Eingriffe erzielt hat, so macht es wohl
keinen imposanten Eindruck. Indes wäre es Voreiligkeit oder schäd-
liche Übertreibung, wenn wir uns jetzt schon Hoffnung auf eine
allgemein brauchbare „Therapie“ der Inversion machten. Die Fälle
von männlicher Homosexualität, in denen Steinach Erfolg gehabt
hat, erfüllten die nicht immer vorhandene Bedingung eines überdeut-
lichen somatischen „Hermaphroditismus‘“. Die Therapie einer weib-
lichen Homosexualität auf analogem Wege ist zunächst ganz unklar.
Sollte sie in der Entfernung der wahrscheinlich hermaphroditischen
Ovarien und Einpflanzung anderer, hoffentlich eingeschlechtiger, be-
stehen, so würde sie praktisch wenig Aussicht auf Anwendung haben.
Ein weibliches Individuum, das sich männlich gefühlt und auf männ-
liche Weise geliebt hat, wird sich kaum in die weibliche Rolle drängen
lassen, wenn es diese, nicht durchaus vorteilhafte, Umwandlung mit
dem Verzicht auf die Mutterschaft bezahlen muß.
z619201
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