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BEITRÄGE ZUR PSYCHOLOGIE DES
LIEBESLEBENSI.
Über einen besonderen Typus der Objektwahl beim Manne
(1910)
Wir haben es bisher den Dichtern überlassen, uns zu schil-
dern, nach welchen „Liebesbedingungen“ die Menschen ihre
Objektwahl treffen, und wie sie die Anforderungen ihrer
Phantasie mit der Wirklichkeit in Einklang bringen. Die
Dichter verfügen auch über manche Eigenschaften, welche sie
zur Lösung einer solchen Aufgabe befähigen, vor allem über
die Feinfühligkeit für die Wahrnehmung verborgener Seelen-
regungen bei anderen und den Mut, ihr eigenes Unbewußtes
laut werden zu lassen. Aber der Erkenntniswert ihrer Mit-
teilungen wird durch einen Umstand herabgesetzt. Die Dichter
sind an die Bedingung gebunden, intellektuelle und ästhe-
tische Lust sowie bestimmte Gefühlswirkungen zu erzielen,
und darum können sie den Stoff der Realität nicht unver-
ändert darstellen, sondern müssen Teilstücke desselben iso-
lieren, störende Zusammenhänge auflösen, das Ganze mildern
und Fehlendes ersetzen. Es sind dies Vorrechte der soge-
nannten „poetischen Freiheit“. Auch können sie nur wenig
Interesse für die Herkunft und Entwicklung solcher seelischer
Zustände äußern, die sie als fertige beschreiben. Somit wirdS.
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es doch unvermeidlich, daß die Wissenschaft mit plumperen
Händen und zu geringerem Lustgewinne sich mit denselben
Materien beschäftige, an deren dichterischer Bearbeitung sich
die Menschen seit Tausenden von Jahren erfreuen. Diese Be-
merkungen mögen zur Rechtfertigung einer streng wissen-
schaftlichen Bearbeitung auch des menschlichen Liebeslebens
dienen. Die Wissenschaft ist eben die vollkommenste Los-
sagung vom Lustprinzip, die unserer psychischen Arbeit
möglich ist.Während der psychoanalytischen Behandlungen hat man
reichlich Gelegenheit, sich Eindrücke aus dem Liebesleben der
Neurotiker zu holen, und kann sich dabei erinnern, daß man
ähnliches Verhalten auch bei durchschnittlich Gesunden oder
selbst bei hervorragenden Menschen beobachtet oder erfahren
hat. Durch Häufung der Eindrücke infolge zufälliger Gunst
des Materials treten dann einzelne Typen deutlicher hervor.
Einen solchen Typus der männlichen Objektwahl will ich hier
zuerst beschreiben, weil er sich durch eine Reihe von „Liebes-
bedingungen“ auszeichnet, deren Zusammentreffen nicht ver-
ständlich, ja eigentlich befremdend ist, und weil er eine ein-
fache psychoanalytische Aufklärung zuläßt.1) Die erste dieser Liebesbedingungen ist als geradezu spezi-
fisch zu bezeichnen; sobald man sie vorfindet, darf man nach
dem Vorhandensein der anderen Charaktere dieses Typus
suchen. Man kann sie die Bedingung des „Geschädigten
Dritten“ nennen; ihr Inhalt geht dahin, daß der Be-
treffende niemals ein Weib zum Liebesobjekt wählt, welches
noch frei ist, also ein Mädchen oder eine alleinstehende Frau,
sondern nur ein solches Weib, auf das ein anderer Mann als
Ehegatte, Verlobter, Freund Eigentumsrechte geltend machen
kann. Diese Bedingung zeigt sich in manchen Fällen so un-
erbittlich, daß dasselbe Weib zuerst übersehen oder selbstS.
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verschmäht werden kann, solange es niemandem angehört,
während es sofort Gegenstand der Verliebtheit wird, sobald
es in eine der genannten Beziehungen zu einem anderen
Manne tritt.2) Die zweite Bedingung ist vielleicht minder konstant,
aber nicht weniger auffällig. Der Typus wird erst durch ihr
Zusammentreffen mit der ersten erfüllt, während die erste
auch für sich allein in großer Häufigkeit vorzukommen
scheint. Diese zweite Bedingung besagt, daß das keusche und
unverdächtige Weib niemals den Reiz ausübt, der es zum
Liebesobjekt erhebt, sondern nur das irgendwie sexuell an-
rüchige, an dessen Treue und Verläßlichkeit ein Zweifel ge-
stattet ist. Dieser letztere Charakter mag in einer bedeutungs-
vollen Reihe variieren, von dem leisen Schatten auf dem Ruf
einer dem Flirt nicht abgeneigten Ehefrau bis zur offenkundig
polygamen Lebensführung einer Kokotte oder Liebeskünstlerin,
aber auf irgend etwas dieser Art wird von den zu unserem
Typus Gehörigen nicht verzichtet. Man mag diese Bedingung
mit etwas Vergröberung die der „Dirnenliebe“ heißen.Wie die erste Bedingung Anlaß zur Befriedigung von ago-
nalen, feindseligen Regungen gegen den Mann gibt, dem man
das geliebte Weib entreißt, so steht die zweite Bedingung, die
der Dirnenhaftigkeit des Weibes, in Beziehung zur Betätigung
der Eifersucht, die für Liebende dieses Typus ein Be-
dürfnis zu sein scheint. Erst wenn sie eifersüchtig sein können,
erreicht die Leidenschaft ihre Höhe, gewinnt das Weib seinen
vollen Wert, und sie versäumen nie, sich eines Anlasses zu
bemächtigen, der ihnen das Erleben dieser stärksten Empfin-
dungen gestattet. Merkwürdigerweise ist es nicht der recht-
mäßige Besitzer der Geliebten, gegen den sich diese Eifersucht
richtet, sondern neu auftauchende Fremde, mit denen man die
Geliebte in Verdacht bringen kann. In grellen Fällen zeigt
der Liebende keinen Wunsch, das Weib für sich allein zuS.
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besitzen, und scheint sich in dem dreieckigen Verhältnis durch-
aus wohl zu fühlen. Einer meiner Patienten, der unter den
Seitensprüngen seiner Dame entsetzlich gelitten hatte, hatte
doch gegen ihre Verheiratung nichts einzuwenden, sondern
förderte diese mit allen Mitteln; gegen den Mann zeigte er
dann durch Jahre niemals eine Spur von Eifersucht. Ein
anderer typischer Fall war in seinen ersten Liebesbeziehungen
allerdings sehr eifersüchtig gegen den Ehegatten gewesen und
hatte die Dame genötigt, den ehelichen Verkehr mit diesem
einzustellen; in seinen zahlreichen späteren Verhältnissen
benahm er sich aber wie die anderen und faßte den legitimen
Mann nicht mehr als Störung auf.Die folgenden Punkte schildern nicht mehr die vom Liebes-
objekt geforderten Bedingungen, sondern das Verhalten des
Liebenden gegen das Objekt seiner Wahl.3) Im normalen Liebesleben wird der Wert des Weibes
durch seine sexuelle Integrität bestimmt und durch die An-
näherung an den Charakter der Dirnenhaftigkeit herabgesetzt.
Es erscheint daher als eine auffällige Abweichung vom Nor-
malen, daß von den Liebenden unseres Typus die mit diesem
Charakter behafteten Frauen als höchstwertige Liebesobjekte
behandelt werden. Die Liebesbeziehungen zu diesen
Frauen werden mit dem höchsten psychischen Aufwand bis
zur Aufzehrung aller anderen Interessen betrieben; sie sind
die einzigen Personen, die man lieben kann, und die Selbst-
anforderung der Treue wird jedesmal wieder erhoben, so oft
sie auch in der Wirklichkeit durchbrochen werden mag. In
diesen Zügen der beschriebenen Liebesbeziehungen prägt sich
überdeutlich der zwanghafteCharakter aus, welcher ja
in gewissem Grade jedem Falle von Verliebtheit eignet. Man
darf aber aus der Treue und Intensität der Bindung nicht die
Erwartung ableiten, daß ein einziges solches Liebesverhältnis
das Liebesleben der Betreffenden ausfülle oder sich nur einmalS.
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innerhalb desselben abspiele. Vielmehr wiederholen sich
Leidenschaften dieser Art mit den gleichen Eigentümlichkeiten
– die eine das genaue Abbild der anderen – mehrmals im
Leben der diesem Typus Angehörigen, ja die Liebesobjekte
können nach äußeren Bedingungen, zum Beispiel Wechsel von
Aufenthalt und Umgebung, einander so häufig ersetzen, daß
es zur Bildung einer langen Reihe kommt.4) Am überraschendsten wirkt auf den Beobachter die bei
den Liebenden dieses Typus sich äußernde Tendenz, die Ge-
liebte zu „retten“. Der Mann ist überzeugt, daß die Ge-
liebte seiner bedarf, daß sie ohne ihn jeden sittlichen Halt
verlieren und rasch auf ein bedauernswertes Niveau herab-
sinken würde. Er rettet sie also, indem er nicht von ihr läßt.
Die Rettungsabsicht kann sich in einzelnen Fällen durch die
Berufung auf die sexuelle Unverläßlichkeit und die sozial ge-
fährdete Position der Geliebten rechtfertigen; sie tritt aber
nicht minder deutlich hervor, wo solche Anlehnungen an die
Wirklichkeit fehlen. Einer der zum beschriebenen Typus
gehörigen Männer, der seine Damen durch kunstvolle Ver-
führung und spitzfindige Dialektik zu gewinnen verstand,
scheute dann im Liebesverhältnis keine Anstrengung, um die
jeweilige Geliebte durch selbstverfaßte Traktate auf dem
Wege der „Tugend“ zu erhalten.Überblickt man die einzelnen Züge des hier geschilderten
Bildes, die Bedingungen der Unfreiheit und der Dirnenhaftig-
keit der Geliebten, die hohe Wertung derselben, das Bedürfnis
nach Eifersucht, die Treue, die sich doch mit der Auflösung
in eine lange Reihe verträgt, und die Rettungsabsicht, so wird
man eine Ableitung derselben aus einer einzigen Quelle für
wenig wahrscheinlich halten. Und doch ergibt sich eine solche
leicht bei psychoanalytischer Vertiefung in die Lebensgeschichte
der in Betracht kommenden Personen. Diese eigentümlich
bestimmte Objektwahl und das so sonderbare LiebesverhaltenS.
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haben dieselbe psychische Abkunft wie im Liebesleben des
Normalen, sie entspringen aus der infantilen Fixierung der
Zärtlichkeit an die Mutter und stellen einen der Ausgänge
dieser Fixierung dar. Im normalen Liebesleben erübrigen nur
wenige Züge, welche das mütterliche Vorbild der Objekt-
wahl unverkennbar verraten, so zum Beispiel die Vorliebe
junger Männer für gereiftere Frauen; die Ablösung der Libido
von der Mutter hat sich verhältnismäßig rasch vollzogen.
Bei unserem Typus hingegen hat die Libido auch nach dem Ein-
tritt der Pubertät so lange bei der Mutter verweilt, daß den
später gewählten Liebesobjekten die mütterlichen Charaktere
eingeprägt bleiben, daß diese alle zu leicht kenntlichen Mutter-
surrogaten werden. Es drängt sich hier der Vergleich mit der
Schädelformation des Neugeborenen auf; nach protrahierter
Geburt muß der Schädel des Kindes den Ausguß der mütter-
lichen Beckenenge darstellen.Es obliegt uns nun, wahrscheinlich zu machen, daß die
charakteristischen Züge unseres Typus, Liebesbedingungen wie
Liebesverhalten, wirklich der mütterlichen Konstellation ent-
springen. Am leichtesten dürfte dies für die erste Bedingung,
die der Unfreiheit des Weibes oder des geschädigten Dritten,
gelingen. Man sieht ohne weiteres ein, daß bei dem in der
Familie aufwachsenden Kinde die Tatsache, daß die Mutter
dem Vater gehört, zum unabtrennbaren Stück des mütterlichen
Wesens wird, und daß kein anderer als der Vater selbst der
geschädigte Dritte ist. Ebenso ungezwungen fügt sich der
überschätzende Zug, daß die Geliebte die Einzige, Unersetz-
liche ist, in den infantilen Zusammenhang ein, denn niemand
besitzt mehr als eine Mutter, und die Beziehung zu ihr ruht
auf dem Fundament eines jedem Zweifel entzogenen und nicht
zu wiederholenden Ereignisses.Wenn die Liebesobjekte bei unserem Typus vor allem
Muttersurrogate sein sollen, so wird auch die ReihenbildungS.
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verständlich, welche der Bedingung der Treue so direkt zu
widersprechen scheint. Die Psychoanalyse belehrt uns auch
durch andere Beispiele, daß das im Unbewußten wirksame
Unersetzliche sich häufig durch die Auflösung in eine un-
endliche Reihe kundgibt, unendlich darum, weil jedes Surrogat
doch die erstrebte Befriedigung vermissen läßt. So erklärt sich
die unstillbare Fragelust der Kinder in gewissem Alter daraus,
daß sie eine einzige Frage zu stellen haben, die sie nicht über
ihre Lippen bringen, die Geschwätzigkeit mancher neurotisch
geschädigter Personen aus dem Drucke eines Geheimnisses, das
zur Mitteilung drängt, und das sie aller Versuchung zum
Trotze doch nicht verraten.Dagegen scheint die zweite Liebesbedingung, die der Dirnen-
haftigkeit des gewählten Objekts, einer Ableitung aus dem
Mutterkomplex energisch zu widerstreben. Dem bewußten
Denken des Erwachsenen erscheint die Mutter gern als Per-
sönlichkeit von unantastbarer sittlicher Reinheit, und wenig
anderes wirkt, wenn es von außen kommt, so beleidigend,
oder wird, wenn es von innen aufsteigt, so peinigend emp-
funden wie ein Zweifel an diesem Charakter der Mutter.
Gerade dieses Verhältnis von schärfstem Gegensatze zwischen
der „Mutter“ und der „Dirne“ wird uns aber anregen, die
Entwicklungsgeschichte und das unbewußte Verhältnis dieser
beiden Komplexe zu erforschen, wenn wir längst erfahren
haben, daß im Unbewußten häufig in Eines zusammenfällt,
was im Bewußtsein in zwei Gegensätze gespalten vorliegt.
Die Untersuchung führt uns dann in die Lebenszeit zurück,
in welcher der Knabe zuerst eine vollständigere Kenntnis
von den sexuellen Beziehungen zwischen den Erwachsenen
gewinnt, etwa in die Jahre der Vorpubertät. Brutale Mit-
teilungen von unverhüllt herabsetzender und aufrührerischer
Tendenz machen ihn da mit dem Geheimnis des Geschlechts-
lebens bekannt, zerstören die Autorität der Erwachsenen, dieS.
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sich als unvereinbar mit der Enthüllung ihrer Sexualbetätigung
erweist. Was in diesen Eröffnungen den stärksten Einfluß auf
den Neueingeweihten nimmt, das ist deren Beziehung zu den
eigenen Eltern. Dieselbe wird oft direkt von dem Hörer ab-
gelehnt, etwa mit den Worten: Es ist möglich, daß deine
Eltern und andere Leute so etwas miteinander tun, aber von
meinen Eltern ist es ganz unmöglich.Als selten fehlendes Korollar zur „sexuellen Aufklärung“
gewinnt der Knabe auch gleichzeitig die Kenntnis von der
Existenz gewisser Frauen, die den geschlechtlichen Akt er-
werbsmäßig ausüben und darum allgemein verachtet werden.
Ihm selbst muß diese Verachtung ferne sein; er bringt für
diese Unglücklichen nur eine Mischung von Sehnsucht und
Grausen auf, sobald er weiß, daß auch er von ihnen in das
Geschlechtsleben eingeführt werden kann, welches ihm bisher
als der ausschließliche Vorbehalt der „Großen“ galt. Wenn
er dann den Zweifel nicht mehr festhalten kann, der für
seine Eltern eine Ausnahme von den häßlichen Normen der
Geschlechtsbetätigung fordert, so sagt er sich mit zynischer
Korrektheit, daß der Unterschied zwischen der Mutter und
der Hure doch nicht so groß sei, daß sie im Grunde das
nämliche tun. Die aufklärenden Mitteilungen haben nämlich
die Erinnerungsspuren seiner frühinfantilen Eindrücke und
Wünsche in ihm geweckt und von diesen aus gewisse seelische
Regungen bei ihm wieder zur Aktivität gebracht. Er beginnt
die Mutter selbst in dem neugewonnenen Sinne zu begehren
und den Vater als Nebenbuhler, der diesem Wunsche im
Wege steht, von neuem zu hassen; er gerät, wie wir sagen,
unter die Herrschaft des Ödipuskomplexes. Er vergißt es der
Mutter nicht und betrachtet es im Lichte einer Untreue, daß
sie die Gunst des sexuellen Verkehres nicht ihm, sondern dem
Vater geschenkt hat. Diese Regungen haben, wenn sie nicht
rasch vorüberziehen, keinen anderen Ausweg, als sich in PhantasienS.
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auszuleben, welche die Sexualbetätigung der Mutter
unter den mannigfachsten Verhältnissen zum Inhalte haben,
deren Spannung auch besonders leicht zur Lösung im onanisti-
schen Akte führt. Infolge des beständigen Zusammenwirkens
der beiden treibenden Motive, der Begehrlichkeit und der
Rachsucht, sind Phantasien von der Untreue der Mutter die
bei weitem bevorzugten; der Liebhaber, mit dem die Mutter
die Untreue begeht, trägt fast immer die Züge des eigenen
Ichs, richtiger gesagt, der eigenen, idealisierten, durch Alters-
reifung auf das Niveau des Vaters gehobenen Persönlichkeit.
Was ich an anderer Stelle1 als „Familienroman“ geschildert
habe, umfaßt die vielfältigen Ausbildungen dieser Phantasie-
tätigkeit und deren Verwebung mit verschiedenen egoistischen
Interessen dieser Lebenszeit. Nach Einsicht in dieses Stück
seelischer Entwicklung können wir es aber nicht mehr wider-
spruchsvoll und unbegreiflich finden, daß die Bedingung der
Dirnenhaftigkeit der Geliebten sich direkt aus dem Mutter-
komplex ableitet. Der von uns beschriebene Typus des männ-
lichen Liebeslebens trägt die Spuren dieser Entwicklungs-
geschichte an sich und läßt sich einfach verstehen als Fixierung
an die Pubertätsphantasien des Knaben, die späterhin den
Ausweg in die Realität des Lebens doch noch gefunden haben.
Es macht keine Schwierigkeiten anzunehmen, daß die eifrig
geübte Onanie der Pubertätsjahre ihren Beitrag zur Fixierung
jener Phantasien geleistet hat.Mit diesen Phantasien, welche sich zur Beherrschung des
realen Liebeslebens aufgeschwungen haben, scheint die Ten-
denz, die Geliebte zu retten, nur in lockerer, oberflächlicher
und durch bewußte Begründung erschöpfbarer Verbindung zu
stehen. Die Geliebte bringt sich durch ihre Neigung zur Un-
beständigkeit und Untreue in Gefahren, also ist es begreiflich,1)O. Rank, Der Mythus von der Geburt des Helden, 1909.
(Schriften zur angewandten Seelenkunde, Heft 5.) 2. Auflage 1922.S.
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daß der Liebende sich bemüht, sie vor diesen Gefahren zu
behüten, indem er ihre Tugend überwacht und ihren schlechten
Neigungen entgegenarbeitet. Indes zeigt das Studium der
Deckerinnerungen, Phantasien und nächtlichen Träume der
Menschen, daß hier eine vortrefflich gelungene „Rationali-
sierung“ eines unbewußten Motivs vorliegt, die einer gut
geratenen sekundären Bearbeitung im Traume gleichzusetzen
ist. In Wirklichkeit hat das Rettungsmotiv seine
eigene Bedeutung und Geschichte und ist ein selbständiger
Abkömmling des Mutter‑ oder, richtiger gesagt, des Eltern-
komplexes. Wenn das Kind hört, daß es sein Leben den
Eltern verdankt, daß ihm die Mutter „das Leben
geschenkt“ hat, so vereinen sich bei ihm zärtliche mit
großmannssüchtigen, nach Selbständigkeit ringenden Regungen,
um den Wunsch entstehen zu lassen, den Eltern dieses Ge-
schenk zurückzuerstatten, es ihnen durch ein gleichwertiges zu
vergelten. Es ist, wie wenn der Trotz des Knaben sagen
wollte: Ich brauche nichts vom Vater, ich will ihm alles
zurückgeben, was ich ihn gekostet habe. Er bildet dann die
Phantasie, den Vater aus einer Lebensgefahr
zu retten, wodurch er mit ihm quitt wird, und diese
Phantasie verschiebt sich häufig genug auf den Kaiser, König
oder sonst einen großen Herrn und wird nach dieser Ent-
stellung bewußtseinsfähig und selbst für den Dichter ver-
wertbar. In der Anwendung auf den Vater überwiegt bei
weitem der trotzige Sinn der Rettungsphantasie, der Mutter
wendet sie meist ihre zärtliche Bedeutung zu. Die Mutter hat
dem Kinde das Leben geschenkt, und es ist nicht leicht, dies
eigenartige Geschenk durch etwas Gleichwertiges zu ersetzen.
Bei geringem Bedeutungswandel, wie er im Unbewußten er-
leichtert ist – was man etwa dem bewußten Ineinander-
fließen der Begriffe gleichstellen kann – gewinnt das Retten
der Mutter die Bedeutung von: ihr ein Kind schenken oderS.
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machen, natürlich ein Kind, wie man selbst ist. Die Ent-
fernung vom ursprünglichen Sinne der Rettung ist keine allzu
große, der Bedeutungswandel kein willkürlicher. Die Mutter
hat einem ein Leben geschenkt, das eigene, und man schenkt
ihr dafür ein anderes Leben, das eines Kindes, das mit dem
eigenen Selbst die größte Ähnlichkeit hat. Der Sohn erweist
sich dankbar, indem er sich wünscht, von der Mutter einen
Sohn zu haben, der ihm selbst gleich ist, d. h., in der
Rettungsphantasie identifiziert er sich völlig mit dem Vater.
Alle Triebe, die zärtlichen, dankbaren, lüsternen, trotzigen,
selbstherrlichen, sind durch den einen Wunsch befriedigt,
sein eigener Vater zu sein. Auch das Moment der
Gefahr ist bei dem Bedeutungswandel nicht verloren gegangen;
der Geburtsakt selbst ist nämlich die Gefahr, aus der man
durch die Anstrengung der Mutter gerettet wurde. Die Geburt
ist ebenso die allererste Lebensgefahr wie das Vorbild aller
späteren, vor denen wir Angst empfinden, und das Erleben
der Geburt hat uns wahrscheinlich den Affektausdruck, den
wir Angst heißen, hinterlassen. Der Macduff der schotti-
schen Sage, den seine Mutter nicht geboren hatte, der aus
seiner Mutter Leib geschnitten wurde, hat darum auch die
Angst nicht gekannt.Der alte Traumdeuter Artemidoros hatte sicherlich
Recht mit der Behauptung, der Traum wandle seinen Sinn
je nach der Person des Träumers. Nach den für den Ausdruck
unbewußter Gedanken geltenden Gesetzen kann das „Retten“
seine Bedeutung variieren, je nachdem es von einer Frau oder
von einem Manne phantasiert wird. Es kann ebensowohl
bedeuten: ein Kind machen = zur Geburt bringen (für den
Mann) wie: selbst ein Kind gebären (für die Frau).Insbesondere in der Zusammensetzung mit dem Wasser
lassen sich diese verschiedenen Bedeutungen des Rettens in
Träumen und Phantasien deutlich erkennen. Wenn ein MannS.
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im Traume eine Frau aus dem Wasser rettet, so heißt das:
er macht sie zur Mutter, was nach den vorstehenden Erörte-
rungen gleichsinnig ist dem Inhalte: er macht sie zu seiner
Mutter. Wenn eine Frau einen anderen (ein Kind) aus dem
Wasser rettet, so bekennt sie sich damit wie die Königstochter
in der Mosessage2 als seine Mutter, die ihn geboren hat.Gelegentlich enthält auch die auf den Vater gerichtete
Rettungsphantasie einen zärtlichen Sinn. Sie will dann den
Wunsch ausdrücken, den Vater zum Sohne zu haben, d. h.
einen Sohn zu haben, der so ist wie der Vater. Wegen all
dieser Beziehungen des Rettungsmotivs zum Elternkomplex
bildet die Tendenz, die Geliebte zu retten, einen wesentlichen
Zug des hier beschriebenen Liebestypus.Ich halte es nicht für notwendig, meine Arbeitsweise zu
rechtfertigen, die hier wie bei der Aufstellung der Analerotik
darauf hinausgeht, aus dem Beobachtungsmaterial
zunächst extreme und scharf umschriebene Typen heraus-
zuheben. Es gibt in beiden Fällen weit zahlreichere Individuen,
in denen nur einzelne Züge dieses Typus oder diese nur in
unscharfer Ausprägung festzustellen sind, und es ist selbst-
verständlich, daß erst die Darlegung des ganzen Zusammen-
hanges, in den diese Typen aufgenommen sind, deren richtige
Würdigung ermöglicht.2)Rank, l. c.
freud-1931-sexualtheorie
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