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ÜBER LIBIDINÖSE TYPEN
Zuerst erschienen in „Internationale Zeitschrift für
Psychoanalyse“, Bd. XVII, 1931.Unsere Beobachtung zeigt uns, daß die einzelnen menschlichen
Personen das allgemeine Bild des Menschen in einer kaum über-
sehbaren Mannigfaltigkeit verwirklichen. Wenn man dem berech-
tigten Bedürfnis nachgibt, in dieser Menge einzelne Typen zu
unterscheiden, so wird man von vorneherein die Wahl haben, nach
welchen Merkmalen und von welchen Gesichtspunkten man diese
Sonderung vornehmen soll. Körperliche Eigenschaften werden für
diesen Zweck gewiß nicht weniger brauchbar sein als psychische;
am wertvollsten werden solche Unterscheidungen sein, die ein regel-
mäßiges Beisammensein von körperlichen und seelischen Merk-
malen versprechen.Es ist fraglich, ob es uns bereits jetzt möglich ist, Typen von
solcher Leistung herauszufinden, wie es später einmal auf einer
noch unbekannten Basis gewiß gelingen wird. Beschränkt man sich
auf die Bemühung, bloß psychologische Typen aufzustellen, so haben
die Verhältnisse der Libido den ersten Anspruch, der Einteilung
als Grundlage zu dienen. Man darf fordern, daß diese Einteilung
nicht bloß aus unserem Wissen oder unseren Annahmen über die
Libido abgeleitet sei, sondern daß sie sich auch in der Erfahrung
leicht wiederfinden lasse und daß sie ihr Teil dazu beitrage, dieMasse unserer Beobachtungen für unsere Auffassung zu klären.
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Es ist ohne weiteres zuzugeben, daß diese libidinösen Typen auch
auf psychischem Gebiet nicht die einzig möglichen zu sein brauchen,
und daß man, von anderen Eigenschaften ausgehend, vielleicht eine
ganze Reihe anderer psychologischer Typen aufstellen kann. Für
alle solche Typen muß gelten, daß sie nicht mit Krankheitsbildern
zusammenfallen dürfen. Sie sollen im Gegenteil alle die Variationen
umfassen, die nach unserer praktisch gerichteten Schätzung in die
Breite des Normalen fallen. Wohl aber können sie sich in ihren
extremen Ausbildungen den Krankheitsbildern annähern und solcher—
art die vermeintliche Kluft zwischen dem Normalen und dem Patho—
logischen ausfüllen helfen.Nun lassen sich je nach der vorwiegenden Unterbringung der
Libido in den Provinzen des seelischen Apparats drei libidinöse
Haupttypen unterscheiden. Deren Namengebung ist nicht ganz
leicht; in Anlehnung an unsere Tiefenpsychologie möchte ich sie
als den erotischen, den narzißtischen und den Zwangstypus
bezeichnen.Der erotische Typus ist leicht zu charakterisieren. Die Erotiker
sind Personen, deren Hauptinteresse – der relativ größte Betrag
ihrer Libido – dem Liebesleben angewendet ist. Lieben, besonders
aber Geliebtwerden, ist ihnen das Wichtigste. Sie werden von der
Angst vor dem Liebesverlust beherrscht und sind darum besonders
abhängig von den anderen, die ihnen die Liebe versagen können.
Dieser Typus ist auch in seiner reinen Form recht häufig. Varia-
tionen desselben ergeben sich je nach der Vermengung mit einem
andern Typus und dem gleichzeitigen Ausmaß von Aggression.
Sozial wie kulturell vertritt dieser Typus die elementaren Trieb-
ansprüche des Es, dem die andern psychischen Instanzen gefügig-
geworden sind.Der zweite Typus, dem ich den zunächst befremdlichen Namen
Zwangstypus gegeben habe, zeichnet sich durch die Vorherrschaft
des Über‑Ichs aus, das sich unter hoher Spannung vom Ich absondert.
Er wird von der Gewissensangst beherrscht an Stelle der Angst vorS.
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dem Liebesverlust, zeigt eine sozusagen innere Abhängigkeit anstatt
der äußeren, entfaltet ein hohes Maß von Selbständigkeit und wird
sozial zum eigentlichen, vorwiegend konservativen Träger der Kultur.Der dritte, mit gutem Recht narzißtisch geheißene Typus ist
wesentlich negativ charakterisiert. Keine Spannung zwischen Ich
und Über‑Ich, – man würde von diesem Typus her kaum zur
Aufstellung eines Über‑Ichs gekommen sein, – keine Übermacht
der erotischen Bedürfnisse, das Hauptinteresse auf die Selbsterhaltung
gerichtet, unabhängig und wenig eingeschüchtert. Dem Ich ist ein
großes Maß von Aggression verfügbar, das sich auch in Bereit-
schaft zur Aktivität kundgibt; im Liebesleben wird das Lieben vor
dem Geliebtwerden bevorzugt. Menschen dieses Typus imponieren
den andern als „Persönlichkeiten“, sind besonders geeignet, anderen
als Anhalt zu dienen, die Rolle von Führern zu übernehmen, der
Kulturentwicklung neue Anregungen zu geben oder das Bestehende
zu schädigen.Diese reinen Typen werden dem Verdacht der Ableitung aus der
Theorie der Libido kaum entgehen. Man fühlt sich aber auf dem
sicheren Boden der Erfahrung, wenn man sich nun den gemischten
Typen zuwendet, die um so viel häufiger zur Beobachtung kommen
als die reinen. Diese neuen Typen, der erotisch‑zwanghafte, der
erotisch‑narzißtische und der narzißtische Zwangstypus,
scheinen in der Tat eine gute Unterbringung der individuellen
psychischen Strukturen, wie wir sie durch die Analyse kennenge-
lernt haben, zu gestatten. Es sind längst vertraute Charakterbilder,
auf die man bei der Verfolgung dieser Mischtypen gerät. Beim
erotischen Zwangstypus scheint die Übermacht des Trieblehens
durch den Einfluß des Über‑Ichs eingeschränkt; die Abhängigkeit
gleichzeitig von rezenten menschlichen Objekten und von den
Relikten der Eltern, Erzieher und Vorbilder erreicht bei diesem
Typus den höchsten Grad. Der erotisch‑narzißtische ist viel-
leicht jener, dem man die größte Häufigkeit zusprechen muß. Er
vereinigt Gegensätze, die sich in ihm gegenseitig ermäßigen können;S.
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man kann an ihm im Vergleich mit den beiden anderen erotischen
Typen lernen, daß Aggression und Aktivität mit der Vorherrschaft
des Narzißmus zusammengehen. Der narzißtische Zwangstypus
endlich ergibt die kulturell wertvollste Variation, indem er zur
äußeren Unabhängigkeit und Beachtung der Gewissensforderung
die Fähigkeit zur kraftvollen Betätigung hinzufügt und das Ich
gegen das Über‑Ich verstärkt.Man könnte meinen, einen Scherz zu machen, wenn man die
Frage entwirft, warum ein anderer theoretisch möglicher Misch-
typus hier keine Erwähnung findet, nämlich der erotisch‑zwanghaft‑
narzißtische. Aber die Antwort auf diesen Scherz ist ernst-
haft: weil ein solcher Typus kein Typus mehr wäre, sondern die
absolute Norm, die ideale Harmonie, bedeuten würde. Man wird
dabei inne, daß das Phänomen des Typus eben dadurch entsteht,
daß von den drei Hauptverwendungen der Libido im seelischen
Haushalt eine oder zwei auf Kosten der anderen begünstigt
worden sind.Man kann sich auch die Frage vorlegen, welches das Verhältnis
dieser libidinösen Typen zur Pathologie ist, ob einige von ihnen
zum Übergang in die Neurose besonders disponiert sind, und dann,
welche Typen zu welchen Formen führen. Die Antwort wird lauten,
daß die Aufstellung dieser libidinösen Typen kein neues Licht auf
die Genese der Neurosen wirft. Nach dem Zeugnis der Erfahrung
sind alle diese Typen ohne Neurose lebensfähig. Die reinen Typen
mit dem unbestrittenen Übergewicht einer einzelnen seelischen
Instanz scheinen die größere Aussicht zu haben, als reine Charakter-bilder aufzutreten, während man von den gemischten Typen er-
warten könnte, daß sie für die Bedingungen der Neurose einen
günstigeren Boden bieten. Doch meine ich, man sollte über diese
Verhältnisse nicht ohne besonders gerichtete, sorgfältige Nachprüfung
entscheiden.Daß die erotischen Typen im Falle der Erkrankung Hysterie
ergeben, wie die Zwangstypen Zwangsneurose, scheint ja leicht zuS.
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erraten, ist aber auch an der zuletzt betonten Unsicherheit be-
teiligt. Die narzißtischen Typen, die bei ihrer sonstigen Unab-
hängigkeit der Versagung von seiten der Außenwelt ausgesetzt sind,
enthalten eine besondere Disposition zur Psychose, wie sie auch
wesentliche Bedingungen des Verbrechertums beistellen.Die ätiologischen Bedingungen der Neurose sind bekanntlich noch
nicht sicher erkannt. Die Veranlassungen der Neurose sind Ver-
sagungen und innere Konflikte, Konflikte zwischen den drei großen
psychischen Instanzen, Konflikte innerhalb des Libidohaushalts in-
folge der bisexuellen Anlage, zwischen den erotischen und aggres-
siven Triebkomponenten. Was diese dem normalen psychischen
Ablauf zugehörigen Vorgänge pathogen macht, bemüht sich die
Neurosenpsychologie zu ergründen.
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