Über Psychotherapie 1905-001/1911
  • S.

    [201]

    XII.
    Über Psychotherapie1).

    Meine Herren! Es sind ungefähr acht Jahre her, seitdem
    ich über Aufforderung Ihres betrauerten Vorsitzenden Professor
    v. Reder in Ihrem Kreise über das Thema der Hysterie spre-
    chen durfte. Ich hatte kurz zuvor (1895) in Gemeinschaft mit
    Dr. Josef Breuer die „Studien über Hysterie“ veröffentlicht
    und den Versuch unternommen, auf Grund der neuen Erkenntnis,
    welche wir diesem Forscher verdanken, eine neuartige Behand-
    lungsweise der Neurose einzuführen. Erfreulicherweise, darf ich
    sagen, haben die Bemühungen unserer „Studien“ Erfolg gehabt;
    die in ihnen vertretenen Ideen von der Wirkungsweise psychi-
    scher Traumen durch Zurückhaltung von Affekt und die Auf-
    fassung der hysterischen Symptome als Erfolge einer aus dem
    Seelischen ins Körperliche versetzten Erregung, Ideen, für
    welche wir die Termini „Abreagieren“ und „Konversion“ ge-
    schaffen hatten, sind heute allgemein bekannt und verstanden.
    Es gibt — wenigstens in deutschen Landen — keine Darstellung
    der Hysterie, die ihnen nicht bis zu einem gewissen Grade
    Rechnung tragen würde, und keinen Fachgenossen, der nicht
    zum mindesten ein Stück weit mit dieser Lehre ginge. Und doch
    mögen diese Sätze und diese Termini, solange sie noch frisch
    waren, befremdend genug geklungen haben!

    Ich kann nicht dasselbe von dem therapeutischen Verfahren
    sagen, das gleichzeitig mit unserer Lehre den Fachgenossen
    vorgeschlagen wurde. Dasselbe kämpft noch heute um seine
    Anerkennung. Man mag spezielle Gründe dafür anrufen. Die

    1) Wiener Medizinische Presse, 1905, Nr. 1. (Vortrag, gehalten im
    Wiener mediz. Doktorenkollegium am 12. Dezember 1904.)

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    Technik des Verfahrens war damals noch unausgebildet; ich
    vermochte es nicht, dem ärztlichen Leser des Buches jene An-
    weisungen zu geben, welche ihn befähigt hätten, eine derartige
    Behandlung vollständig durchzuführen. Aber gewiß wirken auch
    Gründe allgemeiner Natur mit. Vielen Ärzten erscheint noch
    heute die Psychotherapie als ein Produkt des modernen Mysti-
    zismus und im Vergleiche mit unseren physikalisch-chemischen
    Heilmitteln, deren Anwendung auf physiologische Einsichten
    gegründet ist, als geradezu unwissenschaftlich, des Interesses
    eines Naturforschers unwürdig. Gestatten Sie mir nun, vor
    Ihnen die Sache der Psychotherapie zu führen und hervorzuheben,
    was an dieser Verurteilung als Unrecht oder Irrtum bezeichnet
    werden kann.

    Lassen Sie mich also fürs erste daran mahnen, daß die
    Psychotherapie kein modernes Heilverfahren ist. Im Gegenteile,
    sie ist die älteste Therapie, deren sich die Medizin bedient hat.
    In dem lehrreichen Werke von Löwenfeld (Lehrbuch der ge-
    samten Psychotherapie) können Sie nachlesen, welches die Me-
    thoden der primitiven und der antiken Medizin waren. Sie
    werden dieselben zum größten Teil der Psychotherapie zuordnen
    müssen; man versetzte die Kranken zum Zwecke der Heilung
    in den Zustand der „gläubigen Erwartung“, der uns heute noch
    das nämliche leistet. Auch nachdem die Ärzte andere Heil-
    mittel aufgefunden haben, sind psychotherapeutische Bestre-
    bungen der einen oder der anderen Art in der Medizin niemals
    untergegangen.

    Fürs zweite mache ich Sie darauf aufmerksam, daß wir
    Ärzte auf die Psychotherapie schon darum nicht verzichten
    können, weil eine andere beim Heilungsvorgang sehr in Betracht
    kommende Partei — nämlich die Kranken — nicht die Absicht
    hat, auf sie zu verzichten. Sie wissen, welche Aufklärungen wir
    hierüber der Schule von Nancy (Liébault, Bernheim) ver-
    danken. Ein von der psychischen Disposition der Kranken ab-
    hängiger Faktor tritt, ohne daß wir es beabsichtigen, zur Wir-
    kung eines jeden vom Arzte eingeleiteten Heilverfahrens hinzu,
    meist im begünstigenden, oft auch im hemmenden Sinne. Wir
    haben für diese Tatsache das Wort „Suggestion“ anzuwenden
    gelernt, und Moebius hat uns gelehrt, daß die Unverläßlich-

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    keit, die wir an so manchen unserer Heilmethoden beklagen,
    gerade auf die störende Einwirkung dieses übermächtigen Mo-
    mentes zurückzuführen ist. Wir Ärzte, Sie alle, treiben also
    beständig Psychotherapie, auch wo Sie es nicht wissen und
    nicht beabsichtigen; nur hat es einen Nachteil, daß Sie den
    psychischen Faktor in Ihrer Einwirkung auf den Kranken so
    ganz dem Kranken überlassen. Er wird auf diese Weise un-
    kontrollierbar, undosierbar, der Steigerung unfähig. Ist es dann
    nicht ein berechtigtes Streben des Arztes, sich dieses Faktors
    zu bemächtigen, sich seiner mit Absicht zu bedienen, ihn zu
    lenken und zu verstärken? Nichts anderes als dies ist es, was
    die wissenschaftliche Psychotherapie Ihnen zumutet.

    Zu dritt, meine Herren Kollegen, will ich Sie auf die alt-
    bekannte Erfahrung verweisen, daß gewisse Leiden und ganz
    besonders die Psychoneurosen, seelischen Einflüssen weit zu-
    gänglicher sind als jeder anderen Medikation. Es ist keine
    moderne Rede, sondern ein Ausspruch alter Ärzte, daß diese
    Krankheiten nicht das Medikament heilt, sondern der Arzt, d. h.
    wohl die Persönlichkeit des Arztes, insofern er psychischen Ein-
    fluß durch sie ausübt. Ich weiß wohl, meine Herren Kollegen,
    daß bei Ihnen jene Anschauung sehr beliebt ist, welcher der
    Ästhetiker Vischer in seiner Faustparodie (Faust, der Tragödie
    III. Teil) klassischen Ausdruck geliehen hat:

    „Ich weiß, das Physikalische
    Wirkt öfters aufs Moralische.“

    Aber sollte es nicht adäquater sein und häufiger zutreffen,
    daß man aufs Moralische eines Menschen mit moralischen, d. h.
    psychischen Mitteln einwirken kann?

    Es gibt viele Arten und Wege der Psychotherapie. Alle
    sind gut, die zum Ziel der Heilung führen. Unsere gewöhnliche
    Tröstung: Es wird schon wieder gut werden! mit der wir den
    Kranken gegenüber so freigebig sind, entspricht einer der
    psychotherapeutischen Methoden; nur sind wir bei tieferer Ein-
    sicht in das Wesen der Neurosen nicht genötigt gewesen, uns
    auf die Tröstung einzuschränken. Wir haben die Technik der
    hypnotischen Suggestion, der Psychotherapie durch Ablenkung,
    durch Übung, durch Hervorrufung zweckdienlicher Affekte ent-
    wickelt. Ich verachte keine derselben und würde sie alle unter

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    geeigneten Bedingungen ausüben. Wenn ich in Wirklichkeit mich
    auf ein einziges Heilverfahren beschränkt habe, auf die von
    Breuerkathartisch“ genannte Methode, die ich lieber die
    analytische“ heiße, so sind bloß subjektive Motive für mich
    maßgebend gewesen. Infolge meines Anteiles an der Aufstellung
    dieser Therapie fühle ich die persönliche Verpflichtung, mich
    ihrer Erforschung und dem Ausbau ihrer Technik zu widmen.
    Ich darf behaupten, die analytische Methode der Psychotherapie
    ist diejenige, welche am eindringlichsten wirkt, am weitesten
    trägt, durch welche man die ausgiebigste Veränderung des
    Kranken erzielt. Wenn ich für einen Moment den therapeuti-
    schen Standpunkt verlasse, kann ich für sie geltend machen,
    daß sie die interessanteste ist, uns allein etwas über die Ent-
    stehung und den Zusammenhang der Krankheitserscheinungen
    lehrt. Infolge der Einsichten in den Mechanismus des seelischen
    Krankseins, die sie uns eröffnet, könnte sie allein imstande
    sein, über sich selbst hinauszuführen und uns den Weg zu noch
    anderen Arten therapeutischer Beeinflussung zu weisen.

    In bezug auf diese kathartische oder analytische Methode
    der Psychotherapie gestatten Sie mir nun, einige Irrtümer zu
    verbessern und einige Aufklärungen zu geben.

    a) Ich merke, daß diese Methode sehr häufig mit der
    hypnotischen Suggestivbehandlung verwechselt wird, merke es
    daran, daß verhältnismäßig häufig auch Kollegen, deren Vertrauens-
    mann ich sonst nicht bin, Kranke zu mir schicken, refraktäre
    Kranke natürlich, mit dem Auftrage, ich solle sie hypnotisieren.
    Nun habe ich seit etwa 8 Jahren keine Hypnose mehr zu Zwecken
    der Therapie ausgeübt (vereinzelte Versuche ausgenommen) und
    pflege solche Sendungen mit dem Rate, wer auf die Hypnose
    baut, möge sie selbst machen, zu retournieren. In Wahrheit
    besteht zwischen der suggestiven Technik und der analytischen
    der größtmögliche Gegensatz, jener Gegensatz, den der große
    Leonardo da Vinci für die Künste in die Formeln per via
    di porre
    und per via di levare gefaßt hat. Die Malerei, sagt
    Leonardo, arbeitet per via di porre; sie setzt nämlich Farben-
    häufchen hin, wo sie früher nicht waren, auf die nicht farbige
    Leinwand; die Skulptur dagegen geht per via di levare vor, sie
    nimmt nämlich vom Stein soviel weg, als die Oberfläche der

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    in ihm enthaltenen Statue noch bedeckt. Ganz ähnlich, meine
    Herren, sucht die Suggestivtechnik per via di porre zu wirken,
    sie kümmert sich nicht um Herkunft, Kraft und Bedeutung der
    Krankheitssymptome, sondern legt etwas auf, die Suggestion
    nämlich, wovon sie erwartet, daß es stark genug sein wird, die
    pathogene Idee an der Äußerung zu hindern. Die analytische
    Therapie dagegen will nicht auflegen, nichts Neues einführen,
    sondern wegnehmen, herausschaffen, und zu diesem Zwecke
    bekümmert sie sich um die Genese der krankhaften Symptome
    und den psychischen Zusammenhang der pathogenen Idee, deren
    Wegschaffung ihr Ziel ist. Auf diesem Wege der Forschung
    hat sie unserem Verständnis so bedeutende Förderung gebracht.
    Ich habe die Suggestionstechnik und mit ihr die Hypnose so
    frühzeitig aufgegeben, weil ich daran verzweifelte, die Suggestion
    so stark und so haltbar zu machen, wie es für die dauernde
    Heilung notwendig wäre. In allen schweren Fällen sah ich die
    darauf gelegte Suggestion wieder abbröckeln, und dann war das
    Kranksein oder ein dasselbe Ersetzendes wieder da. Außerdem
    mache ich dieser Technik den Vorwurf, daß sie uns die Einsicht
    in das psychische Kräftespiel verhüllt, z. B. uns den Wider-
    stand
    nicht erkennen läßt, mit dem die Kranken an ihrer Krankheit
    festhalten, mit dem sie sich also auch gegen die Genesung
    sträuben, und der doch allein das Verständnis ihres Benehmens
    im Leben ermöglicht.

    b) Es scheint mir der Irrtum unter den Kollegen weit
    verbreitet zu sein, daß die Technik der Forschung nach den
    Krankheitsanlässen und die Beseitigung der Erscheinungen durch
    diese Erforschung leicht und selbstverständlich sei. Ich schließe
    dies daraus, daß noch keiner von den vielen, die sich für meine
    Therapie interessieren und sichere Urteile über dieselbe von sich
    geben, mich je gefragt hat, wie ich es eigentlich mache. Das
    kann doch nur den einzigen Grund haben, daß sie meinen, es
    sei nichts zu fragen, es verstehe sich ganz von selbst. Auch höre
    ich mitunter mit Erstaunen, daß auf dieser oder jener Abteilung
    eines Spitals ein junger Arzt von seinem Chef den Auftrag
    erhalten hat, bei einer Hysterischen eine „Psychoanalyse“ zu
    unternehmen. Ich bin überzeugt, man würde ihm nicht einen
    exstirpierten Tumor zur Untersuchung überlassen, ohne sich

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    vorher versichert zu haben, daß er mit der histologischen Technik
    vertraut ist. Ebenso erreicht mich die Nachricht, dieser oder
    jener Kollege richte sich Sprechstunden mit einem Patienten
    ein, um eine psychische Kur mit ihm zu machen, während ich
    sicher bin, daß er die Technik einer solchen Kur nicht kennt.
    Er muß also erwarten, daß ihm der Kranke seine Geheimnisse
    entgegenbringen wird, oder sucht das Heil in irgend einer Art
    von Beichte oder Anvertrauen. Es würde mich nicht wundern,
    wenn der so behandelte Kranke dabei eher zu Schaden als
    zum Vorteil käme. Das seelische Instrument ist nämlich nicht
    gar leicht zu spielen. Ich muß bei solchen Anlässen an die
    Rede eines weltberühmten Neurotikers denken, der freilich nie
    in der Behandlung eines Arztes gestanden, der nur in der
    Phantasie eines Dichters gelebt hat. Ich meine den Prinzen
    Hamlet von Dänemark. Der König hat die beiden Höflinge
    Rosenkranz und Güldenstern über ihn geschickt, um ihn
    auszuforschen, ihm das Geheimnis seiner Verstimmung zu entreißen.
    Er wehrt sie ab; da werden Flöten auf die Bühne gebracht.
    Hamlet nimmt eine Flöte und bittet den einen seiner Quäler,
    auf ihr zu spielen, es sei so leicht wie lügen. Der Höfling
    weigert sich, denn er kennt keinen Griff, und da er zu dem
    Versuch des Flötenspiels nicht zu bewegen ist, bricht Hamlet
    endlich los: „Nun seht ihr, welch ein nichtswürdiges Ding ihr
    aus mir macht? Ihr wollt auf mir spielen; ihr wollt in das Herz
    meines Geheimnisses dringen; ihr wollt mich von meiner tiefsten
    Note bis zum Gipfel meiner Stimme hinauf prüfen, und in
    diesem kleinen Instrument hier ist viel Musik, eine vortreffliche
    Stimme, dennoch könnt ihr es nicht zum Sprechen bringen.
    Wetter, denkt ihr, daß ich leichter zu spielen bin als
    eine Flöte? Nennt mich was für ein Instrument ihr
    wollt, ihr könnt mich zwar verstimmen, aber nicht auf
    mir spielen
    “ (III. Akt, 2).

    c) Sie werden aus gewissen meiner Bemerkungen erraten
    haben, daß der analytischen Kur manche Eigenschaften anhaften,
    die sie von dem Ideal einer Therapie ferne halten. Tuto, cito,
    iucunde; das Forschen und Suchen deutet nicht eben auf
    Raschheit des Erfolges, und die Erwähnung des Widerstandes
    bereitet Sie auf die Erwartung von Unannehmlichkeiten vor.

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    Gewiß, die psychoanalytische Behandlung stellt an den Kranken
    wie an den Arzt hohe Ansprüche; von ersterem verlangt sie
    das Opfer voller Aufrichtigkeit, gestaltet sich für ihn zeitraubend
    und daher auch kostspielig; für den Arzt ist sie gleichfalls zeit-
    raubend und wegen der Technik, die er zu erlernen und anszuüben
    hat, ziemlich mühselig. Ich finde es auch selbst ganz berechtigt,
    daß man bequemere Heilmethoden in Anwendung bringt, solange
    man eben die Aussicht hat, mit diesen letzteren etwas zu erreichen.
    Auf diesen Punkt kommt es allein an; erzielt man mit dem
    mühevolleren und langwierigeren Verfahren erheblich mehr als
    mit dem kurzen und leichten, so ist das erstere trotz alledem
    gerechtfertigt. Denken Sie, meine Herren, um wieviel die Finsen-
    therapie des Lupus unbequemer und kostspieliger ist als das
    früher gebräuchliche Ätzen und Schaben, und doch bedeutet es
    einen großen Fortschritt, bloß weil es mehr leistet; es heilt
    nämlich den Lupus radikal. Nun will ich den Vergleich nicht
    gerade durchsetzen; aber ein ähnliches Vorrecht darf doch die
    psychoanalytische Methode für sich in Anspruch nehmen. In
    Wirklichkeit habe ich meine therapeutische Methode nur an
    schweren und schwersten Fällen ausarbeiten und versuchen können;
    mein Material waren zuerst nur Kranke, die alles erfolglos ver-
    sucht und durch Jahre in Anstalten geweilt hatten. Ich habe
    kaum Erfahrung genug gesammelt, um Ihnen sagen zu können,
    wie sich meine Therapie bei jenen leichteren, episodisch auf-
    tretenden Erkrankungen verhält, die wir unter den verschieden-
    artigsten Einflüssen und auch spontan abheilen sehen. Die
    psychoanalytische Therapie ist an dauernd existenzunfähigen
    Kranken und für solche geschaffen worden, und ihr Triumph
    ist es, daß sie eine befriedigende Anzahl von solchen dauernd
    existenzfähig macht. Gegen diesen Erfolg erscheint dann aller
    Aufwand geringfügig. Wir können uns nicht verhehlen, was wir
    vor den Kranken zu verleugnen pflegen, daß eine schwere Neurose
    in ihrer Bedeutung für das ihr unterworfene Individuum hinter keiner
    Kachexie, keinem der gefürchteten Allgemeinleiden zurücksteht.

    d) Die Indikationen und Gegenanzeigen dieser Behandlung
    sind infolge der vielen praktischen Beschränkungen, die meine
    Tätigkeit betroffen haben, kaum endgültig anzugeben. Indes will
    ich versuchen, einige Punkte mit Ihnen zu erörtern:

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    1. Man übersehe nicht über die Krankheit den sonstigen
    Wert einer Person und weise Kranke zurück, welche nicht einen
    gewissen Bildungsgrad und einen einigermaßen verläßlichen Cha-
    rakter besitzen. Man darf nicht vergessen, daß es auch Gesunde
    gibt, die nichts taugen, und daß man nur allzu leicht geneigt ist, bei
    solchen minderwertigen Personen alles, was sie existenzunfähig
    macht, auf die Krankheit zu schieben, wenn sie irgend einen
    Anflug von Neurose zeigen. Ich stehe auf dem Standpunkt, daß
    die Neurose ihren Träger keineswegs zum Dégéneré stempelt, daß
    sie sich aber häufig genug mit den Erscheinungen der Degeneration
    vergesellschaftet an demselben Individuum findet. Die analytische
    Psychotherapie ist nun kein Verfahren zur Behandlung der
    neuropathischen Degeneration, sie findet im Gegenteile an der-
    selben ihre Schranke. Sie ist auch bei Personen nicht anwendbar,
    die sich nicht selbst durch ihre Leiden zur Therapie gedrängt
    fühlen, sondern sich einer solchen nur infolge des Machtgebotes
    ihrer Angehörigen unterziehen. Die Eigenschaft, auf die es für
    die Brauchbarkeit zur psychoanalytischen Behandlung ankommt,
    die Erziehbarkeit, werden wir noch von einem andern Gesichts-
    punkte würdigen müssen.

    2. Wenn man sicher gehen will, beschränke man seine
    Auswahl auf Personen, die einen Normalzustand haben, da man
    sich im psychoanalytischen Verfahren von diesem aus des Krank-
    haften bemächtigt. Psychosen, Zustände von Verworrenheit und
    tiefgreifender (ich möchte sagen: toxischer) Verstimmung sind
    also für die Psychoanalyse, wenigstens wie sie bis jetzt ausgeübt
    wird, ungeeignet. Ich halte es für durchaus nicht ausgeschlossen,
    daß man bei geeigneter Abänderung des Verfahrens sich über
    diese Gegenindikation hinaussetzen und so eine Psychotherapie
    der Psychosen in Angriff nehmen könne.

    3. Das Alter der Kranken spielt bei der Auswahl zur
    psychoanalytischen Behandlung insoferne eine Rolle, als bei
    Personen nahe an oder über 50 Jahre einerseits die Plastizität
    der seelischen Vorgänge zu fehlen pflegt, auf welche die Therapie
    rechnet — alte Leute sind nicht mehr erziehbar — und als
    anderseits das Material, welches durchzuarbeiten ist, die Be-
    handlungsdauer ins Unabsehbare verlängert. Die Altersgrenze
    nach unten ist nur individuell zu bestimmen; jugendliche

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    Personen noch vor der Pubertät sind oft ausgezeichnet zu
    beeinflussen.

    4. Man wird nicht zur Psychoanalyse greifen, wenn es sich
    um die rasche Beseitigung drohender Erscheinungen handelt,
    also z. B. bei einer hysterischen Anorexie.

    Sie werden nun den Eindruck gewonnen haben, daß das
    Anwendungsgebiet der analytischen Psychotherapie ein sehr
    beschränktes ist, da Sie eigentlich nichts anderes als Gegen-
    anzeigen von mir gehört haben. Nichtsdestoweniger bleiben Fälle
    und Krankheitsformen genug übrig, an denen diese Therapie
    sich erproben kann, alle chronischen Formen von Hysterie mit
    Resterscheinungen, das große Gebiet der Zwangszustände und
    Abulien u. dgl.

    Erfreulich ist es, daß man gerade den wertvollsten und
    sonst höchstentwickelten Personen auf solche Weise am ehesten
    Hilfe bringen kann. Wo aber mit der analytischen Psycho-
    therapie nur wenig auszurichten war, da, darf man getrost be-
    haupten, hätte irgend welche andere Behandlung sicherlich gar
    nichts zustande gebracht.

    e) Sie werden mich gewiß fragen wollen, wie es bei
    Anwendung der Psychoanalyse mit der Möglichkeit, Schaden zu
    stiften, bestellt ist. Ich kann Ihnen darauf erwidern, wenn Sie
    nur billig urteilen wollen, diesem Verfahren dasselbe kritische
    Wohlwollen entgegenbringen, das Sie für unsere anderen thera-
    peutischen Methoden bereit haben, so werden Sie meiner Meinung
    zustimmen müssen, daß bei einer mit Verständnis geleiteten
    analytischen Kur ein Schaden für den Kranken nicht zu be-
    fürchten ist. Anders wird vielleicht urteilen, wer als Laie gewohnt
    ist, alles, was sich in einem Krankheitsfalle begibt, der Behandlung
    zur Last zu legen. Es ist ja nicht lange her, daß unseren
    Wasserheilanstalten ein ähnliches Vorurteil entgegenstand. So
    mancher, dem man riet, eine solche Anstalt aufzusuchen, wurde
    bedenklich, weil er einen Bekannten gehabt hatte, der als Nervöser
    in die Anstalt kam und dort verrückt wurde. Es handelte sich,
    wie Sie erraten, um Fälle von beginnender allgemeiner Paralyse,
    die man im Anfangsstadium noch in einer Wasserheilanstalt
    unterbringen konnte, und die dort ihren unaufhaltsamen Verlauf
    bis zur manifesten Geistesstörung genommen hatten; für die

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    Laien war das Wasser Schuld und Urheber dieser traurigen
    Veränderung. Wo es sich um neuartige Beeinflussungen handelt,
    halten sich auch Ärzte nicht immer von solchen Urteilsfehlern
    frei. Ich erinnere mich, einmal bei einer Frau den Versuch mit
    Psychotherapie gemacht zu haben, bei der ein gutes Stück ihrer
    Existenz in der Abwechslung von Manie und Melancholie ver-
    flossen war. Ich übernahm sie zu Ende einer Melancholie; es
    schien zwei Wochen lang gut zu gehen; in der dritten standen
    wir bereits zu Beginn der neuen Manie. Es war dies sicherlich
    eine spontane Veränderung des Krankheitsbildes, denn zwei
    Wochen sind keine Zeit, in welcher die analytische Psycho-
    therapie irgend etwas zu leisten unternehmen kann, aber der
    hervorragende — jetzt schon verstorbene — Arzt, der mit mir
    die Kranke zu sehen bekam, konnte sich doch nicht der Be-
    merkung enthalten, daß an dieser „Verschlechterung“ die Psycho-
    therapie Schuld sein dürfte. Ich bin ganz überzeugt, das er sich
    unter anderen Bedingungen kritischer erwiesen hätte.

    f) Zum Schlusse, meine Herren Kollegen, muß ich mir
    sagen, es geht doch nicht an, Ihre Aufmerksamkeit so lange
    zugunsten der analytischen Psychotherapie in Anspruch zu
    nehmen, ohne Ihnen zu sagen, worin diese Behandlung besteht,
    und worauf sie sich gründet. Ich kann es zwar, da ich kurz
    sein muß, nur mit einer Andeutung tun. Diese Therapie ist also
    auf die Einsicht gegründet, daß unbewußte Vorstellungen —
    besser: die Unbewußtheit gewisser seelischer Vorgänge — die
    nächste Ursache der krankhaften Symptome ist. Eine solche
    Überzeugung vertreten wir gemeinsam mit der französischen
    Schule (Janet), die übrigens in arger Schematisierung das
    hysterische Symptom auf die unbewußte Idée fixe zurückführt.
    Fürchten Sie nun nicht, daß wir dabei zu tief in die dunkelste
    Philosophie hineingeraten werden. Unser Unbewußtes ist nicht
    ganz dasselbe wie das der Philosophen, und überdies wollen die
    meisten Philosophen vom „unbewußten Psychischen“ nichts
    wissen. Stellen Sie sich aber auf unseren Standpunkt, so werden
    Sie einsehen, daß die Übersetzung dieses Unbewußten im Seelen-
    leben der Kranken in ein Bewußtes den Erfolg haben muß,
    deren Abweichung vom Normalen zu korrigieren und den Zwang
    aufzuheben, unter dem ihr Seelenleben steht. Denn der bewußte

  • S.

    211

    Wille reicht so weit als die bewußten psychischen Vorgänge,
    und jeder psychische Zwang ist durch das Unbewußte begründet.
    Sie brauchen auch niemals zu fürchten, daß der Kranke unter
    der Erschütterung Schaden nehme, welche der Eintritt des
    Unbewußten in sein Bewußtsein mit sich bringt, denn Sie
    können es sich theoretisch zurechtlegen, daß die somatische und
    affektive Wirkung der bewußt gewordenen Regung niemals so
    groß werden kann wie die der unbewußten. Wir beherrschen
    alle unsere Regungen doch nur dadurch, daß wir unsere höchsten,
    mit Bewußtsein verbundenen Seelenleistungen auf sie wenden.

    Sie können aber auch einen anderen Gesichtspunkt für
    das Verständnis der psychoanalytischen Behandlung wählen.
    Die Aufdeckung und Übersetzung des Unbewußten geht unter
    beständigem Widerstand von seiten der Kranken vor sich.
    Das Auftauchen dieses Unbewußten ist mit Unlust verbunden,
    und wegen dieser Unlust wird es von ihm immer wieder zurück-
    gewiesen. In diesen Konflikt im Seelenleben des Kranken greifen
    Sie nun ein; gelingt es Ihnen, den Kranken dazu zu bringen,
    daß er aus Motiven besserer Einsicht etwas akzeptiert, was er
    zufolge der automatischen Unlustregulierung bisher zurück-
    gewiesen (verdrängt) hat, so haben Sie ein Stück Erziehungs-
    arbeit an ihm geleistet. Es ist ja schon Erziehung, wenn Sie
    einen Menschen, der nicht gern früh morgens das Bett verläßt,
    dazu bewegen, es doch zu tun. Als eine solche Nacherziehung
    zur Überwindung innerer Widerstände
    können Sie nun
    die psychoanalytische Behandlung ganz allgemein auffassen. In
    keinem Punkte aber ist solche Nacherziehung bei den Nervösen
    mehr vonnöten als betreffs des seelischen Elementes in ihrem
    Sexualleben. Nirgends haben ja Kultur und Erziehung so großen
    Schaden gestiftet wie gerade hier, und hier sind auch, wie Ihnen
    die Erfahrung zeigen wird, die beherrschbaren Ätiologien der
    Neurosen zu finden; das andere ätiologische Element, der
    konstitutionelle Beitrag, ist uns ja als etwas Unabänderliches
    gegeben. Hieraus erwächst aber eine wichtige an den Arzt zu
    stellende Anforderung. Er muß nicht nur selbst ein integrer
    Charakter sein — „das Moralische versteht sich ja von selbst“,
    wie die Hauptperson in Th. Vischers „Auch Einer“ zu sagen
    pflegt —; er muß auch für seine eigene Person die Mischung

  • S.

    212

    von Lüsternheit und Prüderie überwunden haben, mit welcher
    leider so viele andere den sexuellen Problemen entgegenzutreten
    gewohnt sind.

    Hier ist vielleicht der Platz für eine weitere Bemerkung.
    Ich weiß, daß meine Betonung der Rolle des Sexuellen für die
    Entstehung der Psychoneurosen in weiteren Kreisen bekannt
    geworden ist. Ich weiß aber auch, daß Einschränkungen und
    nähere Bestimmungen beim großen Publikum wenig nützen; die
    Menge hat für wenig Raum in ihrem Gedächtnis und behält
    von einer Behauptung doch nur den rohen Kern, schafft sich
    ein leicht zu merkendes Extrem. Es mag auch manchen Ärzten
    so ergangen sein, daß ihnen als Inhalt meiner Lehre vorschwebt
    ich führe die Neurosen in letzter Linie auf sexuelle Entbehrung
    zurück. An dieser fehlt es nicht unter den Lebensbedingungen
    unserer Gesellschaft. Wie nahe mag es nun bei solcher Vor-
    aussetzung liegen, den mühseligen Umweg über die psychische
    Kur zu vermeiden und direkt die Heilung anzustreben, indem
    man die sexuelle Betätigung als Heilmittel empfiehlt? Ich weiß
    nun nicht, was mich bewegen könnte, diese Folgerung zu unter-
    drücken, wenn sie berechtigt wäre. Die Suche liegt aber anders.
    Die sexuelle Bedürftigkeit und Entbehrung, das ist bloß der
    eine Faktor, der beim Mechanismus der Neurose ins Spiel tritt
    bestünde er allein, so würde nicht Krankheit, sondern Aus-
    schweifung die Folge sein. Der andere, ebenso unerläßliche
    Faktor, an den man allzu bereitwillig vergißt, ist die Sexual-
    abneigung der Neurotiker, ihre Unfähigkeit zum Lieben, jener
    psychische Zug, den ich „Verdrängung“ genannt habe. Erst aus
    dem Konflikt zwischen beiden Strebungen geht die neurotische
    Erkrankung hervor, und darum kann der Rat der sexuellen
    Betätigung bei den Psychoneurosen eigentlich nur selten als
    guter Rat bezeichnet werden.

    Lassen Sie mich mit dieser abwehrenden Bemerkung
    schließen. Wir wollen hoffen, daß Ihr von jedem feindseligen
    Vorurteil gereinigtes Interesse für die Psychotherapie uns darin
    unterstützen wird, auch in der Behandlung der schweren Fälle
    von Psychoneurosen Erfreuliches zu leisten.