Über „wilde“ Psychoanalyse 1910-008/1924
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    UBER »WILDE« PSYCHOANALYSE

    Erschien zuerst im „Zentralblatt für Psycho-
    analyse“ I (1910), dann in der Dritien Folge der
    „Sammlung kleiner Schriften zur Neurosenlehre“,

    Vor einigen Tagen erschien in meiner Sprechstunde in Beglei-
    tung einer schützenden Freundin eine ältere Dame, die über
    Angstzustinde klagte. Sie war in der zweiten Hälfte der Vier-
    zigerjahre, ziemlich gut erhalten, hatte offenbar mit ihrer
    Weiblichkeit noch nicht abgeschlossen. AnlaB des Ausbruches
    der Zustände war die Scheidung von ihrem letzten Manne; die
    Angst hatte aber nach ihrer Angabe eine erhebliche Steigerung
    erfahren, seitdem sie einen jungen Arzt in ihrer Vorstadt kon-
    sultiert hatte; denn dieser hatte ihr auseinandergesetzt, daß die
    Ursache ihrer Angst ihre sexuelle Bediirftigkeit sei. Sie könne
    den Verkehr mit dem Manne nicht entbehren, und darum gebe
    es fiir sie nur drei Wege zur Gesundheit, entweder sie kehre
    zu ihrem Manne zuriick, oder sie nehme einen Liebhaber, oder
    sie befriedige sich selbst. Seitdem sei sie überzeugt, daß sie un-
    heilbar sei, denn zu ihrem Manne zuriick wolle sie nicht, und
    die beiden anderen Mittel widerstreben ihrer Moral und ihrer
    Religiosität. Zu mir aber sei sie gekommen, weil der Arzt ihr
    gesagt habe, das sei eine neue Einsicht, die man mir verdanke,
    und sie solle sich nur von mir die Bestitigung holen, daB es
    so sei und nicht anders. Die Freundin, eine noch ältere, ver-
    kümmert und ungesund aussehende Frau, beschwor mich dann,
    der Patientin zu versichern, daB sich der Arzt geirrt habe. Es

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    38 Zur Technik

    könne doch nicht so sein, denn sie selbst sei seit langen Jahren
    Witwe und doch anständig geblieben, ohne an Angst zu
    leiden, «

    Ich will nicht bei der schwierigen Situation verweilen, in die
    ich durch diesen Besuch versetzt wurde, sondern das Verhalten
    des Kollegen beleuchten, der diese Kranke zu mir geschickt
    hatte. Vorher will ich einer Verwahrung gedenken, die vielleicht
    — oder hoffentlich — nicht überflüssig ist. Langjährige Erfah-
    rung hat mich gelehrt — wie sie’s auch jeden anderen lehren
    könnte — nicht leichthin als wahr anzunehmen, was Patienten,
    insbesondere Nervöse, von ihrem Arzt erzählen. Der Nervenarzt
    wird nicht nur bei jeder Art von Behandlung leicht das Objekt,
    nach dem mannigfache feindselige Regungen des Patienten zielen;
    er muß es sich auch manchmal gefallen lassen, durch eine Art
    von Projektion die Verantwortung für die geheimen verdrängten
    Wünsche der Nervösen zu übernehmen. Es ist dann eine traurige,
    aber bezeichnende Tatsache, daß solche Anwürfe nirgendwo
    leichter Glauben finden als ‘bei anderen Ärzten.

    Ich habe also das Recht zu hoffen, daß die Dame in meiner
    Sprechstunde mir einen tendenziös entstellten Bericht von den
    Äußerungen ihres Arztes gegeben hat, und daß ich ein Unrecht
    an ihm, der mir persönlich unbekannt ist, begehe, wenn ich
    meine Bemerkungen über „wilde“ Psychoanalyse gerade an
    diesen Fall anknüpfe. Aber ich halte dadurch vielleicht andere
    ab, an ihren Kranken unrecht zu tun.

    Nehmen wir also an, daß der Arzt genau so gesprochen hat,
    wie mir die Patientin berichtete.

    Es wird dann jeder leicht zu seiner Kritik vorbringen, daß
    ein Arzt, wenn er es für notwendig hält, mit einer Frau über
    das Thema der Sexualität zu verhandeln, dies mit Takt und
    Schonung tun müsse, Aber diese Anforderungen fallen mit der
    Befolgung gewisser technischer Vorschriften der Psycho-
    analyse zusammen, und überdies hätte der Arzt eine Reihe von

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    Uber „wilde“ Psychoanalyse 39

    wissenschaftlichen Lehren der Psychoanalyse verkannt
    oder mißverstanden und dadurch gezeigt, wie wenig weit er
    zum Verständnis von deren Wesen und Absichten vorge-
    drungen ist.

    Beginnen wir mit den letzteren, den wissenschaftlichen Irr-
    tümern. Die Ratschläge des Arztes lassen klar erkennen, in
    welchem Sinne er das „Sexualleben“ erfaßt. Im populären näm-
    lich, wobei unter sexuellen Bedürfnissen“ nichts anderes ver-
    standen wird als das Bedürfnis nach dem Koitus oder analogen,
    den Orgasmus und die Entleerung der Geschlechtsstoffe bewir-
    kenden Vornahmen. Es kann aber dem Arzt nicht unbekannt
    geblieben sein, daß man der Psychoanalyse den Vorwurf zu
    machen pflegt, sie dehne den Begriff des Sexuellen weit über
    den gebräuchlichen Umfang aus. Die Tatsache ist richtig; ob
    sie als Vorwurf verwendet werden darf, soll hier nicht erörtert
    werden. Der Begriff des Sexuellen umfaßt in der Psychoanalyse
    weit mehr; er geht nach unten wie nach oben über den popu-
    laren Sinn hinaus. Diese Erweiterung rechtfertigt sich gene-
    tisch; wir rechnen zum ,Sexualleben auch alle Betätigungen
    zärtlicher Gefühle, die aus der Quelle der primitiven sexuellen
    Regungen hervorgegangen sind, auch wenn diese Regungen
    eine Hemmung ihres ursprünglich sexuellen Zieles erfahren oder
    dieses Ziel gegen ein anderes, nicht mehr sexuelles, vertauscht
    haben. Wir sprechen darum auch lieber von Psychosexua-
    lität, legen so Wert darauf, daß man den seelischen Faktor
    des Sexuallebens nicht übersehe und nicht unterschätze. Wir
    gebrauchen das Wort Sexualität in demselben umfassenden
    Sinne, wie die deutsche Sprache das Wort „lieben“. Wir wissen
    auch längst, daß seelische Unbefriedigung mit allen ihren
    Folgen bestehen kann, wo es an normalem Sexualverkehr nicht
    mangelt, und halten uns als Therapeuten immer vor, daß von
    den unbefriedigten Sexualstrebungen, deren Ersatzbefriedigungen
    ‏מו‎ der Form nervóser Symptome wir bekämpfen, oft nur ein

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    geringes Maß durch den Koitus oder andere Sexualakte abzu-
    führen ist. |

    Wer diese Auffassung der Psychosexualitit nicht teilt, hat
    kein Recht, sich auf die Lehrsätze der Psychoanalyse zu berufen,
    in denen von der ätiologischen Bedeutung der Sexualität ge-
    handelt wird. Er hat sich durch die ausschließliche Betonung
    des somatischen Faktors am Sexuellen das Problem gewiß sehr
    vereinfacht, aber er mag für sein Vorgehen allein die Verant-
    wortung tragen.

    Aus den Ratschlägen des Arztes leuchtet noch ein zweites
    und ebenso arges Mißverständnis hervor.

    Es ist richtig, daß die Psychoanalyse angibt, sexuelle Unbe-
    friedigung sei die Ursache der nervösen Leiden. Aber sagt sie
    nicht noch mehr? Will man als zu kompliziert beiseite lassen,
    daß sie lehrt, die nervösen Symptome entspringen aus einem
    Konflikt zwischen zwei Mächten, einer (meist übergroß gewor-
    denen) Libido und einer allzu strengen Sexualablehnung oder
    Verdrängung? Wer auf diesen zweiten Faktor, dem wirklich
    nicht der zweite Rang angewiesen wurde, nicht vergißt, wird
    nie glauben können, daß Sexualbefriedigung an sich ein allge-
    mein verlåBliches Heilmittel gegen die Beschwerden der Ner-
    vösen sei. Ein guter Teil dieser Menschen ist ja der Befriedigung
    unter den gegebenen Umständen oder überhaupt nicht fähig.
    Wären sie dazu fähig, hätten sie nicht ihre‘ inneren Wider-
    stände, so würde die Stärke des Triebes ihnen den Weg zur
    Befriedigung weisen, auch wenn der Arzt nicht dazu raten würde.
    Was soll also ein solcher Rat, wie ihn der Arzt angeblich jener
    Dame erteilt hat? i

    Selbst wenn er sich wissenschaftlich rechtfertigen läßt, ist er
    unausführbar für sie. Wenn sie keine inneren Widerstände gegen
    die Onanie oder gegen ein Liebesverhältnis hätte, würde sie ja
    längst zu einem von diesen Mitteln gegriffen haben. Oder meint
    der Arzt, eine Frau von über 40 Jahren wisse nichts davon,

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    Über „wilde“ Psychoanalyse 41

    daß man sich einen Liebhaber nehmen kann, oder überschätzt
    er seinen Einfluß so sehr, daß er meint, ohne ärztliches Gut-
    heißen würde sie sich nie zu einem solchen Schritt entschließen
    können ?

    Das scheint alles sehr klar, und doch ist zuzugeben, daß es
    ein Moment gibt, welches die Urteilsfällung oft erschwert. Manche
    der nervösen Zustände, die sogenannten Aktualneurosen
    wie die typische Neurasthenie und die reine Angstneurose, hängen
    offenbar von dem somatischen Faktor des Sexuallebens ab,
    während wir über die Rolle des psychischen Faktors und der
    Verdrängung bei ihnen noch keine gesicherte Vorstellung haben.
    In solchen Fällen ist es dem Arzte nahegelegt, eine aktuelle
    Therapie, eine Veränderung der somatischen sexuellen Betätigung,
    zunächst ins Auge zu fassen, und er tut dies mit vollem Recht,
    wenn seine Diagnose richtig war. Die Dame, die den jungen
    Arzt konsultierte, klagte vor allem über Angstzustände, und da
    nahm er wahrscheinlich an, sie leide an Angstneurose, und hielt
    sich für berechtigt, ihr eine somatische Therapie zu empfehlen.
    Wiederum ein bequemes Mißverständnis! Wer an Angst leidet,
    hat darum nicht notwendig eine Angstneurose; diese Diagnose ist
    nicht aus dem Namen abzuleiten; man muß wissen, welche Er-
    scheinungen eine Angstneurose ausmachen, und sie von anderen,
    auch durch Angst manifestierten Krankheitszuständen unter
    scheiden. Die in Rede stehende Dame litt nach meinem Ein-
    druck an einer Angsthysterie, und der ganze, aber auch
    voll zureichende Wert solcher nosographischer Unterscheidungen
    liegt darin, daß sie auf eine andere Ätiologie und andere Therapie
    hinweisen. Wer die Möglichkeit einer solchen Angsthysterie ins
    Auge gefaßt hätte, der wäre der Vernachlässigung der psychischen
    Faktoren, wie sie in den Alternativratschlägen des Arztes hervor-
    tritt, nicht verfallen.

    Merkwürdig genug, in dieser therapeutischen Alternative des
    angeblichen Psychoanalytikers bleibt kein Raum — für die Psycho-

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    analyse. Diese Frau soll von ihrer Angst nur genesen können,
    wenn sie zu ihrem Manne zuriickkehrt oder sich auf dem Wege
    der Onanie oder bei einem Liebhaber befriedigt. Und wo hitte
    die analytische Behandlung einzutreten, in der wir das Haupt-
    mittel bei Angstzustinden erblicken?

    Somit wären wir zu den technischen Verfehlungen gelangt,
    die wir in dem Vorgehen des Arztes im angenommenen Falle
    erkennen. Es ist eine längst überwundene, am oberflächlichen
    Anschein haftende Auffassung, daß der Kranke infolge einer Art
    von Unwissenheit leide, und wenn man diese Unwissenheit
    durch Mitteilung (über die ursächlichen Zusammenhänge seiner
    Krankheit mit seinem Leben, über seine Kindheitserlebnisse usw.)
    aufhebe, müsse er gesund werden. Nicht dies Nichtwissen an
    sich ist das pathogene Moment, sondern die Begründung- des
    Nichtwissens in inneren Widerständen, welche das
    Nichtwissen zuerst hervorgerufen haben und es jetzt noch unter-
    halten. In der Bekämpfung dieser Widerstände liegt die Aufgabe
    der Therapie. Die Mitteilung dessen, was der Kranke nicht
    weiß, weil er es verdrängt hat, ist nur eine der notwendigen
    Vorbereitungen für die Therapie. Wäre das Wissen des Unbe-
    wußten für den Kranken so wichtig wie der in der Psychoanalyse
    Unerfahrene glaubt, so müßte es zur Heilung hinreichen, wenn
    der Kranke Vorlesungen anhört oder Bücher liest. Diese Maß-
    nahmen haben aber ebensoviel Einfluß auf die nervösen Leidens-
    symptome wie die Verteilung von Menukarten zur Zeit einer
    Hungersnot auf den Hunger. Der Vergleich ist sogar über seine
    erste Verwendung hinaus brauchbar, denn die Mitteilung des
    Unbewußten an den Kranken hat regelmäßig die Folge, daß der
    Konflikt in ihm verschärft wird und die Beschwerden sich steigern.

    Da die Psychoanalyse aber eine solche Mitteilung nicht
    entbehren kann, schreibt sie vor, daß sie nicht eher zu erfolgen
    habe, als bis zwei Bedingungen erfüllt sind. Erstens bis der
    Kranke durch Vorbereitung selbst in die Nähe des von ihm

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    Verdrängten gekommen ist, und zweitens, bis er sich so weit an
    den Arzt attachiert hat (Übertragung), daß ihm die
    Gefühlsbeziehung zum Arzt die neuerliche Flucht unmöglich
    macht.

    Erst durch die Erfüllung dieser Bedingungen wird es möglich,
    die Widerstände, welche zur Verdrängung und zum Nichtwissen
    geführt haben, zu erkennen und ihrer Herr zu werden. Ein
    psychoanalytischer Eingriff setzt also durchaus einen längeren
    Kontakt mit dem Kranken voraus, und Versuche, den Kranken
    durch die brüske Mitteilung seiner vom Arzt erratenen Geheim-
    nisse beim ersten Besuch in der Sprechstunde zu überrumpeln,
    sind technisch verwerflich und strafen sich meist dadurch, daß
    sie dem Arzt die herzliche Feindschaft des Kranken zuziehen und
    jede weitere Beeinflussung abschneiden.

    Ganz abgesehen davon, daß man manchmal falsch rät und
    niemals imstande ist, alles zu erraten. Durch diese bestimmten
    technischen Vorschriften ersetzt die Psychoanalyse die Forderung
    des unfaßbaren „ärztlichen Taktes“, in dem eine besondere
    Begabung gesucht wird.

    Es reicht also für den Arzt nicht hin, einige der Ergebnisse
    der Psychoanalyse zu kennen; man muß sich auch mit ihrer
    Technik vertraut gemacht haben, wenn man sein årztliches
    Handeln durch die psychoanalytischen Gesichtspunkte — leiten
    lassen will Diese Technik ist heute noch nicht aus Büchern zu
    erlernen und gewiB nur mit groBen Opfern an Zeit, Mühe und
    Erfolg selbst zu finden. Man erlernt sie wie andere ärztliche
    Techniken bei denen, die sie bereits beherrschen. Es ist darum
    gewiB für die Beurteilung des Falles, an den ich diese Bemer-
    kungen knüpfe, nicht gleichgültig, daß ich den Arzt, der solche
    Ratschläge gegeben haben soll, nicht kenne und seinen Namen
    nie gehórt habe.

    Es ist weder mir noch meinen Freunden und Mitarbeitern
    angenehm, in solcher Weise den Anspruch auf die Ausübung

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    einer ärztlichen Technik zu monopolisieren. Aber angesichts der
    Gefahren, die die vorherzusehende Übung einer „wilden“ Psycho-
    analyse fiir die Kranken und fiir die Sache der Psychoanalyse
    mit sich bringt, blieb uns nichts anderes übrig. Wir haben im
    Frühjahr 1910 einen internationalen psychoanalytischen Verein
    gegründet, dessen Mitglieder sich durch Namensverøffentlichung
    zu ihm bekennen, um die Verantwortung für das Tun aller
    jener ablehnen zu können, die nicht zu uns gehören und ihr
    årztliches Vorgehen „Psychoanalyse“ heißen. Denn in Wahrheit
    schaden solche wilde Analytiker doch der Sache mehr als dem
    einzelnen Kranken. Ich habe es häufig erlebt, daß ein so un-
    geschicktes Vorgehen, wenn es zuerst eine Verschlimmerung im
    Befinden des Kranken machte, ihm am Ende doch zum Heile
    gereicht hat. Nicht immer, aber doch oftmals. Nachdem er lange
    genug auf den Arzt geschimpft hat und sich weit genug von seiner
    Beeinflussung weiß, lassen dann seine Symptome nach, oder er
    entschließt sich zu einem Schritt, welcher auf dem Wege zur
    Heilung liegt. Die endliche Besserung ist dann „von selbst“
    eingetreten oder wird der höchst indifferenten Behandlung eines
    Arztes zugeschrieben, an den sich der Kranke spiter gewendet
    hat. Für den Fall der Dame, deren Anklage gegen den Arzt
    wir gehört haben, möchte ich meinen, der wilde Psychoanalytiker
    habe doch mehr fiir seine Patientin getan als irgend eine hoch-
    angesehene Autorität, die ihr erzählt hätte, daß sie an einer
    „vasomotorischen Neurose^ leide. Er hat ihren Blick auf die
    wirkliche Begründung ihres Leidens oder in dessen Nähe
    gezwungen, und dieser Eingriff wird trotz alles Sträubens der
    Patientin nicht ohne günstige Folgen bleiben. Aber er hat sich
    selbst geschädigt und die Vorurteile steigern geholfen, welche
    sich infolge begreiflicher Affektwiderstände bei den Kranken
    gegen die Tätigkeit des Psychoanalytikers erheben. Und dies

    kann vermieden werden.