Ueber den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene 1895-005/1893.3
  • S.

    Wiener medicinischer Club.

    Sitzung vom 11. Jänner 1893.

    (Originalbericht der Internationalen Klinischen Rundschau.)
    Dozent Freud: Ueber den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene.

    Alle neueren Kenntnisse in Bezug auf die Hysterie knüpfen an die Arbeiten von **CHARCOT** an, und hat besonders die Lehre von den traumatischen Lähmungen durch ihn eine wesentliche Klärung erlangt. Um eine hysterische Lähmung hervorzurufen, muss das Trauma schwer sein und die Bedrohung der Existenz in sich schliessen. So erwähnt CHARCOT z. B. eines Falles, wo einem Arbeiter ein Scheit Holz auf den rechten Arm fällt. Der betroffene Mann hat zwar im Anfang das Gefühl, als sei ihm der Arm zer- schmettert worden, überzeugt sich aber bald, dass ihm nichts ge- schehen sei. Eines schönen Tages aber erwacht er und der Arm hängt schlaff herab. CHARCOT ist aber auch im Stande, solche Lähmungen in der Hypnose durch Suggestion hervorzurufen, u. zw. sowohl durch verbale als auch durch die That. Merkwürdig ist es, dass solche Lähmungen ganz denselben Charakter haben, wie die gewöhnlichen traumatischen Lähmungen. Analogisirt man die beiden Entstehungsarten der Lähmung, so liegt es nahe anzuneh- men, dass auch der spontanen traumatischen Lähmung eine ähnliche Vorstellung der Gefahr zu Grunde liege. Es muss aber auch angenommen werden, dass zur Erzielung eines solchen End- effektes ein besonderer Geisteszustand des betroffenen Individuums vorhanden sein müsse. Die Lähmung ist daher so aufzu- fassen, dass der **psychische Vorgang das Entstehen** **der Symptome eindeutig determinirt**. Dieselbe Erklä- rung hat auch CHARCOT den anderen hysterischen Symptomen (Kontraktur, Schmerz u. s. w.) zu Grunde gelegt.

  • S.

    Dr. BREUER hat hier in Wien eine Dame behandelt, welche
    sich bei der Pflege ihres kranken Vaters eine schwere Hysterie
    mit mannigfachen Symptomen zugezogen hatte. Dieser Fall hat
    deswegen eine so hohe Bedeutung, weil er den ersten, wo es
    gelang alle Symptome zu durchleuchten und den Grund für die-
    selben aufzufinden. Freud hat hierauf noch eine ganze Reihe
    Hysterischer untersucht und gefunden, dass das Verhalten derselbe
    ein typisches sei und dass die Erfahrungen an denselben Schlüsse
    auf die Gesammtzahl zulassen. Bei der Anamnese nach der Ursache
    bekommt man oft gar keine Antwort, einmal weil sie die Patienten
    selbst nicht wissen, ein andermal, weil sie einen Grund haben
    dieselbe zu verheimlichen. Um eine befriedigende Antwort zu be-
    kommen, muss man die Kranken hypnotisiren, sie bekommen dann
    die Erinnerung, über welche im wachen Zustande nicht ver-
    fügen, es hat sich dabei herausgestellt, dass hinter den meisten
    Symptomen der Hysterie irgend ein mit Affekt vor sich gegangenes
    Erlebniss steckt und dass dasselbe das entscheidende Symptom leicht ver-
    stehen lässt. Ueberall fand das Entstehen ziemlich leicht
    eines psychischen Traumas, welches zu den späteren
    Krankheiten eine bestimmte Beziehung hat, so dass
    es dieselben eindeutig determinirt. So hatte z. B. die
    Kranke von BREUER eine Kontraktur des rechten Armes; sie sass
    einmal am Bette ihres kranken Vaters, den Arm über die Sessel-
    lehne hängend, während ihr einschliesslich. Durch eine „schreckhafte
    Hallucination“ aus dem Schlafe geweckt, wollte sie den Arm er-
    heben, konnte es aber nicht. Der Arm behielt in der Folge eine
    Kontraktur und war anästhetisch.
     

    Eine andere Frau hatte tic-ähnliche Zuckungen mit einem
    eigenthümlichen Zungenschmatzen. Als sie einmal ihr krankes Kind
    nach langer Mühe eingeschläfert hatte, war sie bestrebt, sehr ruhig
    zu bleiben, die Furcht schlug aber in die Aktion um und sie
    machte das Geräusch, welches sie in der Folge nicht los werden
    konnte. Wohl hörte es später auf bei einer Fahrt aber, wo in
    der Nähe des Wagens der Blitz einschlug und die Pferde scheuten,
    war sie wieder bestrebt, sehr ruhig zu bleiben und das Zungen-
    schmatzen stellte sich wieder ein. Es ist dies ein Beweis, dass eine
    einzige Veranlassung oft nicht hinreicht ein Symptom zu fixiren.
     

    Ein sehr häufiger Symptom ist das Erbrechen. So hatte
    FREUD eine Patientin, die einmal einen kränkenden Brief bekam,
    als sie gezwungen war mit ihr unliebsamen Personen gemeinschaft-
    lich zu essen. Hierauf trat das Erbrechen ein.
     

    Auch jede Art von Schlafstörung findet auf diese Weise ihre
    Erklärung. So konnte eine Patientin erst um 6 Uhr Morgens ein-
    schlafen. Sie hatte durch jahrelang ihren kranken Mann gepflegt
    und durch eine Thür von seinem Schlafzimmer getrennt, wachte
    sie die ganze Nacht auf seine Athemzüge. Um 6 Uhr früh stand
    der Mann auf und da erst konnte die Frau einschlafen.
     

    Ein Mann schlief seit 15 Jahren sehr schlecht. Im
    Sommer schlief er sehr gut, im Winter dagegen sehr schlecht, am
    ärgsten im November. Vor 12 Jahren war nämlich seine kleine
    Tochter im November an Diphtheritis erkrankt und er brachte bei
    derselben so manche schlaflose Nacht zu.
     

    Auch Sprachstörungen lassen sich auf diese Weise erklären.
    So kannte Freud eine Patientin, welche während ihrer Krankheit
    nur englisch sprach und kein deutsches Wort finden konnte. Sie
    versuchte nämlich einmal früher in ihrer Angst zu beten, fand
    aber keine Worte, endlich fielen ihr aber einige Worte eines
    englischen Kindergebetes ein. Als sie hierauf erkrankte, war sie
    nur der englischen Sprache mächtig.
     

    Oft ist die Determination des psychischen Traumas nur sym-
    bolisch. So hatte eine Patientin einen stechenden Schmerz zwischen
    den Augenbrauen, den sie davon ableitete, dass sie von ihrer Gross-
    mutter tiefgreifend angeschaut wurde. Der Blick derselben drang ihr in
    Auseinander. Ein komisch ist folgender Fall: in dem ein junges
    Mädchen an eigenthümlichen Schmerzen in der rechten Ferse litt. Als
    Grund dafür gab sie an, dass sie zu der Zeit, wo sie das erste Mal in
    die Welt eingeführt wurde, Angst bekam, dann das rechte Auftreten
    finden zu können. So wird der seelische Schmerz oft umge-
    arbeitet in körperliche Schmerzen.

    Ueber den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene - Fortsetzung

    Einige typische hysterische Symptome lassen sich aber nicht
    determiniren, so z. B. Anästhesien, Gesichtsfeldeinschränkung. Die
    anderen hysterischen Formen lassen sich aber ungezwungen als
    psychisches Trauma auffassen.
     

    Eine andere Ursache dieser hysterischen Dauersymptome kann
    durch das Beispiel eines Fremdkörpers illustrirt werden. Dieser
    wirkt solange als reizende Ursache, bis er entfernt wird. Dagegen
    hat die Erfahrung gemacht, dass die Milieuse, nach der Ur-
    sache des Symptoms zu suchen, gleichzeitig ein
    therapeutisches Verfahren sei. Gelingt es, der Kranken in
    der Hypnose zum eigentlichen Erlebniss zu bringen, so ge-
    schieht dies gewöhnlich mit grosser Lebhaftigkeit, die Schmerzen
    treten noch ein Mal so heftig auf, um dann für immer zu ver-
    schwinden. Erinnerung ohne Affekt nützt aber gar nichts, ebenso
    hat die Mittheilung im wachen Zustande keine Löslung. Man
    muss daher annehmen, dass das psychische Trauma noch
    immer in dem Individuum fortwirke und die hysterische Dauer-
    symptom erhalte.
     

    Es fragt sich nun, unter welchen Bedingungen verfallen Vor-
    stellungen der Usur, wann entgegen sie dem Vergessen? Bekommt
    das Individuum einen psychischen Eindruck, so ist sein Bestreben
    die entstandene Erregungssumme wieder zu verkleinern, die Steige-
    rung geht vor sich auf sensiblen Bahnen, die Verkleinerung auf
    motorischen. Eine erfahrene Beleidigung z. B. ist ein psychisches
    Trauma, gelingt es aber nicht, der Arm behielt in der Folge eine
    Kontraktur und war anästhetisch.
     

    Wir fragen nun, unter welchen Bedingungen verfallen Vor-
    stellungen der Usur, wann entgegen sie dem Vergessen? Bekommt
    das Individuum einen psychischen Eindruck, so ist sein Bestreben
    die entstandene Erregungssumme wieder zu verkleinern, die Steige-
    rung geht vor sich auf sensiblen Bahnen, die Verkleinerung auf
    motorischen. Eine erfahrene Beleidigung z. B. ist ein psychisches
    Trauma, gelingt es dem Beleidigten, so viel von der Erregung abzu-
    führen, als ihm z. B. durch den Schlag zugefügt wurde, so wird
    ihm gleich leichter. Durch die motorische Reaction wird dann der
    Affekt verkleinert. Für kleine psychische Traumen genügt Weinen,
    toben, Schimpfen u. s. w. für intensivere psychische Traumen aber
    zu bleiben, die Furcht schlug aber in die Aktion um und sie
    machte das Geräusch, welches sie in der Folge nicht los werden
    konnte. Wohl hörte es später auf bei einer Fahrt aber, wo in
    der Nähe des Wagens der Blitz einschlug und die Pferde scheuten,
    war sie wieder bestrebt, sehr ruhig zu bleiben und das Zungen-
    schmatzen stellte sich wieder ein. Es ist dies ein Beweis, dass eine
    einzige Veranlassung oft nicht hinreicht ein Symptom zu fixiren.
     

    Bei der Hysterie dagegen sind die Erinnerungen pathogen
    geworden und sie nehmen daher der Usur gegenüber eine Ausnahms-
    stellung ein. Hier handelt es sich überall um psychische Traumen,
    die nicht vollständig erledigt werden. Der Hysterische leidet
    an Reminiscenzen, mit denen er nicht fertig werden
    kann. Oft findet sich aber als Ursache einer hysterischen Er-
    scheinung ein ganz geringfügiges Erlebniss, das aber dadurch zu
    einem psychischen Trauma erhoben wurde, dass es in einem
    moment krankhaft gesteigerter Disposition stattfand, also in einem
    hypnoiden Zustande.
     

    Der Hysterische leidet daher an Reminiscenzen
    psychischer Traumen, zu denen jene Erlebnisse
    werden, welche nicht vollständig erledigt werden
    können, sei es, dass er sich die eine oder
    andere Art der Erledigung versagt, oder sei es, dass
    das Erlebniss in einem Zustande aufgetreten ist, der
    sich zur Erledigung nicht eignet.
     

    Ein wesentlicher Charakter der Hysterie liegt in der Neigung
    zur Entstehung von mannigfachen Bewusstseinszuständen, die patho-
    logisch sind. Es gibt aber keine Hysterie ohne hypnoiden
    Zustand.
     

    Es handelt sich dabei um ein psychisches Trauma, das sich
    vollkommen erhalten hat, dessen Affekt noch so ist wie im An-
    fange, ohne dass es verkleinert worden wäre. Die Therapie kommt dabei
    einem häufigen menschlichen Wunsche entgegen, nämlich etwas zwei
    Mal thun zu dürfen. Man lässt nun den Patienten die Begebenheit in der
    Hypnose ein zweites Mal erleben, man nöthigt ihn, die Reaction
    zu erneuern. Wir beheben die einzelnen Symptome dadurch, dass
    wir den eingeklemmten Affekt die unerledigte Re-
    aktion vollziehen lassen.
                                                                                           Dr. Em. Mandl.