S.
Varia.
Zum Familienkomplex.
a) Aus Dichtern.
In dem „Anton Reiser“, der Selbstbiographie von Karl Philipp
Moritz finden sich folgende für den Psychoanalytiker interessante Aus-
fithrungen iiber den Familienroman und Elternkomplex sowie seine Beziehung
zum dichterischen Schaffen,„Noch eine Empfindung aus den Jahren seiner Kindheit ist vielleicht
nicht unschicklich hier herangezogen zu werden — er dachte sich damals
zuweilen, wenn er andere Eltern als die seinigen hätte und
die seinigen ihn nun nichts angingen, sondern ih m ganz gleich-
gültig wären. — — Über den Gedanken vergoß er oft kindische Tränen
— seine Eltern mochten sein, wie sie wollten, so waren sie ihm doch. die
liebsten — und er hätte sie nicht gegen die vornehmsten und
gütigsten vertauscht. — Aber zugleich kam ihm auch schon damals
das Sonderbare Gefühl von dem Verlieren unter der Menge, und das es
noch so unzählig viele Eltern mit Kindern außer den seinigen gab, worunter
sich diese wieder verloren.“ (S. 256 f.).„So ist die Wahl des Schrecklichen ebenfalls ein schlimmes Zeichen,
wenn das vermeinte poetische Genie gleich zuerst darauf verfüllt; denn freilich
xnacht sich hier das Poetische auch schon von selber und die innere Leerheit
und Unfruchtbarkeit soll durch den äußeren Stoff ersetzt werden. — Dies
war der Fall bei Reisern schon in Hannover auf der Schule, wo er Mein-
eid, Blutschande und Vatermordineinem Trauerspiel zusammen-
zuhäufen suchte, das „Der Meineid“ heißen sollte, und wobei er sich dann
immer die wirkliche Aufführung des Stückes und zugleich den Effekt dachte,
den es auf die Zuschauer machen würde.* (S. 462 der Ausgabe von Heinrich
Schnabel, München 1912). (Dr. Lorenz.)In einer kürzlich erschienenen Utopie: ,Josua. Ein frohes Evangelium aus
künftigen Tagen.“ Nach einem französischen Manuskript (Wien und Leipzig.
Verlag Wilhelm Braumüller, 1912) findet sich folgende, den Psychoanalytiker
überraschende Stelle: In Rouen lernte Josua ein Müdchen kennen, das ihn zu
lieben begann; er bat es aber, das Gefühl nicht wachsen zu lassen, ,Mir tut
es nicht not, geliebt zu werden. Die Mütter, glaube ich, gewóhnen durch ihr
Hiitscheln die Menschen daran, geliebt werden zu wollen. Aber das muß man
nicht sein u. s. f.* (nach einem Referate der Arb.-Ztg. vom 26. Mai 1912).
Selten noch ist das Vorbildlicho der ersten Liebe des Kindes für das ganze
spütere Leben von einem Nichtpsychoanalytiker so klar ausgesprochen worden
wie hier, (Friedjung.)In Ellen Key's Buch über die „Rahel“ heißt es: „Der junge Italiener
Rocca wurde von glühender Liebe zur 20 Jahre älteren Mad. Stagl ergriffen,S.
Varia. 291
im ersten Augenblick, als dieselbe sich über die Bahre beugte, auf der der
verwundete Jiingling ruhte. Als Freunde ihm sagten, daß sie ja seine Mutter
sein könnte, antwortete er: dies sei ja nur ein Grund mehr sie zu lieben, und
er wolle sie so hingebend lieben, daß sie ihn schließlich heiraten würde — wie
dies auch geschah,“ (Hitschmann.)Strindberg „Die gotischen Zimmer", 8. 276.
„+ - . Ich glaube an das selbständige Dasein der Seelen außerhalb der
Körper und an geistige Blutschande. Wir müssen auf irgend eine unbekannte
Weise Geschwister sein, und darum bekommen wir kein Kind; darum tragen
wir an einer Schuld, an einem Schamgefühl, das wir nicht erklären können.
Du bist nicht die, die du bist, denn wenn du abwesend bist, und ich dich mir
vorzustellen versuche, wirst du eine andere . . .— Wer werde ich dann?
— Bald meine Mutter, bald meine Schwester, bald . . .*
(Dr. Karl Weiß.)
Zu Rousseaus 200. Geburtstag schreibt A. J. Storfer im Berliner
Tageblatt vom 27. Juni 1912 in einem „Frau v. Warens“ betitelten Artikel
unter anderem folgendes :» + . . Jean Jacques kannte nicht die Frau, die ihm das Leben gab.
Er kannte sie nur aus den Erzählungen des Vaters. Da saßen sie neben-
einander in langen Nächten, der verlassene Mann und der verlassene Knabe,
und der Vater begann: „Jean Jaques, laß uns von deiner Mutter
reden...“„Und ist nicht das ganze Leben des armen Jean Jaques ein Märchen, ein
Märchen vom Waisenknaben, der ausging, seine Mutter zu suchen? . . . Frau
.ד Warens — eine Phase dieses Märchens im kleinen Maßstab des Einzel-
daseins; die Philosophie Rousseaus — eine Wiederholung im großen, ein
Höherhängen der Ziele. In der Gesellschaft der zärtlich geliebten mütter-
lichen Freundin lernte Rousseau die friedliche Sprache der Dorfglocke, den
unbefangenen Vogelsang, die Landschaft, die Natur lieben, die Liebe zur
Natur verkünden. Die Auflehnung gegen die Zivilisation, gegen das Männer-
werk, das Werk der staatsbildenden Gesellschaftsordnung, entspringt dem Groll
des Gesindemenschen, des Plebejers, der — unbewußt berauscht am Mythus
vom Mutterrecht — von der Gleichheit aller vor Mutterherzen träumt . . .
Die Aufforderung an die Mütter, ihre Kinder selbst zu säugen, geht zwar von
einem Manne aus, der seine Kinder ins Findelhaus aussetzte, aber von einem
Manne, den ein sterbendes Weib geboren hatte...“b) Aus der Tageschronik.
Am 3. September 1912 wurde im Neuwaldegger Park die 34jährige
Weinbauersgattin Barbara W. wegen Selbstmordverdachtes angehalten. Während
sie Not als Grund ihres Lebensiiberdrusses angab, teilten Nachbarn der Sicher-
heitswache mit, ,daB eigentlich Furcht vor Strafe der wahre Grund ihres
Lebensüberdrusses sei. Frau W. hat sich nämlich mit ihrem eigenen
auBerehelichen Sohne Otto K., einem Jungen von zwölf Jahren,
schwer vergangen und geduldet, daB der Knabe mit seiner
fünfjährigen Halbschwester Marie sträflichen Umgang pflege.
Otto K. war verschwunden. Seit acht Tagen ist er herumvagiert, ruhelos und
unauffindbar. Das Kommissariat ließ eine Streifung vornehmen und tatsächlich
wurde der arme Junge am 4. d. im Steinbruch nächst der Paul Konrathgasse19%
S.
292 Varia.
ausgeforscht. Die Mutter ist dem Landesgericht eingeliefert worden. Der Sohn
wurde dem Jugendheim der Polizei tbergeben.“„Mutter und Sohnin wilder Ehe. AusSzegedin, 25, Juli 1912,
wird uns telegraphiert: Das hiesige Gericht verurteilte die 54jährige Marie
Kövago zu drei Jahren Zuchthaus und ihren 30jåhrigen Sohn Paul zu sechs
Monaten Zuchthaus. Die beiden lebten seit Jahren miteinander in Blut-
schande. Aus dieser sonderbaren wilden Ehe entsprossen vier Kinder.
Bereichnend ist es, daß fast alle Bewohner der Pulita Kistelek, wo die
beiden wohnten, von dem Verhältnis wußten und trotzdem keine Anzeige er-
statteten. Küvago erklärte, er sei bereits in seiner frühesten Jugend
von seiner Mutter verführt worden.“„Blutschande zwischen Mutter und Sohn. Aus Budapest,
29. Mirz 1913, wird uns telegraphiert: Die Budapester Polizei verhaftete
heute die 48jihrige Gattin des Metalldruckers Johann Jedlitschka und ihren
25jåhrigen Sohn, den Silberarbeiter Rudolf Jedlitschka, unter der Anklage der
Blutschande. Mutter und Sohn hatten seit Jahren ein Liebesverhiltnis
unterhalten, dem ein Kind entsprossen war, das jedoch nach 16 Monaten
bereits starb. Frau Jedlitschka wollte mit ihrem Sohn nach Amerika aus-
wandern, und um sich hiezu das nötige Geld zu verschaffen, wollte sie ihre
beiden Tóchter dazu veranlassen, ihre Heiratspolizzen der Mutter auszufolgen.
Da sich die Mädchen weigerten, bedrohte sie ihr Bruder am Leben. Die
Mädchen erstatteten die Anzeige wegen Erpressung, und bei dieser Gelegen-
heit stellte sich das fiirchterliche Verhältnis zwischen Mutter und Sohn heraus,
Beide gestanden auch ihr Verbrechen ein. Johann Jedlitschka, der Gatte,
wird als ein fleiBiger Arbeiter geschildert.“„Schreckenstat einer eifersüchtigen Mutter. Eine merk-
wiirdige Familientragödie spielte sich dieser Tage in New York ab. Mrs.
Griffin, eine 60jährige Dame hat ihren 40jährigen Sohn Peter durch Leucht-
gas getötet und nach vollbrachter Tat auf die gleiche Weise sich selbst den
Tod gegeben. Mutter und Sohn waren einander in zårtlicher Liebe
ergeben und der Sohn, als er bereits die hervorragende Stellung des Direktors
eines Telegraphenbureaus erreicht hatte und von seinen Freunden zu einer Heirat
gedrängt wurde, pflegte nur zu antworten, daß seine Mutter ihm mehr sei,
als die beste der Frauen. ‚Ich könnte nie erhoffen, verheiratet so glücklich
und zufrieden zu sein, als ich es bin unter der zårtlichen Fürsorge meiner Mutter“.
Vor kurzem jedoch verliebte er sich in ein junges Miidchen und als die Mutter
das wachsende Interesse des Mannes fir die Dame, die versprochen hatte,
seine Gattin zu werden, bemerkte, erfaBte sie rasende Eifersucht und Ver-
zweiflung. Nachdem sie ihren Sohn ohne Erfolg gebeten hatte, von der Heirat
abzusehen, entschloB sie sich zu der entsetzlichen Tat. In der Nacht, als ihr
Sohn schlief, nahm Mrs. Griffin den Gasschlauch und legte ihn, nachdem sie
den Hahn geöffnet, auf ihres Sohnes Polster. Dann ging sie in die Küche,
öffnete dort den Hahn des Gasherdes und legte sich auf den Boden, um zu
sterben. Als man am nächsten Morgen in die Wohnung kam, waren Mutter
und Sohn bereits tot.“„Die miBhandelte Mutter. Attentat eines Sohnes auf den
Vater. Gestern hat sich in einer Familie in der StuwerstraBe im Prater ein
entsetzliches Drama abgespielt. Der 18jihrige Sohn warf sich zum Richer
der von dem rohen Vater miBhandelten Mutter auf und streckte ihren Peiniger
mit einem Messerstich zu Boden.“,Einirrsinniger Vatermórder, Budapest, 13. Jänner. Gestern
spielte sich im Franziskanerbasarhaus eine entsetzliche Familientragödie ab.S.
Varia. 298
Der 28jährige Josef Schóberl tötete seinen Vater, den bekannten Erfin-
der der Sophastiihle, angeblich, weil dieser ihm kein Geld geben wollte. Nach
dem Morde begab sich der junge Mann auf die Straße und rief: ‚Ich habe
meinen Vater erschossen!‘ Es wurde bald festgestellt, daß der junge Mannirrsinnig sei,“ — Bei der kürzlich erfolgten Gerichtsverhandlung verant-
wortete sich der junge Mann — nach dem Bericht der Zeitungen — damit,
daß sein Vater — ein notorisch Homosexueller — ihn geschlechtlich mifi-braucht hätte.
„Moskau, 29. Jänner. (Meldung der Petersburger Telegraphenagentur.)
Heute morgen zerschnitt in der Tretjakowschen Bildergalerie ein
Besucher mit einem Messer das Gemälde Rjepins „Iwan der Schreck-
liche tötet seinen Sohn“, Die Diener ergriffen den Attentäter und
führten ihn dem Kustos der Galerie vor. Er ist mit dem geisteskranken
29jährigen Sohne des Hausbesitzers und Heiligenbildmalers Balaschow
identisch.“„Ein furchtbares Familiendrama, in dessen Verlauf eine Stief-
mutter die Stieftochter und dann sich selbst zu morden suchte, hat sich gestern
in Budapest zugetragen. Die zweite Frau des Postdieners Koloman Gajda
hat ihrer 17jährigen Stieftochter Ercsi mit einem Rasiermesser in den Hals
geschnitten und dann versucht, sich selbst die Kehle zu durch-
schneiden.In einem hinterlassenen Schreiben heißt es: „Das Motiv meines Selbst-
mordes ist die rohe Behandlung, die ich von meinem Manne erfahren habe.
Er hat mich unausgesetzt mißhandelt und beschimpft und wollte mich offenbar
zum Selbstmord treiben oder zwingen, ihn freiwillig zu verlassen. Er hat früher
eine Scheidungsklage eingereicht, sie aber wieder zurückgezogen, weil er für
mich hätte sorgen müssen. Als ich zu ihm zurückgekehrt war, sprach weder
er noch seine Tochter mit mir. Oft schrien sie mir zu, ich möge mich nur
vor die Elektrische werfen. Sie aßen feine Sachen und gaben mir nichts. Das
Mädchen hat mich wie einen Dienstboten behandelt.“„Sonderbare Beschuldigung der Schwester. Anfangs Oktober
1912 erstattete die 20jährige Handarbeiterin Aloisia M. bei der Polizei die
Anzeige, daß sie seit zehn Jahren mit ihrem eigenen Bruder, dem Geschäfts-
diener Matthias M. ein regelrechtes Liebesverhältnis unterhalten habe,
Ihr Bruder, erklärte die Anzeigerin, hätte ihr derart mit seinen Liebes-
anträgen zugesetzt, daß jeder Widerstand zwecklos gewesen wäre. Obzwar
Matthias M. bei der Polizei die krasse Beschuldigung seiner Schwester als
gänzlich aus der Luft gegriffen bezeichnete, wurde, da die Schwester bei ihren
Angaben beharrte, die Anzeige der Staatsanwaltschaft abgetreten, wo zunächst
eine Untersuchung wegen Verbrechens der Notzucht eingeleitet wurde, Auch
vor dem Untersuchungsrichter hielt Aloisia M. ihre Beschuldigungen gegen den
Bruder aufrecht, wobei sie die Kinzelheiten des widernatürlichen
Verhältnisses genau schilderte, Das Landesgericht trat nach Ein-
stellung der Untersuchung in der Richtung eines Verbrechens den Akt dem
Bezirksgericht Josefstadt ab, wo gegen die Geschwister die Anklage gemäß
§ 501 Strafgesetz (Unzucht unter Geschwistern) erhoben wurde, In der Ver-
handlung beteuerte der Angeklagte, daß er nie mit seiner Schwester etwas
zu tun gehabt habe und daß die Anzeige nur ein Racheakt der Schwester sei,
die, von ihrem Geliebten aufgehetzt worden sei, Der Richter hielt dem An-
geklagten vor, daß die Schwester sich ja selbst durch die Anzeige eines un-
geheuerlichen Vergehens beschuldigt, und daß sie konstant beim Landes-
gericht die Beschuldigung aufrecht erhalten habe. Die nunmehr einver-S.
294 Varia.
nommene Angeklagte Aloisia M. gab, vom Richter eindringlichst aufge-
fordert, die Wahrheit zu sagen, an, daß zwischen ihr und dem Bruder
tatsächlich nie welche Beziehungen bestanden hätten, und daß ihre Angaben
sowohl bei der Polizei wie vor dem Untersuchungsrichter rein erfunden
waren. — Richter: Wie kamen Sie dazu, gegen ihren eigenen Bruder eine
so ungeheuerliche Beschuldigung zu erheben und sich selbst auch zu belasten?
— Angekl. (kleinlaut): Mein Geliebter hat nach einem Streit mit meinem
Bruder mir geraten, die Anzeige zu machen. — Der Richter brach die Ver-
handlung ab und beschlof, den Akt dem Landesgericht abzutreten zur even-
tuellen Verfolgung der Aloisia M. wegen Verbrechens der Verleum-
dung und der falschen Zeugenaussage und ihres Geliebten wegen Mitschuld
an den beiden Delikten.“Ein ähnlicher Fall beschäftigte kurz darauf den Strafrichter des Bezirks-
gerichts Josefstadt. ,Die 19jührige Erna B. hat gegen ihren Bruder, den
Fiakerkutscher Otmar B., die Anzeige erstattet, daß er seit zwei Jahren sie
gezwungen habe, ihm gefügig zu sein, und als sie in der letzten Zeit sich
geweigert habe, den Verkehr mit ihm fortzusetzen, sie geschlagen und
schließlich aus dem Hause gejagt habe. In der Anzeige beschuldigte die
Sehwester ihren Bruder auch der Sodomie, doch wurde das diesbezüglich beim
Landesgericht anhüngige Verfahren eingestellt und der Akt an das Bezirks-
gericht zur Verfolgung gegen den Angeklagten wegen der Übertretung nach
$ 501 Strafgesetz abgetreten. Die als Zeugin geladene Schwester war nicht
erschienen. Der Angeklagte bestritt entschieden, das ihm zur Last gelegte
Delikt begangen zu haben. — Als Zeuge wird der Vater des Angeklagten
Leopold B. einvernommen, — Richter: Ist Ihre Tochter leichtsinnig? —
Zeuge: Sehr. — Richter: Hat sie bereits früher mit Münnern einen in-
timen Verkehr gepflogen? 一 Zeuge: Ja, dafür ist sie von mir aber auch
gezüchtigt worden. — Richter: Hat sie schon zeitlich angefangen? —
Zeuge: Ja, mit vierzehn Jahren. — Richter: Ist Ihnen bekannt, daß Ihr
Sohn mit Ihrer Tochter einen intimen Verkehr pflegte? — Zeuge: Nie.
Gerade die beiden Geschwister waren außerordentlich grob gegeneinander. —
Richter: Hat Ihre Tochter Diebstähle verübt? — Zeuge: Auswürtig keine.
Bei uns zu Hause viele, — Richter: Hat Ihre Tochter nie den Punkt be-
rührt, der heute die Grundlage zur Anklage gegen Ihren Sohn bildet? —
Zeuge: Im Streit hat sie es ihm vorgeworfen. Darauf ist er wild
geworden und hat ihr ein paar Ohrfeigen gegeben. Zum Zweck der Vorladung
der nicht erschienenen Anzeigerin beschloB der Richter die Verhandlung zu
vertagen. *Unter der Spitzmarke „Sexuelle Aufklärung in der Schule“
brachten die Zeitungen vom 14. Jänner 1913 ausführliche Berichte über eine
Ehrenbeleidigungsklage, die verschiedene Lehrpersonen einer Knabenbürger-
schule in Wien gegen die Mutter eines 13jährigen Schülers eingebracht hatten.
Dieser war eines Tages ,,aufgeregt aus der Schule gekommen und hatte sie
mit den Worten apostrophiert: , Mutter, ich kann keine Achtung vor dir
haben, denn du bist eine Lügnerin!“ Als sie, entsetzt über diese Äußerung,
von ihrem Sohne Rechenschaft verlangte, habe der Knabe ihr erzählt, daß
der Katechet die Kinder iiber die Lehre von der Keuschheit in ganz anderer
Weise aufgeklärt habe, als sie es zu Hause getan habe. Der Katechet habe
erzählt, es sei unkeusch, wenn ein Bruder mit der jüngeren
Schwester sich wo verstecke und... Die Erläuterung des Kate-
cheten habe ihr geradezu haarstråubend geschienen. Einige Tage später habe
der Knabe erzählt, in der Schule sei eine große Hetz gewesen, als der Fach-S.
Varia. 295
lehrer bei der Erklärung des Dampfkessels eine Bemerkung machte, deren
Inhalt ihr (der Angeklagten) gleichfalls haarsträubend vorkam . 、 .“» + + . Mehrere Schulknaben bestätigten, daß der Katechet tatsächlich
bei der Erklärung, was unkeusch sei, das Beispiel von dem älteren
Bruder mit der jüngeren Schwester gebraucht habe. Andere
Knaben gaben dagegen an, daß der Katechet lediglich davon gesprochen habe,
daß der ältere Bruder die jüngere Schwester nicht zur Unkeuschheit verleiten
solle,**„Bin Siebzehnjåhriger schießt auf den Bruder.
Ein siebzehnjåhriger Junge, der bei seinem Vater in der Lehre ist, hatte
gestern vor dem Jugendsenat eine Tat zu verantworten, die er unter ganz
merkwürdigen Umständen beging. Der junge Mensch hat am 12. Oktober
1912 auf seinen Bruder, einen fünfundzwanzigjährigen Mann, der ebenfalls in
der Werkstätte des Vaters arbeitet, vier Revolverschiisse abgegeben.
Drei der Geschosse gingen zum Glück fehl, das vierto brachte dem Bruder
an der Schulter eine Verletzung bei, die aber bald heilte. Die Anklage,
gegen die sich der kórperlich sehr entwickelte Junge gestern zu verantworten
hatte, lautete auf schwere Kórperbeschidigung. In seiner Verantwortung
brachte er fiir seine Tat sehr seltsam anmutende Griinde vor. Der Siebzehn-
jahrige hatte Liebesbeziehungen zu einer verheirateten Frau,
zu der auch sein Bruder das gleiche Verhiltnis hatte. Die
Brüder waren nun aufeinander sehr eifersüchtig und wiederholt
kam es zwischen ihnen zu Auftritten. Der jüngere Bruder, so sagte er,
wurde infolge der Anfeindungen seines Bruders lebensüberdrüssig. Er
kaufte sich einen Revolver, um sich zu tóten. Am 12. Oktober feuerte er
in einem Nebengemach der Werkstätte einen Schuß gegen seine Schläfe ab,
der aber nicht traf. In der Werkstätte, wo der Bruder mit einigen Gehilfen
war, wurde der Knall gehört. Der Bruder riB die Tir zu dem Gemach auf,
in dem sich der Junge befand. Dieser wendete sich nun gegen den älteren
Bruder, dem es gelang, die Waffe an sich zu reißen. Es entstand eine
Rauferei, in deren Verlauf sich der Junge wieder der Waffe bemächtigte.
Dann feuerte er viermal gegen den älteren Bruder, der sich hinter eine Dreh-
bank geflüchtet hatte. Schließlich warf er die Waffe weg und flüchtete auf
die Straße, wo er verhaftet wurde.“Wegen der Ungewóhnlichkeit des Falles waren der Verhandlung Ge-
richtspsychiater beigezogen, um ein Gutachten abzugeben. Dr. Lazar führte
aus, es sei anzunehmen, daß sich der junge Mann zur Zeit der Tat in einer
Aufregung befand, die geeignet war, seine freie Willensbestimmung
aufzuheben. Dazu habe auch mit Rücksicht auf seine Jugendlichkeit sicher
sein Verhältnis zu der Frau beigetragen.Der Gerichtshof sprach den Angeklagten von der Anklage auf schwere
körperliche Beschädigung frei, indem er annahm, daß der junge Mann in
Sinnesverwirrung gehandelt habe.“„Mord eines entarteten Vaters. Aus Budapest, 14. Januar
1913 wird uns telegraphiert: Gestern machte der Budapester Beamte Stephan
Bethö, der zur Besichtigung seines Hauses in Saroksar dort eintraf, eine
grauenhafte Entdeckung. Er fand nämlich im Stall seines Hauses die Leiche
der Tochter seines Hausmeisters, Das Mädchen war seit voriger
Woche abgängig und es hieß, daß sie zum Besuch ihres Bräutigams nach
Wien gefahren sei. Die sofort eingeleitete Untersuchung ergab jedoch, daß
das Mädchen von ihrem eigenen Vater, dem Schlossermeister Franz
Mengel, ermordet wurde, der schon seit längerer Zeit seineS.
296 Varia,
Tochter mit Liebesanträgen verfolgte, von ihr aber stets
zurückgewiesen wurde. Mengel ist seit gestern abgängig.“„Ein Unhold. Der 42jäbrige Schneidergehilfe Rudolf W. stand am
10. Dezember 1912 wegen Blutschande und Unzucht vor dem Schwurgericht.
Es wurde ihm zur Last gelegt, daß er sich an seiner noch nicht vier-
zehn Jahre alten Tochter, einmal selbst schon vor drei Jahren, schwer ver-
gangen hat. Die Anzeigerin war die geschiedene Frau des Mannes. Auch
das Kind hat die Angaben seiner Mutter bestätigt. Die Gerichtspsychiater
bezeichnen W. als einen durch Trunk herabgekommenen Menschen. Der An-
geklagte bestritt, gegen seine Tochter gefehlt zu haben. Er erklärte die
Anzeige seiner Frau damit, daß diese an ihm einen Racheakt ausüben
wollte. Die Geschwornen erkannten den Angeklagten für schuldig. Der Gerichts-
hof verurteilte W, zu drei Jahren schweren Kerkers,c) Aus der Völkerpsychologie.
Zum Jus primae noctis teilt Dr. Buschan im Jännerheft (1913)
der „Sexualprobleme“ nach W. Knoche (Zeitschr. f. Ethn., 1912, S. 659 ff.)
folgende für den Psychoanalytiker interessante Tatsache aus dem Geschlechts-
leben der Osterinsulaner mit: „Die Defloration der jungen Mädchen,
die schon von ihrem fünften Lebensjahr an von älteren Frauen Unterweisun-
gen im Benehmen während des Geschlechtsverkehres empfangen, ist ein Vor-
recht der älteren Männer; erst nach der mit einem älteren Stammes-
genossen verbrachten prima nox tragen sie sich dem Geliebten an; sie
weigern sich standhaft, hievon eine Ausnahme eintreten zu lassen, selbst bei
lebhafter Zuneigung einem jüngeren Manne gegenüber.‘Der tiefere Sinn dieser Sitte würde sehr gut zu der, besonders von
Storfer (Zur Sonderstellung des Vatermordes, 1911, S. 17) vertretenen,
psychoanalytischen Auffassung stimmen, die das urspriingliche jus primae
noctis dem eigenen Vater zuspricht. Bei den Orang-Sakai auf Malakka sollen
die Väter selbst das jus primae noctis an ihren Töchtern besitzen (nach
Schmidt: Jus primae noctis, S. 324, cit. bei Storfer 1. c.).Zum selben Thema bringt ein die psychoanalytische Auffassung von der
Bedeutsamkeit des Inzestkomplexes unwillkiirlich beståtigender Aufsatz von
P, Sinitzin (Petersburg) eine interessante Aufklirung. Nach Abweisung
der oberflächlichen materiellen Begriindungen führt der Autor aus, daß die
Institution des Vatermordes, die sich bei Barbarenvilkern des Alter-
tums wie unserer Zeit findet, nur bei solchen Vólkerschaften gang und gäbe
sei, bei denen der Vater das jus primae noctis auf die Braut oder Frau seines
Sohnes besitzt, wie dies z. B. noch bis vor kurzer Zeit bei den Bauern im
Norden RuBlands gebräuchlich war („Die Lösung eines Geheimnisses der
Volksseele“. „Die Zeitschrift“ hg. Albert Helms, 2. Jhg., Heft 11,
2. März 1912). — Nach einer Mitteilung von Ferenczi soll sich in
Kroatien heute noch mancher Familienvater das Recht herausnehmen, die
Schwiegertochter bis zum Heranwachsen des schon in jungen Jahren ver-
heirateten Sohnes geschlechtlich zu gebrauchen.Rank.
S.
Varia. 297
Psychoanalytische Literatur.
Als 15. Heft der von Prof. Freud herausgegebenen „Schriften zur
angewandten Seelenkunde“ erschien „eine psychoanalytische Studie: Aus
dem Seelenleben des Kindes“ von Dr. H. v. Hug-Hellmuth (im
Verlage von F. Deuticke, 1913).Von Dr. Maxim. Steiner (Wien) erschien: „Die psychischen Stö-
rungen der männlichen Potenz“ mit einem Vorwort von Prof. S, Freud
(Verlag F. Deuticke, 1913).A translation of Dr. Hitschmann’s book, made by Dr, C. R. Payne,
has just been published in the „Journal of Nervous and Mental Disease
Monograph Series“, Nr. 17, (New York. Two dollars), under the title of
„Freuds Theories of the Neuroses*; it contains a preface by Prof.
Ernest Jones, and a selected bibliography of the English literature on the
subject.In der von Prof. Dr. Oskar Messmer unter Mitwirkung von Prof. Dr.
E. Meumann herausgegebenen Sammlung von Methoden für Erziehung und
Unterricht: „Pädagogium“, erscheint demnächst als I, Band von unserem
Ziiricher Kollegen und Mitarbeiter Dr. Oskar Pfister: „Die psychoana-
lytische Methode. Eine erfabrungswissenschaftlich-systematische Darstellung“.
(Verlag W. Klinkhardt, Leipzig 1913.)Ernst Dürr, Prof. d. Philosophie an der Universitit Bern, der den
von Hermann Ebbinghaus begonnenen zweiten Band der „Grundzüge
der Psychologie“ (Leipzig 1918, Veit & Co.) vollendete, läßt darin die
Psychoanalyse an verschiedenen Stellen zu Worte kommen. So gibt Dürr
S. 257 f. eine kurze Darstellung von „Freuds Traumtheorie", die sich
allerdings infolge völligen Mifiverstehens zu keiner Würdigung erheben kann,
Dagegen wird die Bedeutung der Psychoanalyse für die Erkenntnis der
künstlerischen Phantasiebildung, ästhetischer Probleme, ferner für Religions-
psychologie und Pädagogik gebührend gewürdigt. S. 659 ist die Rede von der
„neuerdings immer mehr und mehr Anhänger gewinnenden Lehre Freuds, die
einen gewissen Zusammenhang herzustellen sucht zwischen dem Traumleben und
der ästhetischen Produktion . . .“, wobei alle Bedenken nicht abhalten können,
„in dem von Freud und seinen Schülern zusammengebrachten Tatsachen-
material wertvolle Bausteine einer Psychologie des künstlerischen Schaffens
anzuerkennen.“ — „Die tragische Katharsis ist nur ein Spezialfall dieser
Reinigung und -Befreiung von inneren Spannungen und unabgeklärter Leiden-
schaftlichkeit. Seit Schiller zum Verkünder geworden ist einer Lehre, die
man geradezu ein Evangelium der Erlösung durch die Schönheit und die
Kunst nennen kann, seit Schopenhauer dieser Lehre einen methaphysi-
schen Unterbau geschaffen hat . . . und seit Freuds Neurosenlehre einzelne:
der hier in Betracht kommenden Probleme in eine ganz neue Beleuchtung
gerückt hat, ist die Theorie der reinigenden, erlösenden, erbauenden Wirkun-
gen, in denen sich die ästhetische Kontemplation mit der religiösen Andacht,
berührt, manchen Schritt vorwärts gekommen* (S. 687).Auch bei Erklärung gewisser Zustände der religiösen Exaltation (Zungen-
reden, Mystik) beruft sich Dürr in anerkennender Weise auf die psycho-
analytischen Forschungen von Pfister (S. 559 f£, S. 586), sowie er auch
über dessen pådagogisches Wirken sagt: ,,. . . scheint nach den erstaunlichen
Erfolgen der psychoanalytischen Seelenbeeinflussung . . ., daß erlebnisbedingte-
seelische Konstellationen sich auch in weitem Umfang wieder umgestalten.
lassen . . .* (S. 700).
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