Varia [Mai 1914] 1914-770/1914
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    Varia.

    Dichterausspriiche zur Beurteilung der Sexualverdrångung.

    Jede Begierde, die wir ersticken, brütet in unserer Seele und ver-
    giftet uns. 0. Wilde.

    Der SchuB, der in der Flinte stecken bleibt, verdirbt sie, so die Kraft
    im Menschen. Hebbel.

    Wem die Keuschheit schwer fällt, dem ist sie zu widerraten: daß sie
    nicht der Weg zur Holle werde — das ist Schlamm und Brunst der Seele,

    Nietzsche.
    Vieler Menschen Tugend besteht nur darin, daß sie nichts vertragen
    können. Berthold Auerbach.

    Jener Trieb der Natur, von dem man Öffentlich nicht gern redet,
    rächt jede Unterdrückung mit derselben Rache: er wird zum Betrug: so
    oder so. Natürlich oder unnatürlich, beim Matrosen, beim Priester, beim
    Asketen, beim Ehemann und beim Philosophen, stets verwandelt er sich in
    Betrug. Selbstbetrug, Betrug am andern Geschlecht, am Freunde, an der
    Natur selbst, Betrug ist seine Verwandlungsform, die er unter hohem Druck
    annimmt. R. H. Bartsch.

    Es fragt sich, ob nicht gerade dieses durch die Kultur unserer Zeit
    verbotene Erotische von der Kunst dargestellt werden m uB, weil es einem
    tief inneren Bedürfnisse des Menschen, einer Sehnsucht nach Ergänzung seiner
    lückenhaften Existenz entspricht. Konrad Lange.

    (Mitgeteilt von Dr. E. Hitschmann.)

    Bernard Shaw hat im November vorigen Jahres in einem offenen
    Briefe an die „Times“ gegen den Bischof von Kensington Stellung genommen,
    welcher sich öffentlich an einer in seinen Augen unsittlichen Schaustellung im
    » Palace-Theater“ entrüstet hatte. Shaw sagt dort unter anderem: „Die A n-
    regung, Befriedigung und Erziehung unseres geschlechtli-
    chen Gefühls ist mit der vornehmste Zweck und der hóchste
    Ruhm des Theaters. Diese Aufgabe hat es mit allen schönen Künsten
    gemein. Die Lichthôfe des Victoria- und Albert-Museums in der Diözese des
    Bischofs sind angefüllt mit nackten Figuren von auBerordentlicher Schönheit,
    die eigens dort aufgestellt sind, damit sie das Verlangen unseres Körpers auf
    so viel Schönheit, Feinheit und auf den Ausdruck der höchsten menschlichen
    Eigenschaften hinlenken. Beim Anblick dieser Skulpturen werden unsere
    jungen Leute die niedrigen Gegenstände ihrer sinnlichen Wünsche widerwärtig
    finden. In der National Gallery ist für die Bedürfnisse der Sinne und der
    Seele unparteiisch gesorgt. Männer haben dort manche Venus angebetet und
    sich in manche Jungfrau Maria verliebt. Bei der religiösen Ekstase gibt es
    eine wollüstige Seite und bei der Ekstase der Wollust eine religiöse. Die
    Meinung, daß die eine Verzückung weniger heilig sei als die andere, gibt

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    gleichzeitig der jenes Psychiaters recht, der die Heiligen dadurch in Mißkredit
    zu bringen sucht, daß er zeigt, wie die gleiche Leidenschaft, die diese über
    sich selbst erhöht, die Sünder unter sich selbst erniedrigt, Das sogenannte
    Hohelied Salomonis, das wir jetzt als ein erotisches Gedicht erkannt haben,
    wurde von den Übersetzern des siebzehnten Jahrhunderts für einen Gesang
    Christi an seine Kirche gehalten und wird bis auf den heutigen Tag noch
    als solcher in unseren Bibeln bezeichnet.

    Lassen wir uns nun einmal die Folgen ansehen, wenn man junge Leute
    — von den alten ganz zu schweigen — von sinnlicher Kunst fernhålt. In
    England gibt es Familien, in denen die Kinder in folgenden Auffassungen
    großgezogen werden: Eine unverhüllte Statue ist ein Greuel; ein Mädchen
    oder ein Junge, die ein von Paul Veronese gemaltes Bild anschauen, sind auf
    ewig verdorben ; das Theater, in dem „Tristan und Isolde“ oder „Romeo
    und Julia“ gegeben wird, ist die Pforte zur Hölle; der Anblick des mensch-
    lichen Körpers, sobald er schön bekleidet ist und vielleicht mehr von seinen
    Linien verrät als die Tracht eines Chinesen, ist ein Akt schamlosester Un-
    anstindigkeit. Von chinesischer Geschlechtsmoral darf ich in den Spalten
    der „Times“ nichts schreiben. Aber über die englische und schottische Ge-
    schlechtsmoral, die sich aus dem Verhungernlassen und aus der lästerlichen
    Schmähung des lebensnotwendigen sinnlichen Gefühls ergibt, will ich folgendes
    sagen: Diese Art Sexualmoral ist krankhaft und schändlich, ist ekelhaft
    heimgesucht von den Dingen, durch die sie in Versuchung geführt wird, ist
    unbarmherzig in der Verfolgung aller jener göttlichen Anmut, die auf dem
    Boden unserer geschlechtlichen Instinkte dann erwachsen kann, wenn diese
    nicht absichtlich verderbt und vergiftet werden, Könnte diese schreckliche
    Sexualmoral, wie manche Leute es möchten, auch nur für eine einzige Generation
    unserer ganzen bürgerlichen Gesellschaft aufgezwungen werden, der Bischof
    würde selbt auf die Gefahr hin, ein Märtyrer zu werden, das Palace-Theater
    unter bischöflichem Priestersegen wieder öffnen und die junge Dame, an deren
    Vorstellungen er jetzt Anstoß nimmt, auf die Bühne zurückgeleiten — selbst
    wenn sie den letzten Fetzen ihrer so leichten Kleidung auszöge.

    (Nach der deutschen Veröffentlichung in der ,,Arbeiter-Zeitung“
    vom 15. XI. 1913 mitgeteilt von Dr. Rank.)

    Multatuli hat in seinen „Ideen“ (deutsch in „Die Abenteuer des kleinen
    Walther“, übersetzt von Spohr, S. 239) die ,heuchlerische** Auffassung des
    „„Hohenliedes'* psychologisch zersetzt :

    „Es ist nicht einfach, die psychologischen Gründe zu entwickeln, warum
    das Geschöpf, das die Liederlichkeit selbst war, etwas Unanständiges gefunden
    haben würde in der erotischen Färbung dieses Prachtwerkes [des Hohen-
    liedes], die es unanstößig fand und erhaben sogar, solange sie sich einredete,
    daß die liebe Sulamith die bräutliche Kirche des Herrn Jesus bedeutete.
    Und — sonderbar ! — diese Abneigung gegen eine natürlicheinfache Auf-
    fassung war wiederum keine absolute Heuchelei. Die Personen ihrer Art
    sind zu verkircht, um etwas Schönes zu finden an der naiven Schil-
    derung von Empfindungen, die sie an sich nur zu betrachten kriegten als
    verstohlene Ausschweifung . . . Und umgekehrt, sie würden die verzweifelt
    fern gesuchte Anspielung dieses Stückes auf eine Lehre von der Kirche nicht
    so mit aller Gewalt festhalten, wenn nicht just das erotische Element, das
    sie negieren, die Sache so anziehend machte. Das Suchen und Finden einer
    christologischen Bedeutung in dem pikanten Drama ist ein Vorwand um — ganz,
    ganz im Glauben, und also unsündig zu naschen von einer Frucht, die zu

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    den verbotenen gehören würde, sobald man aufhórte, den Baum, von dem sie
    gepflickt wurde, zu taufen mit dem Namen der Dogmatik. — Hôchstwahr-
    scheinlich ist diese Folgerung anwendbar sowohl auf die Geschichte der Bibel
    als auf die der Individuen . . . . Die menschenkundigen Religionswalter
    haben zu allen Zeiten eingesehen, daß sie in ihrer Industrie das hysterische
    Element nicht entbehren konnten und also die Bibel nicht eines so unter-
    haltenden Kapitels berauben dürften, Lieber also, als daß sie es wegen der
    Unsittlichkeit brandmarkten und als ,unecht“ verbannten, erhoben sie, ohne
    den geringsten Schaden für gewünschte und brauchbar befundene Reizung,
    diese Sinnlichkeit selbst zu einem heiligen Symbol: . . . Vielleicht auch
    waren diese Kirchenväter nicht so sehr Menschenkenner als vielmehr im Be-
    sitze der unbewußten Verschlagenheit, die wir häufig bei den dümmsten
    Personen antreffen,% (Mitgeteilt von Dr. Rank.)