S.
VORREDE
zur hebräischen Ausgabe von „TOTEM UND TABU“. Jerusalem, Verlag
Stybel, im Erscheinen.
Keiner der Leser dieses Buches wird sich so leicht in die Gefühlslage
des Autors versetzen können, der die heilige Sprache nicht versteht, der
väterlichen Religion — wie jeder anderen — völlig entfremdet ist, an
nationalistischen Idealen nicht teilnehmen kann und doch die Zugehörig-
keit zu seinem Volk nie verleugnet hat, seine Eigenart als jüdisch emp-
findet und sie nicht anders wünscht. Fragte man ihn: Was ist an dir noch
jüdisch, wenn du alle diese Gemeinsamkeiten mit deinen Volksgenossen auf-
gegeben hast?, so würde er antworten: Noch sehr viel, wahrscheinlich die
Hauptsache. Aber dieses Wesentliche könnte er gegenwärtig nicht in klare
Worte fassen. Es wird sicherlich später einmal wissenschaftlicher Einsicht
zugänglich sein.
Für einen solchen Autor ist es also ein Erlebnis ganz besonderer Art,
wenn sein Buch in die hebräische Sprache übertragen und Lesern in die
Hand gegeben wird, denen dies historische Idiom eine lebende „Zunge“
bedeutet. Ein Buch überdies, das den Ursprung von Religion und Sitt-
lichkeit behandelt, aber keinen jüdischen Standpunkt kennt, keine Ein-
schränkung zugunsten des Judentums macht. Aber der Autor hofft, sich
mit seinen Lesern in der Überzeugung zu treffen, daß die voraussetzungs-
lose Wissenschaft dem Geist des neuen Judentums nicht fremd bleiben kann.
Wien, im Dezember 1930.
Freud XII. 25
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