XIV. [Schlusswort] 1912-061/1912.2
  • S.

    132 „Wiener psychoanalytische Diskussionen.“

     

     

    XIV.

     

    Professor Freud:

    Meine Herren! Die älteren Mitglieder dieses Kreises werden sich
    zu erinnern wissen, dass wir schon vor mehreren Jahren den Versuch
    einer solchen Sammeldiskussion — eines Symposion nach dem Aus-
    druck amerikanischer Kollegen — über das Thema der Onanie unter-
    nommen haben. Damals ergaben sich so bedeutende Abweichungen der
    geäußerten Meinungen, dass wir uns nicht getrauen konnten, unsere
    Verhandlungen der Öffentlichkeit vorzulegen. Seither haben wir — die-
    selben Personen wie auch neu hinzugekommene — in unausgesetzter
    Berührung mit den Tatsachen der Erfahrung und in fortdauerndem
    Gedankenaustausch untereinander unsere Ansichten soweit geklärt und
    auf gemeinsamen Boden gehoben, dass uns das damals unterlassene
    Wagnis nicht mehr so groß erscheinen muss.

  • S.

     

    Über Onanie. 133

     

    Ich habe wirklich den Eindruck, dass die Übereinstimmungen unter
    uns über das Thema der Onanie jetzt stärker und tiefgehender sind als
    die sonst nicht zu verleugnenden Unstimmigkeiten. Mancher Anschein
    eines Widerspruchs wird nur durch die Vielseitigkeit der Gesichtspunkte,
    die sie entwickelt haben, hervorgerufen, während es sich in Wahrheit
    um Ansichten handelt, die gut nebeneinander Raum finden.

    Gestatten Sie mir, dass ich Ihnen ein Resumé vorführe, über
    welche Punkte wir einig oder uneinig zu sein scheinen.

    Einig sind wir wohl alle:
    a) über die Bedeutung der den onanistischen Akt begleitenden
    oder ihn vertretenden Phantasien,
    b) über die Bedeutung des mit der Onanie verknüpften Schuld-
    bewusstseins, woher immer dieses stammen mag,
    c) über die Unmöglichkeit, eine qualitative Bedingung für die
    Schädlichkeit der Onanie anzugeben. (Hierüber nicht ohne Aus-
    nahme einig).

    Unausgeglichene Meinungsverschiedenheiten haben
    sich gezeigt:
    a) in betreff der Leugnung des somatischen Faktors der Onanie-
    wirkung,
    b) in Betreff der Abweisung der Onanieschädlichkeit überhaupt,
    c) in Bezug auf die Herkunft des Schuldgefühls, die einen
    von ihnen direkt aus der Unbefriedigung ableiten wollen, während
    andere soziale Faktoren oder die jeweilige Einstellung der Per-
    sönlichkeit mit heranziehen,
    d) in Bezug auf die Ubiquität der Kinderonanie.

    Endlich bestehen bedeutungsvolle Unsicherheiten:
    a) über den Mechanismus der schädlichen Wirkung der Onanie,
    falls eine solche anzuerkennen ist,
    b) über die ätiologische Beziehung der Onanie zu den Aktual-
    neurosen.

    In den meisten der zwischen uns strittigen Punkte danken wir
    die Infragestellung der auf starke und selbständige Erfahrung gestützten
    Kritik unseres Kollegen W. Stärcke. Gewiss haben wir einer künftigen
    Schar von Beobachtern und Forschern noch sehr viel zur Feststellung
    und Klärung übrig gelassen, aber wir stellen uns damit trösten, dass
    wir ehrlich und nicht engerzig gearbeitet und dabei Richtungen ein-
    geschlagen haben, auf denen sich auch die spätere Forschung bewegen wird.

    Von meinen eigenen Beiträgen zu den uns beschäftigenden Fragen
    dürfen Sie nun nicht viel erwarten. Sie kennen meine Vorliebe für
    die fragmentarische Behandlung eines Gegenstandes zu Gunsten der
    Hervorhebung jener Punkte, die mir die gesichertsten scheinen. Ich

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    134 „Wiener psychoanalytische Diskussionen.“

    habe nichts Neues zu geben, keine Lösungen, bloss einige Wieder-
    holungen von Dingen, die ich schon früher einmal behauptet, einige
    Verteidigungen dieser alten Aufstellungen gegen Angriffe aus ihrer
    Mitte und dazu noch einige Bemerkungen, wie sie sich dem Zuhörer
    bei ihren Vorträgen aufdrängen mussten.

    Ich habe bekanntlich die Onanie nach den Lebensaltern geschieden
    in 1. die **Säuglingsonanie**, unter der alle autoerotischen, der sexuellen
    Befriedigung dienenden Vornahmen verstanden sind, 2. die **Kinderonanie**, 
    die aus ersterer unmittelbar hervorgeht und sich bereits an bestimmten
    erogenen Zonen fixiert hat, und 3. die **Pubertätsonanie**, welche entweder
    an die Kinderonanie anschliesst oder durch die Latenzzeit von ihr
    getrennt ist. In manchen der Darstellungen, die ich von Ihnen gehört
    habe, ist diese zeitliche Scheidung nicht ganz zu ihrem Recht gekommen.
    Kollege Stekel scheint mir hier die Psychogenität wirklich sehr zu
    überspannen. Ich sehe es noch immer so, wie es mir zuerst vor mehr als
    fünfzehn Jahren erschienen ist, dass die beiden Aktualneurosen — Neu-
    rasthenie und Angstneurose — (vielleicht ist die eigentliche Hypo-
    chondrie als dritte Aktualneurose anzureihen) das somatische Entgegen-
    kommen für die Psychoneurosen leisten, das Erregungsmaterial liefern,
    welches dann psychisch ausgewählt und umkleidet wird, so dass, allge-
    mein gesprochen, der Kern des psychoneurotischen Symptoms — das
    Sandkorn im Zentrum der Perle — von einer somatischen Sexual-
    äußerung gebildet wird. Dies ist für die Angstneurose und ihr Ver-
    hältnis zur Hysterie freilich deutlicher als für die Neurasthenie, über
    welche sorgfältige psychoanalytische Untersuchungen noch nicht ange-
    stellt worden sind. Bei der Angstneurose ist es, wie Sie sich oftmals
    überzeugen konnten, im Grunde ein Stückchen der nicht abgeführten
    Koituerreizung, welches als Angstsymptom zum Vorschein kommt oder
    den Kern einer hysterischen Symptombildung zugibt.

    Auch Reitlers Bemerkung, dass gewisse nur dem Menschen
    eigentümliche Einrichtungen am Genitalapparat die Hintanhaltung des
    Sexualverkehrs im Kindesalter anzustreben scheinen, muss ich für sinn-
    reich und bedeutsam erklären. Aber hier knüpfen meine Bedenken an.
    Der Verschluss der weiblichen Sexualhöhlung und der Wegfall des
    die Erektion versichernden Penisknochgens sind doch nur gegen den Koitus
    selbst gerichtet, nicht gegen die sexuellen Erregungen überhaupt.
    Reitler scheint mir die Zielstrebigkeit der Natur allzu menschen-
    ähnlich zu erfassen, als handle es sich bei ihr wie bei Menschenwerk
    um die konsequente Durchführung einer einzigen Absicht. Soviel wir
    sehen, geben eben in den natürlichen Vorgängen meist eine ganze Reihe
    von Zielstrebungen neben einander her, ohne einander aufzuheben.
    Wenn wir schon in menschlichen Terminis von der Natur sprechen,
    müssen wir sagen, sie erscheine uns als das, was wir beim Menschen
    inkonsequent heissen würden. Ich glaube meinerseits, Reitler sollte

  • S.

    Über Onanie. 135

    nicht soviel Gewicht auf seine eigenen teleologischen Argumente legen. Die
    Verwertung der Teleologie als heuristische Hypothese hat ihre Bedenken;
    man weiss im einzelnen Falle nie, ob man an eine „Harmonie“ oder
    an eine „Disharmonie“ geraten ist. Es ist, wie wenn man einen Nagel
    in eine Zimmerwand einzuschlagen hat; man weiss nicht, trifft man
    auf eine Fuge oder auf den Stein.

    In der Frage des Zusammenhanges der Onanie und der Pollutionen
    mit der Verursachung der sog. Neurasthenie befinde ich mich, wie viele
    von Ihnen, im Gegensatz zu Stekel und halte gegen ihn meine
    früheren Angaben mit einer später anzuführenden Einschränkung auf-
    recht. Ich sehe nichts, was uns nötigen könnte, auf die Unterscheidung
    von Aktualneurosen und Psychoneurosen zu verzichten, und kann die
    Genese der Symptome bei den ersteren nur als eine toxische hinstellen.
    Kollege Stekel scheint mir hier die Psychogenität wirklich sehr zu
    überspannen. Ich sehe es noch immer so, wie es mir zuerst vor mehr als
    fünfzehn Jahren erschienen ist, dass die beiden **Aktualneurosen — Neu-
    rasthenie und Angstneurose** — (vielleicht ist die eigentliche Hypo-
    chondrie als dritte Aktualneurose anzureihen) das somatische Entgegen-
    kommen für die Psychoneurosen leisten, das Erregungsmaterial liefern,
    welches dann psychisch ausgewählt und umkleidet wird, so dass, allge-
    mein gesprochen, der Kern des psychoneurotischen Symptoms — das
    Sandkorn im Zentrum der Perle — von einer somatischen Sexual-
    äußerung gebildet wird. Dies ist für die Angstneurose und ihr Ver-
    hältnis zur Hysterie freilich deutlicher als für die Neurasthenie, über
    welche sorgfältige psychoanalytische Untersuchungen noch nicht ange-
    stellt worden sind. Bei der Angstneurose ist es, wie Sie sich oftmals
    überzeugen konnten, im Grunde ein Stückchen der nicht abgeführten
    Koituerreizung, welches als Angstsymptom zum Vorschein kommt oder
    den Kern einer hysterischen Symptombildung zugibt.

    Kollege Stekel teilt mit mehreren ausserhalb der Psychoanalyse
    stehenden Autoren die Neigung, die morphologischen Differenzierungen,
    die wir innerhalb des Gewirres der Neurosen statuiert haben, zu ver-
    werfen und sie alle unter einen Hut — etwa den der Psychasthenie —
    zu bringen. Wir haben ihm darin oftmals widersprochen und halten an
    der Erwartung fest, dass sich die morphologisch-klinischen Differenzen
    als noch unverstandene Anzeichen weitaus verschiedener Prozesse wertvoll
    erweisen werden. Wenn er uns mit Recht — vorhält, dass er bei
    den sog. Neurasthenikern regelmässig dieselben Komplexe und Konflikte
    vorgefunden hat wie bei anderen Neurotikern, so trifft dies Argument
    wohl nicht die Streitfrage. Wir wissen längst, dass wir die nämlichen
    Komplexe und Konflikte auch bei allen Gesunden und Normalen zu
    erwarten haben. Ja wir haben uns daran gewöhnt, jedem Kultur-
    menschen ein gewisses Maß von Verdrängung perverser Regungen, von

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    136 „Wiener psychoanalytische Diskussionen.“

    anerotik, Homosexualität, u. dgl., sowie ein Stück Vater- und Mutter-
    komplex und noch andere Komplexe zuzumuten, wie wir bei der
    Elementaranalyse eines organischen Körpers die Elemente: Kohlenstoff,
    Sauerstoff, Wasserstoff, Stickstoff und etwas Schwefel mit Sicherheit
    nachzuweisen hoffen. Was die organischen Körper von einander unter-
    scheidet, ist das Mengenverhältnis dieser Elemente und die Konstitution
    der Verbindungen, die sie mit einander eingehen. So handelt es sich
    bei den Normalen und Neurotikern nicht um die Existenz dieser Kom-
    plexe und Konflikte, sondern um die Frage, ob dieselben pathogen
    geworden sind, und wenn, welche Mechanismen sie dabei in Anspruch
    genommen haben.

    Das Wesentliche meiner seinerzeit aufgestellten und heute ver-
    teidigten Lehren über die Aktualneurosen liegt in der auf den Versuch
    gestellten Behauptung, dass deren Symptome nicht wie die psycho-
    neurotischen analytisch zu zersetzen sind. Also dass die Obstruktion
    der Kopfschmerzen, die Ermüdung der sog. Neurastheniker nicht die
    historische oder symbolische Zurückführung auf wirksame Erlebnisse
    gestatten, sich nicht als sexuelle Ersatzbefriedigungen, als Kompromisse
    entgegengesetzter Triebregungen verstehen lassen wie die (eventuell
    selbst gleichartig erscheinenden) psychoneurotischen Symptome. Ich
    glaube nicht, dass es gelingen wird, diesen Satz mit Hilfe der
    Psychoanalyse umzusalzieren. Dagegen räume ich heute ein, was ich
    damals nicht glauben konnte, dass eine analytische Behandlung indirekt
    auch einen heilenden Einfluss auf die Aktualsympome nehmen kann,
    indem sie entweder dazu führt, dass die aktuellen Schädlichkeiten besser
    vertragen werden, oder indem sie das kranke Individuum in den Stand
    setzt, sich durch Änderung des sexuellen Regimes diesen aktuellen
    Schädlichkeiten zu entziehen. Das sind ja gewiss erwünschte Aussichten
    für unser therapeutisches Interesse.

    Sollte ich aber in der theoretischen Frage der Aktualneurosen am
    Ende des Irrtums überwiesen werden, so werde ich mich mit dem Fortschritt
    unserer Erkenntnis, den Standpunkt des Einzelnen entwerten muss,
    zu trösten wissen. Sie werden nun fragen, warum ich bei so lobens-
    werten Einsichten in die notwendige Begrenztheit der eigenen Unfehl-
    barkeit nicht lieber gleich den neuen Anregungen nachgebe und es
    vorziehe, das oft geschehene Schauspiel des alten Mannes zu wiederholen,
    der starr an seinen Meinungen festhält. Ich antworte, weil ich die
    Evidenz noch nicht erkenne, der ich nachgeben soll. In früheren Jahren
    haben meine Ansichten manche Veränderungen erfahren, die ich vor der
    Öffentlichkeit nicht verheimlicht habe. Man hat mir aus diesen Wand-
    lungen Vorwürfe gemacht, wie man sie heute aus meinen Behauptungen
    machen wird. Nicht, dass mich diese oder jene Vorwürfe abschrecken
    würden. Aber ich weiss, ich habe ein Schicksal zu erfüllen. Ich kann

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    Über Onanie. 137

    ihm nicht entkommen und brauche ihm nicht entgegen zu gehen. Ich
    werde es abwarten, und mich unterdessen gegen unsere Wissenschaft
    so verhalten, wie ich es von früher her erlernt habe.

    Ungern nehme ich Stellung zu den von Ihnen viel behandelten
    Fragen nach der Schädlichkeit der Onanie, denn dies ist kein ordent-
    licher Zugang zu den Problemen, die uns beschäftigen. Aber wir müssen
    es wohl alle. Die Welt scheint sich für nichts anderes an der Onanie
    zu interessieren. Wir hatten, wie Sie sich erinnern, an unseren ersten
    Diskussionen über das Thema einen distinguierteren Kinderarzt dieser
    Stadt als Gast in unserer Mitte. Was verlangte er in wiederholten An-
    fragen von uns zu erfahren? Nur, inwiefern die Onanie schädlich sei,
    und warum sie dem einen schade, dem anderen nicht. So müssen wir
    denn unsere Forschung nötigen, diesem praktischen Bedürfnis Rede zu
    stehen.

    Ich gestehe es, ich kann auch hierin nicht den Standpunkt
    Stekels teilen, trotz der vielen tapferen und richtigen Bemerkungen,
    die er uns über diese Frage vorgetragen hat. Für ihn ist die Schäd-
    lichkeit der Onanie eigentlich ein unsinniges Vorurteil, welchem wir
    nur infolge persönlicher Beengung nicht gründlich genug abschwören
    wollen. Ich meine aber, wenn wir das Problem sine ira et studio —
    soweit es uns eben möglich ist — ins Auge fassen, müssen wir eher
    aussagen, dass solche Parteinahme unseren grundlegenden Ansichten
    über die Ätiologie der Neurosen widerspricht. Die Onanie entspricht
    im Wesentlichen der infantilen Sexualbetätigung und kann der Fest-
    haltung derselben in reiferen Jahren. Die Neurosen leiten wir ab von
    einem Konflikt zwischen den Sexualstrebungen eines Individuums und seinen sonstigen (Ich-)Tendenzen. Nun könnte jemand sagen: für mich
    liegt der pathogene Faktor dieses ätiologischen Verhältnisses nur in
    der Reaktion des Ich gegen seine Sexualität. Er würde damit etwa
    behaupten, jede Person könnte sich frei von Neurose halten, wenn sie nur ihre sexuellen Strebungen ohne Einschränkung befriedigen wollte.
    Aber es ist offenbar willkürlich und sichtlich auch unzweckmässig, so
    zu entscheiden und nicht auch die Sexualstrebungen selbst an der
    Pathogeneität teilnehmen zu lassen. Geben Sie aber zu, dass die
    sexuellen Antriebe pathogen wirken können, so dürfen Sie diese Be-
    deutung nicht mehr der Onanie streitig machen, die ja nur in der Aus-
    führung solcher sexueller Triebregungen besteht. Gewiss werden Sie in
    jedem Falle, der die Onanie als pathogen zu beschuldigen scheint, die
    Wirkung weiter zurückführen können auf die Triebe, die sich in der
    Onanie äußern, und auf die Widerstände, die sich gegen diese Triebe
    richten: die Onanie ist ja weder somatisch noch psychologisch etwas
    Letztes, kein wirkliches Agens, sondern nur eine Natur gegebene
    Tätigkeiten, aber trotz aller Weiterführungen bleibt das Urteil über die

  • S.

    138 „Wiener psychoanalytische Diskussionen.“

    Krankheitsverursachung doch mit Recht an diese Tätigkeiten geknüpft.
    Vergessen Sie auch nicht daran, die Onanie ist nicht gleichzusetzen der
    Sexualbetätigung überhaupt, sondern ist solche Betätigung mit gewissen
    einschränkenden Bedingungen. Es bleibt also auch möglich, dass gerade
    diese Besonderheiten der onanistischen Betätigung die Träger ihrer
    pathogenen Wirkung seien.

    Wir werden also vom Argument weg wieder an die klinische
    Beobachtung gewiesen, und diese mahnt uns, die Rubrik: Schädliche
    Wirkungen der Onanie nicht zu streichen. Jedenfalls haben wir es bei
    den Neurosen mit Fällen zu tun, in denen die Onanie Schaden
    gebracht hat.

    Dieser Schaden scheint sich auf drei verschiedenen Wegen durch-
    zusetzen:
    a) als organische Schädigung nach unbekanntem Mechanismus,
    wobei die von Ihnen oft erwähnten Gesichtspunkte der Maß-
    losigkeit und der unadäquaten Befriedigung in Betracht kommen.
    b) auf dem Wege der psychischen Verblödlichkeit, insoferne
    zur Befriedigung eines grossen Bedürfnisses nicht die Ver-
    änderung der Aussenwelt angestrebt werden muss. Wo sich
    aber eine ausgiebige Reaktion auf diese Vorbildlichkeit ent-
    wickelt, können die wertvollsten Charaktereigenschaften ange-
    bahnt werden.
    c) durch die Ermöglichung der **Fixierung infantiler Sexual-
    ziele** und des Verbleibens im psychischen Infantilismus. Damit
    ist dann die Disposition für den Verfall in Neurose gegeben.
    Als Psychoanalytiker müssen wir für diesen Erfolg der Onanie
    — gemeint ist hier natürlich die Pubertätsonanie und die über
    diese Zeit hinaus fortgesetzte — das grösste Interesse auf-
    bringen. Halten wir uns vor Augen, welche Bedeutung die
    Onanie als Exekution der Phantasie gewinnt, dieses zwischen-
    reichs, welches sich zwischen dem Leben nach dem Lust-
    und dem nach dem Realitätsprinzip eingeschaltet hat; wie die
    Onanie es ermöglicht, in der Phantasie sexuelle Entwicklungen
    und Sublimierungen zu vollziehen, die doch keine Fortschritte,
    sondern nur schädliche Kompromissbildungen sind. Derselbe
    Kompromiss macht allerdings nach Stekels wichtiger Bemerkung
    schwere Perversionsneigungen unschädlich und wendet die ärgsten
    Folgen der Abstinenz ab.

    Eine dauernde Abschwächung der Potenz kann ich nach meinen
    ärztlichen Erfahrungen nicht aus der Reihe der Onanie folgen ausschliessen, wiewohl ich Stekel zugebe, dass sie in einer Anzahl
    von Fällen als bloss scheinbare zu entlarven ist. Gerade diese Folge der
    Onanie kann mir aber noch ohne Weiteres zu den Schädigungen

  • S.

    Über Onanie. 139

    rechnen. Eine gewisse Herabsetzung der männlichen Potenz und der
    mit ihr verknüpften brutalen Initiative ist kulturell recht verwertbar. Sie
    erleichtert dem Kulturmenschen die Einhaltung der von ihm geforderten
    Tugenden der sexuellen Mässigkeit und Verlässlichkeit. Tugend bei
    voller Potenz wird stets als eine schwierigere Aufgabe empfunden.

    Wenn Ihnen diese Behauptung zynisch erscheint, so nehmen Sie
    an, dass sie nicht als Zynismus gemeint ist. Sie will nichts sein als
    ein Stück dürrer Beschreibung, dem es gleich gilt, ob es Wohlgefallen
    oder Ärgernis erwecken kann. Die Onanie hat eben auch, wie so vieles
    andere, les défauts de ses vertus und umgekehrt les vertus de ses
    défauts. Wenn man einen komplizierten nützlichen Zusammenhang in
    einseitig praktischem Interesse auf Schaden oder Nutzen zerrasert,
    wird man sich solche unliebsame Funde gefallen lassen müssen.

    Ich meine übrigens, dass wir mit Vorteil von einander trennen
    können, was man die direkten Schädigungen durch die Onanie heissen
    kann, und was sich in indirekter Weise aus dem Widerstand und
     der Auflösung des Ich gegen diese Sexualbetätigung ableitet. Auf
    diese letzteren Wirkungen bin ich hier nicht eingegangen.

    Nun noch einige notgedrungene Worte zur zweiten der an uns
    gerichteten peinlichen Fragen. Vorausgesetzt, dass die Onanie schädlich
    werden kann, unter welchen Bedingungen und bei welchen Individuen
    erweist sie sich als schädlich?

    Ich möchte mit der Mehrzahl von Ihnen eine allgemeine Beant-
    wortung dieser Frage ablehnen. Sie deckt sich ja zu einem Teil mit
    der anderen umfassenden Frage, wann die sexuelle Betätigung über-
    haupt für ein Individuum pathogen wird. Ziehen wir dieses Stück ab,
    so erübrigt eine Detailfrage, welche sich auf die Charakter der Onanie
    bezieht, insoferne sie eine besondere Art und Weise der Sexual-
    befriedigung darstellt. Hier gälte es nun, Bekanntes und in anderem
    Zusammenhange Vorgebrachtes zu wiederholen, den Einfluss des quanti-
    tativen Faktors und des Zusammenwirkens mehrfacher pathogen wirk-
    samer Momente zu würdigen, vor allem aber müssten wir den sogenannten
    **konstitutionellen Dispositionen des Individuums** einen grossen Platz ein-
    räumen. Gestehen wir es aber nur: es ist eine üble Sache, mit diesen
    zu arbeiten. Wir pflegen die individuelle Disposition nämlich ex post
    zu erschliessen; nachträglich, wenn die Person bereits erkrankt ist,
    schreiben wir ihr diese oder jene Disposition zu. Wir haben kein Mittel
    zur Hand, sie vorher zu erraten. Wir benehmen uns da wie jener
    schelmische König in einem Roman von Victor Hugo, der sich eines
    unfehlbaren Mittels rühmte, um die Hexerei zu erkennen. Er lies
    die Beschuldigte in heissem Wasser abbrühen und dann kostete er die
    Suppe. Je nach dem Geschmack urteilte er dann: Ja, das war eine
    Hexe, oder: Nein, das war keine.

  • S.

    140 „Wiener psychoanalytische Diskussionen.“ Über Onanie.

    Ich könnte Sie noch auf ein Thema aufmerksam machen, welches
    in unseren Besprechungen zu wenig behandelt worden ist, das der **sog.
    unbewussten Onanie**. Ich meine die Onanie im Schlafe, in abortiven
    Zuständen, in Anfällen. Sie erinnern sich, wieviel hysterische Anfälle
    den onanistischen Akt in versteckter oder unkenntlicher Weise wieder-
    bringen, nachdem das Individuum auf diese Art der Befriedigung ver-
    zichtet hat, und wieviel Symptome der Zwangsneurose diese einst ver-
    botene Art der Sexualbetätigung zu ersetzen und zu wiederholen suchen.
    Man kann auch von einer **therapeutischen Wiederkehr der Onanie**
    sprechen. Mehrere von Ihnen werden bemerkt, wie ich die Erfahrung
    gemacht haben, dass es einen grossen Fortschritt bedeutet, wenn der
    Patient sich während der Behandlung wiederum der Onanie getraut,
    wenngleich er nicht die Absicht hat, dauernd auf dieser infantilen
    Station zu verweilen. Ich darf Sie dabei auch daran mahnen, dass eine
    ansehnliche Zahl gerade der schwersten Neurotiker in den historischen Zeiten ihrer Erinnerung die Onanie vermieden hat, während sich durch
    die Psychoanalyse nachweisen lässt, dass ihnen diese Sexualtätigkeit in
    vergessenen Frühzeiten keineswegs fremd geblieben war.

    Doch ich denke, wir brechen hier ab. Wir sind ja alle in dem
    Urteil einig, dass das Thema der Onanie schier unerschöpflich ist.