Zeitgemäßes über Krieg und Tod 1915-002/1925
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    ZEITGEMÄSSES ÜBER KRIEG UND TOD

    Zuerst erschienen anfangs 1915 in „Imago“,
    Bd. V, dann in der Vierten Folge der „Sammlung
    kleiner Schriften zur Neurosenlehre“. Eine hollän-
    dische Übersetzung (von Dr. Jan van Emden)
    erschien 1917 (unter dem Titel „Oorlog en
    Dood“), eine englische (von Brill und Kuttner)
    1918.

    DIE ENTTÄUSCHUNG DES KRIEGES

    Von dem Wirbel dieser Kriegszeit gepackt, einseitig unterrichtet,
    ohne Distanz von den großen Veränderungen, die sich bereits
    vollzogen haben oder zu vollziehen beginnen, und ohne Witterung
    der sich gestaltenden Zukunft, werden wir selbst irre an der Be-
    deutung der Eindrücke, die sich uns aufdrängen, und an dem
    Werte der Urteile, die wir bilden. Es will uns scheinen, als hätte
    noch niemals ein Ereignis so viel kostbares Gemeingut der Mensch
    heit zerstört, so viele der klarsten Intelligenzen verwirrt, so gründ-
    lich das Hohe erniedrigt. Selbst die Wissenschaft hat ihre leiden-
    schaftslose Unparteilichkeit verloren; ihre aufs tiefste erbitterten
    Diener suchen ihr Waffen zu entnehmen, um einen Beitrag zur
    Bekämpfung des Feindes zu leisten. Der Anthropologe muß den
    Gegner für minderwertig und degeneriert erklären, der Psychiater
    die Diagnose seiner Geistes- oder Seelenstörung verkünden. Aber
    wahrscheinlich empfinden wir das Böse dieser Zeit unmäßig stark

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    und haben kein Recht, es mit dem Bösen anderer Zeiten zu ver-
    gleichen, die wir nicht erlebt haben.

    Der Einzelne, der nicht selbst ein Kämpfertext der fußnote und somit ein Par-
    tikelchen der riesigenquick edit test Kriegsmaschinerie geworden isteine andere fußnote, fühlt sich
    in seiner Orientierung verwirrt und in seiner Leistungsfähigkeit
    gehemmt. Ich meine, ihm wird jeder kleine Wink willkommen
    sein, der es ihm erleichtert, sich wenigstens in seinem eigenen
    Innern zurechtzufinden. Unter den Momenten, welche das seeli-
    sche Elend der Daheimgebliebenen verschuldet haben, und deren
    Bewältigung ihnen so schwierige Aufgaben stellt, möchte ich zwei
    hervorheben und an dieser Stelle behandeln: Die Enttäuschung,
    die dieser Krieg hervorgerufen hat, und die veränderte Einstel-
    lung zum Tode, zu der er uns – wie alle anderen Kriege –
    nötigt.

    Wenn ich von Enttäuschung rede, weiß jedermann sofort, was
    damit gemeint ist. Man braucht kein Mitleidsschwärmer zu sein,
    man kann die biologische und psychologische Notwendigkeit des
    Leidens für die Ökonomie des Menschenlebens einsehen und darf
    doch den Krieg in seinen Mitteln und Zielen verurteilen und
    das Aufhören der Kriege herbeisehnen. Man sagte sich zwar, die
    Kriege könnten nicht aufhören, solange die Völker unter so ver-
    schiedenartigen Existenzbedingungen leben, solange die Wertungen
    des Einzellebens bei ihnen weit auseinandergehen, und solange
    die Gehässigkeiten, welche sie trennen, so starke seelische Trieb-
    kräfte repräsentieren. Man war also darauf vorbereitet, daß Kriege
    zwischen den primitiven und den zivilisierten Völkern, zwischen
    den Menschenrassen, die durch die Hautfarbe voneinander ge-
    schieden werden, ja Kriege mit und unter den wenig entwickelten
    oder verwilderten Völkerindividuen Europas die Menschheit noch
    durch geraume Zeit in Anspruch nehmen werden. Aber man
    getraute sich etwas anderes zu hoffen. Von den großen weltb-
    herrschenden Nationen weißer Rasse, denen die Führung des
    Menschengeschlechtes zugefallen ist, die man mit der Pflege welt-

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    umspannender Interessen beschäftigt wußte, deren Schöpfungen
    die technischen Fortschritte in der Beherrschung der Natur wie
    die künstlerischen und wissenschaftlichen Kulturwerte sind, von diesen 
    Völkern hatte man erwartet, daß sie es verstehen würden,
    Mißhelligkeiten und Interessenkonflikte auf anderem Wege zum
    Austrage zu bringen. Innerhalb jeder dieser Nationen waren hohe
    sittliche Normen für den einzelnen aufgestellt werden, nach denen
    er seine Lebensführung einzurichten hatte, wenn er an der Kultur-
    gemeinschaft teilnehmen wollte. Diese oft überstrengen Vor-
    schriften forderten viel von ihm, eine ausgiebige Selbstbeschrän-
    kung, einen weitgehenden Verzicht auf Triebbefriedigung. Es war
    ihm vor allem versagt, sich der außerordentlichen Vorteile zu
    bedienen, die der Gebrauch von Lüge und Betrug im Wett-
    kampfe mit den Nebenmenschen schafft. Der Kulturstaat hielt
    diese sittlichen Normen für die Grundlage seines Bestandes, er
    schritt ernsthaft ein, wenn man sie anzutasten wagte, erklärte es
    oft für untunlich, sie auch nur einer Prüfung durch den kriti-
    schen Verstand zu unterziehen. Es war also anzunehmen, daß er
    sie selbst respektieren wolle und nichts gegen sie zu unternehmen
    gedenke, wodurch er der Begründung seiner eigenen Existenz
    widersprochen hätte. Endlich konnte man zwar die Wahrnehmung
    machen, daß es innerhalb dieser Kulturnationen gewisse einge-
    sprengte Völkerreste gäbe, die ganz allgemein unliebsam wären
    und darum nur widerwillig, auch nicht im vollen Umfange, zur
    Teilnahme an der gemeinsamen Kulturarbeit zugelassen würden,
    für die sie sich als genug geeignet erwiesen hatten. Aber die
    großen Völker selbst, konnte man meinen, hätten so viel Ver-
    ständnis für ihre Gemeinsamkeiten und so viel Toleranz für ihre
    Verschiedenheiten erworben, daß „fremd“ und „feindlich“ nicht
    mehr wie noch im klassischen Altertume für sie zu einem Be-
    griffe verschmelzen durften.

    Vertrauend auf diese Einigung der Kulturvölker haben unge-
    zählte Menschen ihren Wohnort in der Heimat gegen den Auf-

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    enthalt in der Fremde eingetauscht und ihre Existenz an die
    Verkehrsbeziehungen zwischen den befreundeten Völkern geknüpft.
    Wen aber die Not des Lebens nicht ständig an die nämliche Stelle
    bannte, der konnte sich aus allen Vorzügen und Reizen der Kultur-
    länder ein neues größeres Vaterland zusammensetzen, in dem er
    sich ungehemrnt und unverdächtigt erging. Er genoß so das blaue
    und das graue Meer, die Schönheit der Schneeberge und die der
    grünen Wiesenflächen, den Zauber des nordischen Waldes und
    die Pracht der südlichen Vegetation, die Stimmung der Land-
    schaften, auf denen große historische Erinnerungen ruhen, und
    die Stille der unherührten Natur. Dies neue Vaterland war für
    ihn auch ein Museum, erfüllt mit allen Schätzen, welche die
    Künstler der Kulturmenschheit seit vielen Jahrhunderten geschaffen
    und hinterlassen hatten. Während er von einem Saale dieses
    Museums in einen andern wanderte, konnte er in parteiloser
    Anerkennung feststellen, was für verschiedene Typen von Voll-
    kommenheit, Blutmischung, Geschichte und die Eigenart der Mutter
    Erde an seinen weiteren Kompatrioten ausgebildet hatten. Hier
    war die kühle unheugsame Energie aufs höchste entwickelt, dort
    die graziöse Kunst, das Leben zu verschönern, anderswo der Sinn
    für Ordnung und Gesetz oder andere der Eigenschaften, die den
    Menschen zum Herrn der Erde gemacht haben.

    Vergessen wir auch nicht, daß jeder Kulturweltbürger sich
    einen besonderen „Parnaß“ und eine „Schule von Athen“ ge-
    schaffen hatte. Unter den großen Denkern, Dichtern, Künstlern
    aller Nationen, hatte er die ausgewählt, denen er das Beste zu
    schulden vermeinte, was ihm an Lebensgenuß und Lebensver-
    ständnis zugänglich geworden war, und sie den unsterblichen
    Alten in seiner Verehrung zugesellt wie den vertrauten Meistern
    seiner eigenen Zunge. Keiner von diesen Großen war ihm darum
    fremd erschienen, weil er in anderer Sprache geredet hatte, weder
    der unvergleichliche Ergründer der menschlichen Leidenschaften,
    noch der schönheitstrunkene Schwärmer oder der gewaltig drohende

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    Prophet, der feinsinnige Spötter, und niemals warf er sich dabei
    vor, abtrünnig geworden zu sein der eigenen Nation und der
    geliebten Muttersprache.

    Der Genuß der Kulturgemeinschaft wurde gelegentlich durch
    Stimmen gestört, welche warnten, daß infolge altüberkommener
    Differenzen Kriege auch unter den Mitgliedern derselben unver-
    meidlich wären. Man wollte nicht daran glauben, aber wie stellte
    man sich einen solchen Krieg vor, wenn es dazu kommen sollte?
    Als eine Gelegenheit die Fortschritte im Gemeingefühle der
    Menschen aufzuzeigen seit jener Zeit, da die griechischen Am-
    phiktyonien verboten hatten, eine dem Bündnisse angehörige Stadt
    zu zerstören, ihre Ölbäurne umzuhauen und ihr das Wasser ab-
    zuschneiden. Als einen ritterlichen Waffengang, der sich
    darauf beschränken wollte, die Überlegenheit des einen Teiles festzu-
    stellen, unter möglichster Vermeidung schwerer Leiden, die zu
    dieser Entscheidung nichts beitragen könnten, mit voller Schonung
    für den Verwundeten, der aus dem Kampfe ausscheiden muß,
    und für den Arzt und Pfleger, der sich seiner Herstellung widmet.
    Natürlich mit allen Rücksichten für den nicht kriegführenden
    Teil der Bevölkerung, für die Frauen, die dem Kriegshandwerk
    ferne bleiben, und für die Kinder, die, herangewachsen, einander
    von beiden Seiten Freunde und Mithelfer werden sollen. Auch
    mit Erhaltung all der internationalen Unternehmungen und Insti-
    tutionen, in denen sich die Kulturgerneinschaft der Friedenszeit
    verkörpert hatte.

    Ein solcher Krieg hätte immer noch genug des Schrecklichen
    und schwer zu Ertragenden enthalten, aber er hätte die Entwick-
    lung ethischer Beziehungen zwischen den Großindividuen der
    Menschheit, den Völkern und Staaten, nicht unterbrochen.

    Der Krieg, an den wir nicht glauben wollten, brach nun aus
    und er brachte die – Enttäuschung. Er ist nicht nur blutiger
    und verlustreicher als einer der Kriege vorher, infolge der mächtig
    vervollkomrnneten Waffen des Angrifles und der Verteidigung,

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    sondern mindestens ebenso grausam, erbittert, schonungslos wie
    irgend ein früherer. Er setzt sich über alle Einschränkungen hinaus,
    zu denen man sich in friedlichen Zeiten verpflichtet, die man das
    Völkerrecht genannt hatte, anerkennt nicht die Vorrechte des
    Verwundeten und des Arztes, die Unterscheidung des friedlichen
    und des kämpfenden Teiles der Bevölkerung, die Ansprüche des
    Privateigentums. Er wirft nieder, was ihm im Wege steht, in
    blinder Wut, als sollte es keine Zukunft und keinen Frieden
    unter den Menschen nach ihm geben. Er zerreißt alle Bande der
    Gemeinschaft unter den miteinander ringenden Völkern und droht
    eine Erbitterung zu hinterlassen, welche eine VViederanknüpfung
    derselben für lange Zeit unmöglich machen wird.

    Er brachte auch das kaum begreifliche Phänomen zum Vor-
    scheine, daß die Kulturvölker einander so wenig kennen und ver-
    stehen, daß sich das eine mit Haß und Abscheu gegen das andere
    wenden kann. Ja, daß eine der großen Kulturnationen so allge-
    mein mißliebig ist, daß der Versuch gewagt werden kann, sie als
    „barbarisch“ von der Kulturgemeinschaft auszuschließen, obwohl
    sie ihre Eignung durch die großartigsten Beitragsleistungen längst
    erwiesen hat. Wir leben der Hoffnung, eine unparteiische Ge-
    schichtsschreibung werde den Nachweis erbringen, daß gerade
    diese Nation, die, in deren Sprache wir schreiben, für deren Sieg
    unsere Lieben kämpfen, sich am wenigsten gegen die Gesetze der
    menschlichen Gesittung vergangen habe, aber wer darf in solcher
    Zeit als Richter auftreten in eigener Sache?

    Völker werden ungefähr durch die Staaten, die sie bilden,
    repräsentiert; diese Staaten durch die Regierungen, die sie leiten.
    Der einzelne Volksangehörige kann in diesem Kriege mit Schrecken
    feststellen, was sich ihm gelegentlich schon in Friedenszeiten auf-
    drängen wollte, daß der Staat dem Einzelnen den Gebrauch des
    Unrechts untersagt hat, nicht weil er es abschalfen, sondern weil
    er es monopolisieren will wie Salz und Tabak. Der kriegführende
    Staat gibt sich jedes Unrecht, jede Gewalttätigkeit frei, die den

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    Einzelnen entehren würde. Er bedient sich nicht nur der erlaubten
    List, sondern auch der bewußten Lüge und des absichtlichen Be-
    truges gegen den Feind, und dies zwar in einem Maße, welches
    das in früheren Kriegen Gebräuchliche zu übersteigen scheint.
    Der Staat fordert das Äußerste an Gehorsam und Aufopferung
    von seinen Bürgern, entmündigt sie aber dabei durch ein Über-
    maß von Verheimlichung und eine Zensur der Mitteilung und
    Meinungsäußerung, welche die Stimmung der so intellektuell
    Unterdrückten wehrlos macht gegen jede ungünstige Situation
    und jedes wüste Gerücht. Er löst sich los von Zusicherungen und
    Verträgen, durch die er sich gegen andere Staaten gebunden hatte,
    bekennt sich ungescheut zu seiner Habgier und seinem Macht-
    streben, die dann der Einzelne aus Patriotismus gutheißen soll.

    Man wende nicht ein, daß der Staat auf den Gebrauch des
    Unrechts nicht verzichten kann, weil er sich dadurch in Nach-
    teil setzte. Auch für den Einzelnen ist die Befolgung der Sitt-
    lichen Normen, der Verzicht auf brutale Machtbetätigung in der
    Regel sehr unvorteilhaft, und der Staat zeigt sich nur selten dazu
    fähig, den Einzelnen für das Opfer zu entschädigen, das er von
    ihm gefordert hat. Man darf sich auch nicht darüber verwundern,
    daß die Lockerung aller sittlichen Beziehungen zwischen den Groß-
    individuen der Menschheit eine Rückwirkung auf die Sittlichkeit
    der Einzelnen geäußert hat, denn unser Gewissen ist nicht der
    unbgeugsame Richter, für den die Ethiker es ausgeben, es ist in
    seinem Ursprunge „soziale Angst“ und nichts anderes. Wo die
    Gemeinschaft den Vorwurf aufhebt, hört auch die Unterdrückung
    der bösen Gelüste auf, und die Menschen begehen Taten von
    Grausamkeit, Tücke, Verrat und Roheit, deren Möglichkeit man
    mit ihrem kulturellen Niveau für unvereinbar gehalten hätte.

    So mag der Kulturweltbürger, den ich vorhin eingeführt habe,
    ratlos dastehen in der ihm fremd gewordenen Welt, sein großes
    Vaterland zerfallen, die gemeinsamen Besitztümer verwüstet, die
    Mitbürger entzweit und erniedrigt!

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    Zur Kritik seiner Enttäuschung wäre einiges zu bemerken. Sie
    ist, strenge genommen, nicht berechtigt, denn sie besteht in der
    Zerstörung einer Illusion. Illusionen empfehlen sich uns dadurch,
    daß sie Unlustgefühle ersparen und uns an ihrer Statt Befriedi-
    gungen genießen lassen. Wir müssen es dann ohne Klage hin-
    nehmen, daß sie irgend einmal mit einem Stücke der Wirklich-
    keit zusammenstoßen, an dem sie zerschellen.

    Zweierlei in diesem Kriege hat unsere Enttäuschung rege ge-
    macht: die geringe Sittlichlceit der Staaten nach außen, die sich
    nach innen als die Wächter der sittlichen Normen gebärden, und
    die Brutalität im Benehmen der Einzelnen, denen man als Teil-
    nehmer an der höchsten menschlichen Kultur ähnliches nicht zu-
    getraut hat.

    Beginnen wir mit dem zweiten Punkte und versuchen wir es,
    die Anschauung, die wir kritisieren wollen, in einen einzigen
    knappen Satz zu fassen. Wie stellt man sich denn eigentlich den
    Vorgang vor, durch welchen ein einzelner Mensch zu einer
    höheren Stufe von Sittlichkeit gelangt? Die erste Antwort wird
    wohl lauten: Er ist eben von Geburt und von Anfang an gut
    und edel. Sie soll hier weiter nicht berücksichtigt werden. Eine
    zweite Antwort wird auf die Anregung eingehen, daß hier ein
    Entwicklungsvorgang vorliegen müsse, und wird wohl annehmen,
    diese Entwicklung bestehe darin, daß die bösen Neigungen des
    Menschen in ihm ausgerottet und unter dem Einflusse von Er-
    ziehung und Kulturumgebung durch Neigungen zum Guten ersetzt
    werden. Dann darf man sich allerdings verwundern, daß bei dem
    so Erzogenen das Böse wieder so tatkräftig zum Vorschein kommt.

    Aber diese Antwort enthält auch den Satz, dem wir wider-
    sprechen wollen. In Wirklichkeit gibt es keine „Ausrottung“ des
    Bösen. Die psychologische – im strengeren Sinne die psycho-
    analytische – Untersuchung zeigt vielmehr, daß das tiefste Wesen
    des Menschen in Triebregungen besteht, die elementarer Natur,
    bei allen Menschen gleichartig sind und auf die Befriedigung
     

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    gewisser ursprünglicher Bedürfnisse zielen. Diese Triebregungen
    sind an sich weder gut noch böse. Wir klassifizieren sie und ihre
    Äußerungen in solcher Weise, je nach ihrer Beziehung zu den
    Bedürfnissen und Anforderungen der menschlichen Gemeinschaft.
    Zugegeben ist, daß alle die Regungen, welche von der Gesell-
    schaft als böse verpönt werden – nehmen wir als Vertretung
    derselben die eigensüchtigen und die grausamen – sich unter
    diesen primitiven befinden.

    Diese primitiven Regungen legen einen langen Entwicklungs-
    weg zurück, bis sie zur Betätigung beim Erwachsenen zugelassen
    werden. Sie werden gehemmt, auf andere Ziele und Gebiete
    gelenkt, gehen Verschmelzungen miteinander ein, wechseln ihre
    Objekte, wenden sich zum Teil gegen die eigene Person. Reaktions-
    bildungen gegen gewisse Triebe täuschen die inhaltliche Verwand-
    lung derselben vor, als ob aus Egoismus – Altmismus, aus Grau-
    samkeit – Mitleid geworden wäre. Diesen Reaktionsbildungen
    kommt zugute, daß manche Triebregungen fast von Anfang an in
    Gegensatzpaaren auftreten, ein sehr merkwürdiges und der
    populären Kenntnis fremdes Verhältnis, das man die „Gefühls-
    ambivalenz“ benannt hat. Am leichtesten zu beobachten und vom
    Verständnis zu bewältigen ist die Tatsache, daß starkes Lieben und
    starkes Hassen so häufig miteinander bei derselben Person vereint
    vorkommen. Die Psychoanalyse fügt dem zu, daß die beiden ent-
    gegengesetzten Gefühlsregungen nicht selten auch die nämliche
    Person zum Objekte nehmen.

    Erst nach Überwindung all solcher „Triebschicksale“ stellt
    sich das heraus, was man den Charakter eines Menschen nennt,
    und was mit „gut“ oder „böse“ bekanntlich nur sehr unzu-
    reichend klassifiziert werden kann. Der Mensch ist selten im
    ganzen gut oder böse, meist „gut“ in dieser Relation, „böse“
    in einer anderen oder „gut“ unter solchen äußeren Bedingungen,
    unter anderen entschieden „böse“. Interessant ist die Erfahrung,
    daß die kindliche Präexistenz starker „böser“ Regungen oft

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    geradezu die Bedingung wird für eine besonders deutliche Wen-
    dung des Erwachsenen zum „Guten“. Die stärksten kindlichen
    Egoisten können die hilfreichsten und aufopferungsfähigsten Bür-
    ger werden; die meisten Mitleidsschwärmer, Menschenfreunde,
    Tierschützer haben sich aus kleinen Sadisten und Tierquälern
    entwickelt.

    Die Umbildung der „bösen“ Triebe ist das Werk zweier im
    gleichen Sinne wirkenden Faktoren, eines inneren und eines
    äußeren. Der innere Faktor besteht in der Beeinflussung der
    bösen – sagen wir: eigensüchtigen – Triebe durch die Erotik,
    das Liebesbedürfnis des Menschen im weitesten Sinne genommen.
    Durch die Zumischung der erotischen Komponenten werden die
    eigensüchtigen Triebe in soziale umgewandelt. Man lernt das
    Geliebtwerden als einen Vorteil schätzen, wegen dessen man auf
    andere Vorteile verzichten darf. Der äußere Faktor ist der Zwang
    der Erziehung, welche die Ansprüche der kulturellen Umgebung
    vertritt, und die dann durch die direkte Einwirkung des Kultur-
    milieus fortgesetzt wird. Kultur ist durch Verzicht auf Trieb-
    befriedigung gewonnen werden und fordert von jedem neu An-
    kommenden, daß er denselben Triebverzicht leiste. Während des
    individuellen Lebens findet eine beständige Umsetzung von äußerem
    Zwange in inneren Zwang statt. Die Kultureinflüsse leiten dazu
    an, daß immer mehr von den eigensüchtigen Strebungen durch
    erotische Zusätze in altruistische, soziale, verwandelt werden. Man
    darf endlich annehmen, daß aller innere Zwang, der sich in der
    Entwicklung des Menschen geltend macht, ursprünglich, d. h. in
    der Menschheitsgeschichte nur äußerer Zwang war. Die
    Menschen, die heute geboren werden, bringen ein Stück Neigung
    (Disposition) zur Umwandlung der egoistischen in soziale Triebe
    als ererbte Organisation mit, die auf leichte Anstöße hin diese
    Umwandlung durchführt. Ein anderes Stück dieser Triebumwand-
    lung muß im Leben selbst geleistet werden. In solcher Art steht
    der einzelne Mensch nicht nur unter der Einwirkung seines gegen-
     

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    [325]

    wärtigen Kulturmilieus, sondern unterliegt auch dem Einflusse der
    Kulturgeschichte seiner Vorfahren.

    Heißen wir die einem Menschen zukommende Fähigkeit zur
    Umbildung der egoistischen Triebe unter dem Einflusse der Erotik
    seine Kultureignung, so können wir aussagen, daß dieselbe aus
    zwei Anteilen besteht, einem angeborenen und einem im Leben
    erworbenen, und daß das Verhältnis der beiden zueinander und
    zu dem unverwandelt gebliebenen Anteile des Trieblebens ein sehr
    variables ist.

    Im allgemeinen sind wir geneigt, den angeborenen Anteil
    zu hoch zu veranschlagen, und überdies laufen wir Gefahr,
    die gesamte Kultureignung in ihrem Verhältnisse zum primitiv
    gebliebenen Triebleben zu überschätzen, d. h. wir werden dazu
    verleitet, die Menschen „besser“ zu beurteilen, als sie in Wirk-
    lichkeit sind. Es besteht nämlich noch ein anderes Moment,
    welches unser Urteil trübt und das Ergebnis im günstigen Sinne
    verfälscht.

    Die Triebregungen eines anderen Menschen sind unserer Wahr-
    nehmung natürlich entrückt. Wir schließen auf sie aus seinen Hand-
    lungen und seinem Benehmen, welche wir auf Motive aus seinem
    Triebleben zurückführen. Ein solcher Schluß geht notwendigerweise
    in einer Anzahl von Fällen irre. Die nämlichen, kulturell „guten“
    Handlungen können das einemal von „edlen“ Motiven her-
    stammen, das anderemal nicht. Die theoretischen Ethiker heißen
    nur solche Handlungen „gut“, welche der Ausdruck guter Trieb-
    regungen sind, den anderen versagen sie ihre Anerkennung. Die
    von praktischen Absichten geleitete Gesellschaft kümmert sich aber
    im ganzen um diese Unterscheidung nicht; sie begnügt sich
    damit, daß ein Mensch sein Benehmen und seine Handlungen
    nach den kulturellen Vorschriften richte, und fragt Wenig nach
    seinen Motiven.

    Wir haben gehört, daß der äußere Zwang, den Erziehung
    und Umgebung auf den Menschen üben, eine weitere Umbildung
     

  • S.

    [326]

    seines Trieblebens zum Guten, eine Wendung vom Egoismus zum
    Altruismus herbeiführt. Aber dies ist nicht die notwendige oder
    regelmäßige Wirkung des äußeren Zwanges. Erziehung und Um-
    gebung haben nicht nur Liebesprämien anzubieten, sondern
    arbeiten auch mit Vorteilsprämien anderer Art, mit Lohn und
    Strafen. Sie können also die Wirkung äußern, daß der ihrem
    Einflusse Unterliegende sich zum guten Handeln im kulturellen
    Sinne eutschließt, ohne daß sich eine Triebveredlung, eine Um-
    setzung egoistischer in soziale Neigungen, in ihm vollzogen hat.
    Der Erfolg wird im groben derselbe sein; erst unter besonderen
    Verhältnissen wird es sich zeigen, daß der eine immer gut handelt,
    weil ihn seine Triebneigungen dazu nötigen, der andere nur gut
    ist, weil, insolange und insoweit dies kulturelle Verhalten seinen
    eigensüchtigen Absichten Vorteile bringt. Wir aber werden bei
    oberflächlicher Bekanntschaft mit den Einzelnen kein Mittel haben,
    die beiden Fälle zu unterscheiden, und gewiß durch unseren
    Optimismus verführt werden, die Anzahl der kulturell veränderten
    Menschen arg zu überschätzen.

    Die Kulturgesellschaft, die die gute Handlung fordert, und sich
    um die Triebbegründung derselben nicht kümmert, hat also eine
    große Zahl von Menschen zum Kulturgehorsam gewonnen, die
    dabei nicht ihrer Natur folgen. Durch diesen Erfolg ermutigt, hat
    sie sich verleiten lassen, die sittlichen Anforderungen möglichst
    hoch zu spannen und so ihre Teilnehmer zu noch weiterer Ent-
    fernung von ihrer Triebveranlagung gezwungen. Diesen ist nun
    eine fortgesetzte Triebunterdrückung auferlegt, deren Spannung
    sich in den merkwürdigsten Reaktions- und Kompensations-
    erscheinungen kundgibt. Auf dem Gebiete der Sexualität, wo
    solche Unterdrückung am wenigsten durchzuführen ist, kommt es
    so zu den Reaktionserscheinungen der neurotischen Erkrankungen.
    Der sonstige Druck der Kultur zeitigt zwar keine pathologische
    Folgen, äußert sich aber in Charakterverbildungen und in der
    steten Bereitschaft der gehemmten Triebe, bei passender Gelegen-
     

  • S.

    [327]

    heit zur Befriedigung durchzubrechen. Wer so genötigt wird,
    dauernd im Sinne von Vorschriften zu reagieren, die nicht der
    Ausdruck seiner Triebneigungen sind, der lebt, psychologisch ver-
    standen, über seine Mittel und darf objektiv als Heuchler bezeichnet
    werden, gleichgültig ob ihm diese Differenz klar bewußt worden
    ist oder nicht. Es ist unleugbar, daß unsere gegenwärtige Kultur
    die Ausbildung dieser Art von Heuchelei in außerordentlichem
    Umfange begünstigt. Man könnte die Behauptung wagen, sie sei
    auf solcher Heuchelei aufgebaut und müßte sich tiefgreifende
    Abänderungen gefallen lassen, wenn es die Menschen unternehmen
    würden, der psychologischen Wahrheit nachzuleben. Es gibt also
    ungleich mehr Kulturheuchler als wirklich kulturelle Menschen, ja
    man kann den Standpunkt diskutieren, ob ein gewisses Maß von
    Kulturheuchelei nicht zur Aufrechterhaltung der Kultur unerläßlich
    sei, weil die bereits organisierte Kultureignung der heute lebenden
    Menschen vielleicht für diese Leistung nicht zureichen würde.
    Anderseits bietet die Aufrechterhaltung der Kultur auch auf so
    bedenklicher Grundlage die Aussicht, bei jeder neuen Generation
    eine weitergehende Triebumbildung als Trägerin einer besseren
    Kultur anzubahnen.

    Den bisherigen Erörterungen entnehmen wir bereits den einen
    Trost, daß unsere Kränkung und schmerzliche Enttäuschung wegen
    des unkulturellen Benehmens unserer Weltmitbürger in diesem
    Kriege unberechtigt waren. Sie beruhten auf einer Illusion, der
    wir uns gefangen gaben. In Wirklichkeit sind sie nicht so tief
    gesunken, wie wir fürchten, weil sie gar nicht so hoch gestiegen
    waren, wie wirs von ihnen glaubten. Daß die menschlichen Groß-
    individuen, die Völker und Staaten, die sittlichen Beschränkungen
    gegeneinander fallen ließen, wurde ihnen zur begreiflichen An-
    regung, sich für eine Weile dem bestehenden Drucke der Kultur
    zu entziehen und ihren zurückgehaltenen Trieben vorübergehend
    Befriedigung zu gönnen. Dabei geschah ihrer relativen Sittlichkeit
    innerhalb ihres Volkstumes wahrscheinlich kein Abbruch.
     

  • S.

    [328]

    Wir können uns aber das Verständnis der Veränderung, die der
    Krieg an unseren früheren Kompatrioten zeigt, noch vertiefen und
    empfangen dabei eine Warnung, kein Unrecht an ihnen zu
    begehen. Seelische Entwicklungen besitzen nämlich eine Eigen-
    tümlichkeit, welche sich bei keinem anderen Entwicklungsvorgang
    mehr vorfindet. Wenn ein Dorf zur Stadt, ein Kind zum Manne
    heranwächst, so gehen dabei Dorf und Kind in Stadt und Mann
    unter. Nur die Erinnerung kann die alten Züge in das neue Bild
    einzeichnen; in Wirklichkeit sind die alten Materialien oder
    Formen beseitigt und durch neue ersetzt worden. Anders geht es
    bei einer seelischen Entwicklung zu. Man kann den nicht zu ver-
    gleichenden Sachverhalt nicht anders beschreiben als durch die
    Behauptung, daß jede frühere Entwicklungsstufe neben der späteren,
    die aus ihr geworden ist, erhalten bleibt; die Sukzession bedingt
    eine Koexistenz mit, obwohl es doch dieselben Materialien sind,
    an denen die ganze Reihenfolge von Veränderungen abgelaufen
    ist. Der frühere seelische Zustand mag sich jahrelang nicht
    geäußert haben, er bleibt doch soweit bestehen, daß er eines
    Tages wiederum die Äußerungsform der seelischen Kräfte werden
    kann, und zwar die einzige, als ob alle späteren Entwicklungen
    annulliert, rückgängig gemacht worden wären. Diese außerordent-
    liche Plastizität der seelischen Entwicklungen ist in ihrer Richtung
    nicht unbeschränkt; man kann sie als eine besondere Fähigkeit
    zur Rückbildung – Regression – bezeichnen, denn es kommt
    wohl vor, daß eine spätere und höhere Entwicklungsstufe, die
    verlassen wurde, nicht wieder erreicht werden kann. Aber die
    primitiven Zustände können immer wieder hergestellt werden;
    das primitive Seelische ist im vollsten Sinne unvergänglich.

    Die sogenannten Geisteskrankheiten müssen beim Laien den
    Eindruck hervorrufen, daß das Geistes- und Seelenleben der Zer-
    störung anheimgefallen sei. In Wirklichkeit betrifft die Zerstörung
    nur spätere Erwerbungen und Entwicklungen. Das Wesen der
    Geisteskrankheit besteht in der Rückkehr zu früheren Zuständen

  • S.

    [329]

    des Affektlebens und der Funktion. Ein ausgezeichnetes Beispiel
    für die Plastizität des Seelenlebens gibt der Schlafzustand, den wir
    allnächtlich anstreben. Seitdem wir auch tolle und verworrene
    Träume zu übersetzen verstehen, wissen wir, daß wir mit jedem
    Einschlafen unsere mühsam erworbene Sittlichkeit wie ein Gewand
    von uns werfen – um es am Morgen wieder anzutun. Diese
    Entblößung ist natürlich ungefährlich, weil wir durch den Schlaf-
    zustand gelähmt, zur Inaktivität verurteilt sind. Nur der Traum
    kann von der Regression unseres Gefühllebens auf eine der frü-
    hesten Entwicklungsstufen Kunde geben. So ist es z. B. bemer-
    kenswert, daß alle unsere Träume von rein egoistischen Motiven
    beherrscht werden. Einer meiner englischen Freunde vertrat diesen
    Satz vor einer wissenschaftlichen Versammlung in Amerika, wor-
    auf ihm eine anwesende Dame die Bemerkung machte, das möge
    vielleicht für Österreich richtig sein, aber sie dürfe von sich und
    ihren Freunden behaupten, daß sie auch noch im Traume al-
    truistisch fühlen. Mein Freund, obwohl selbst ein Angehöriger der
    englischen Rasse, mußte auf Grund seiner eigenen Erfahrungen
    in der Traumanalyse der Dame energisch widersprechen: Im
    Traume sei auch die edle Amerikanerin ebenso egoistisch wie der
    Österreicher.

    Es kann also auch die Triebumbildung, auf welcher unsere Kultur-
    eignung beruht, durch Einwirkungen des Lebens – dauernd oder
    zeitweilig – rückgängig gemacht werden. Ohne Zweifel gehören
    die Einflüsse des Krieges zu den Mächten, welche solche Rück-
    bildung erzeugen können, und darum brauchen wir nicht allen
    jenen, die sich gegenwärtig unkulturell benehmen, die Kultur-
    eignung abzusprechen, und dürfen erwarten, daß sich ihre Trieb-
    veredlung in ruhigeren Zeiten wieder herstellen wird.

    Vielleicht hat uns aber ein anderes Symptom bei unseren Welt-
    mitbürgern nicht weniger überrascht und geschreckt als das so
    schmerzlich empfundene Herabsinken von ihrer ethischen Höhe.
    Ich meine die Einsichtslosigkeit, die sich bei den besten Köpfen

  • S.

    [330]

    zeigt, ihre Verstocktheit, Unzugänglichkeit gegen die eindringlich-
    sten Argumente, ihre kritiklose Leichtgläubigkeit für die anfecht-
    barsten Behauptungen. Dies ergibt freilich ein trauriges Bild, und
    ich will ausdrücklich betonen, daß ich keineswegs als verblendeter
    Parteigänger alle intellektuellen Verfehlungen nur auf einer der
    beiden Seiten finde. Allein diese Erscheinung ist noch leichter zu
    erklären und weit weniger bedenklich als die vorhin gewürdigte.
    Menschenkenner und Philosophen haben uns längst belehrt, daß
    wir Unrecht daran tun, unsere Intelligenz als selbständige Macht
    zu schätzen und ihre Abhängigkeit vom Gefühlsleben zu über-
    sehen. Unser Intellekt könne nur verläßlich arbeiten, wenn er
    den Einwirkungen starker Gefühlsregungen entrückt sei, im gegen-
    teiligen Falle benehme er sich einfach wie ein Instrument zu
    Handen eines Willens und liefere das Resultat, das ihm von diesem
    aufgetragen sei. Logische Argumente seien also ohnmächtig gegen
    effektive Interessen, und darum sei das Streiten mit Gründen,
    die nach Falstaffs Wort so gemein sind wie Brombeeren, in der
    Welt der Interessen so unfruchtbm. Die psychoanalytische Erfah-
    rung hat diese Behauptung womöglich noch unterstrichen. Sie
    kann alle Tage zeigen, daß sich die scharfsinnigsten Menschen
    plötzlich einsichtslos wie Schwachsinnige benehmen, sobald die
    verlangte Einsicht einem Gefühlswiderstand bei ihnen begegnet,
    aber auch alles Verständnis wieder erlangen, wenn dieser Wider-
    stand überwunden ist. Die logische Verblendung, die dieser Krieg
    oft gerade bei den besten unserer Mitbürger hervorgezaubert hat,
    ist also ein sekundäres Phänomen, eine Folge der Gefühlserregung,
    und hoffentlich dazu bestimmt, mit ihr zu verschwinden.

    Wenn wir solcher Art unsere uns entfremdeten Mitbürger
    wieder verstehen, werden wir die Enttäuschung, die uns die Groß-
    individuen der Menschheit, die Völker, bereitet haben, um vieles
    leichter ertragen; denn an diese dürfen wir nur weit bescheidenere
    Ansprüche stellen. Dieselben wiederholen vielleicht die Entwick-
    lung der Individuen und treten uns heute noch auf sehr primi-

  • S.

    [331]

    tiven Stufen der Organisation, der Bildung höherer Einheiten,
    entgegen. Dementsprechend ist das erziehliche Moment des äußeren
    Zwanges zur Sittlichkeit, welches wir beim Einzelnen so wirksam
    fanden, bei ihnen noch kaum nachweisbar. Wir hatten zwar ge-
    hofft, daß die großartige, durch Verkehr und Produktion her-
    gestellte Interessengemeinschaft den Anfang eines solchen Zwanges
    ergeben werde, allein es scheint, die Völker gehorchen ihren
    Leidenschaften derzeit weit mehr als ihren Interessen. Sie bedienen
    sich höchstens der Interessen, um die Leidenschaften zu ratio-
    nalisieren
    ; sie schieben ihre Interessen vor, um die Befriedigung
    ihrer Leidenschaften begründen zu können. Warum die Völker-
    individuen einander eigentlich geringschätzen, hassen‚ verabscheuen,
    und zwar auch in Friedenszeiten, und jede Nation die andere,
    das ist freilich rätselhaft. Ich weiß es nicht zu sagen. Es ist in
    diesem Falle gerade so, als ob sich alle sittlichen Erwerbungen
    der Einzelnen auslöschten, wenn man eine Mehrheit oder gar
    Millionen Menschen zusammennimrnt, und nur die primitivsten,
    ältesten und rohesten, seelischen Einstellungen übrig blieben. An
    diesen bedauerlichen Verhältnissen werden vielleicht erst späte
    Entwicklungen etwas ändern können. Aber etwas mehr Wahr-
    haftigkeit und Aufrichtigkeit allerseits, in den Beziehungen der
    Menschen zueinander und zwischen ihnen und den sie Regieren-
    den, dürfte auch für diese Umwandlung die Wege ebnen.

  • S.

    II

    UNSER VERHÄLTNIS ZUM TODE

    Das zweite Moment, von dem ich es ableite, daß wir uns so
    befremdet fühlen in dieser einst so schönen und trauten Welt,
    ist die Störung des bisher von uns festgehaltenen Verhältnisses zum
    Tode.

    Dies Verhältnis war kein aufrichtiges. Wenn man uns anhörte,
    so waren wir natürlich bereit zu vertreten, daß der Tod der not-
    wendige Ausgang alles Lebens sei, daß jeder von uns der Natur
    einen Tod schulde und vorbereitet sein müsse, die Schuld zu be-
    zahlen, kurz, daß der Tod natürlich sei, unableugbar und unver-
    meidlich. In Wirklichkeit pflegten wir uns aber zu benehmen,
    als ob es anders wäre. Wir haben die unverkennbare Tendenz
    gezeigt, den Tod beiseite zu schieben, ihn aus dem Leben zu
    eliminieren. Wir haben versucht, ihn totzuschweigen; wir besitzen
    ja auch das Sprichwort: man denke an etwas wie an den Tod.
    Wie an den eigenen natürlich. Der eigene Tod ist ja auch un-
    vorstellbar, und so oft wir den Versuch dazu machen, können wir
    bemerken, daß wir eigentlich als Zuschauer weiter dabei bleiben.
    So konnte in der psychoanalytischen Schule der Ausspruch gewagt
    werden: Im Grunde glaube niemand an seinen eigenen Tod oder,
    was dasselbe ist: Im Unbewußten sei jeder von uns ‚von seiner
    Unsterblichkeit überzeugt.
     

  • S.

    [333]

    Was den Tod eines anderen betrifft, so wird der Kulturmensch
    es sorgfältig vermeiden, von dieser Möglichkeit zu sprechen, wenn
    der zum Tode Bestimmte es hören kann. Nur Kinder setzen sich
    über diese Beschränkung hinweg; sie drohen einander ungescheut
    mit den Chancen des Sterbens und bringen es auch zustande,
    einer geliebten Person dergleichen ins Gesicht zu sagen, wie z. B.:
    Liebe Mama, wenn du leider gestorben sein wirst, werde ich
    ies oder jenes. Der erwachsene Kultivierte wird den Tod eines
    anderen auch nicht gern in seine Gedanken einsetzen, ohne sich
    hart oder böse zu erscheinen; es sei denn, daß er berufsmäßig
    als Arzt, Advokat u. dgl. mit dem Tode zu tun habe. Am wenig-
    sten wird er sich gestatten, an den Tod des anderen zu denken,
    wenn mit diesem Ereignis ein Gewinn an Freiheit, Besitz, Stellung
    verbunden ist. Natürlich lassen sich Todesfälle durch dies unser
    Zartgefühl nicht zurückhalten; wenn sie sich ereignet haben, sind
    wir jedesmal tief ergriffen und wie in unseren Erwartungen er-
    schüttert. Wir betonen regelmäßig die zufällige Veranlassung des
    Todes, den Unfall, die Erkrankung, die Infektion, das hohe Alter,
    und verraten so unser Bestreben, den Tod von einer Notwendig-
    keit zu einer Zufälligkeit herabzudrücken. Eine Häufung von
    Todesfällen erscheint uns als etwas überaus Schreckliches. Dem
    Verstorbenen selbst bringen wir ein besonderes Verhalten ent-
    gegen, fast wie eine Bewunderung für einen, der etwas sehr
    Schwieriges zustande gebracht hat. Wir stellen die Kritik gegen
    ihn ein, sehen ihm sein etwaiges Unrecht nach, geben den
    Befehl aus: de mortuis nil nisi bene, und finden es gerecht-
    fertigt, daß man ihm in der Leichenrede und auf dem Grab-
    steine das Vorteilhafteste nachrühmt. Die Rücksicht auf den
    Toten, deren er doch nicht mehr bedarf, steht uns über der
    Wahrheit, den meisten von uns gewiß auch über der Rücksicht
    für den Lebenden.

    Diese kulturell-konventionelle Einstellung gegen den Tod ergänzt
    sich nun durch unseren völligen Zusammenbruch, wenn das Sterben

  • S.

    [334]

    eine der uns nahestehenden Personen, einen Eltern- oder Gatten-
    teil, ein Geschwister, Kind oder teuren Freund getroffen hat. Wir
    begraben mit ihm unsere Hoffnungen, Ansprüche, Genüsse, lassen
    uns nicht trösten und weigern uns, den Verlorenen zu ersetzen.
    Wir benehmen uns dann wie eine Art von Asra, welche mit-
    sterben, wenn die sterben, die sie liebe
    n.

    Dies unser Verhältnis zum Tode hat aber eine starke Wirkung
    auf unser Leben. Das Leben verarmt, es verliert an Interesse,
    wenn der höchste Einsatz in den Lebensspielen, eben das Leben
    selbst, nicht gewagt werden darf. Es wird so schal, gehaltlos wie
    etwa ein amerikanischer Flirt, bei dem es von vornherein fest-
    steht, daß nichts vorfallen darf, zum Unterschied von einer kon-
    tinentalen Liebesbeziehung, bei welcher beide Partner stets der
    ernsten Konsequenzen eingedenk bleiben müssen. Unsere Gefühls-
    bindungen, die unerträgliche Intensität unserer Trauer, machen
    uns abgeneigt, für uns und die unserigen Gefahren aufzusuchen.
    Wir getrauen uns nicht, eine Anzahl von Unternehmungen in
    Betracht zu ziehen, die gefährlich, aber eigentlich unerläßlich sind
    wie Flugversuche, Expeditionen in ferne Länder, Experimente mit
    explodierbaren Substanzen. Uns lähmt dabei das Bedenken, wer
    der Mutter den Sohn, der Gattin den Mann, den Kindern den
    Vater ersetzen soll, wenn ein Unglück geschieht. Die Neigung,
    den Tod aus der Lebensrechnung auszuschließen, hat so viele
    andere Verzichte und Ausschließungen im Gefolge. Und doch hat
    der Wahlspruch der Hansa gelautet: Navz'gare necesse est, vivere
    non necesse!
    Seefahren muß man, leben muß man nicht.

    Es kann dann nicht anders kommen, als daß wir in der Welt
    der Fiktion, in der Literatur, im Theater Ersatz suchen für die
    Einbuße des Lebens. Dort finden wir noch Menschen, die zu
    sterben verstehen, ja, die es auch zustande bringen, einen anderen
    zu töten. Dort allein erfüllt sich uns auch die Bedingung, unter
    welcher wir uns mit dem Tode versöhnen könnten, wenn wir
    nämlich hinter allen Wechselfällen des Lebens noch ein unantast-

  • S.

    [335]

    bares Leben übrig behielten. Es ist doch zu traurig, daß es im
    Leben zugehen kann wie im Schachspiel, wo ein falscher Zug
    uns zwingen kann, die Partie verloren zu geben, mit dem Unter-
    schiede aber, daß wir keine zweite, keine Bevanchepartie beginnen
    können. Auf dem Gebiete der Fiktion finden wir jene Mehrheit
    von Leben, deren wir bedürfen. Wir sterben in der Identifizierung
    mit dem einen Helden, überleben ihn aber doch und sind bereit,
    ebenso ungeschädigt ein zweites Mal mit einem anderen Helden
    zu sterben.

    Es ist evident, daß der Krieg diese konventionelle Behandlung
    des Todes hinwegfegen muß. Der Tod läßt sich jetzt nicht mehr
    verleugnen; man muß an ihn glauben. Die Menschen sterben
    wirklich, auch nicht mehr einzeln, sondern viele, oft Zehntausende
    an einem Tage. Es ist auch kein Zufall mehr. Es scheint freilich
    noch zufällig, ob diese Kugel den einen trifft oder den anderen;
    aber diesen anderen mag leicht eine zweite Kugel treffen, die
    Häufung macht dem Eindruck des Zufälligen ein Ende. Das Leben
    ist freilich wieder interessant geworden, es hat seinen vollen In-
    halt wieder bekommen.

    Man müßte hier eine Scheidung in zwei Gruppen vornehmen,
    diejenigen, die selbst im Kampfe ihr Leben preisgeben, trennen
    von den anderen, die zu Hause geblieben sind und nur zu er-
    warten haben, einen ihrer Lieben an den Tod durch Verletzung,
    Krankheit oder Infektion zu verlieren. Es wäre gewiß sehr inter-
    essant, die Veränderungen in der Psychologie der Kämpfer zu
    studieren, aber ich weiß zu wenig darüber. Wir müssen uns an
    die zweite Gruppe halten, zu der wir selbst gehören. Ich
    sagte schon, daß ich meine, die Verwirrung und die Läh-
    mung unserer Leistungsfzihigkeit, unter denen wir leiden, seien
    wesentlich mitbestimmt durch den Umstand, daß wir unser bis-
    heriges Verhältnis zum Tode nicht aufrecht halten können und
    ein neues noch nicht gefunden haben. Vielleicht hilft es uns dazu,
    wenn wir unsere psychologische Untersuchung auf zwei andere

  • S.

    [336]

    Beziehungen zum Tode richten, auf jene, die wir dem Ur-
    menschen, dem Menschen der Vorzeit, zuschreiben dürfen, und
    jene andere, die in jedem von uns noch erhalten ist, aber sich
    unsichtbar für unser Bewußtsein in tieferen Schichten unseres
    Seelenlebens verbirgt.

    Wie sich der Mensch der Vorzeit gegen den Tod verhalten,
    wissen wir natürlich nur durch Rückschlüsse und Konstruktionen,
    aber ich meine, daß diese Mittel uns ziemlich vertrauenswürdige
    Auskünfte ergeben haben.

    Der Urmensch hat sich in sehr merkwürdiger Weise zum Tode
    eingestellt. Gar nicht einheitlich, vielmehr recht widerspruchsvoll.
    Er hat einerseits den Tod ernst genommen, ihn als Aufhebung
    des Lebens anerkannt und sich seiner in diesem Sinne bedient,
    anderseits aber auch den Tod geleugnet, ihn zu nichts herabge-
    drückt. Dieser Wider5pruch wurde durch den Umstand ermög-
    licht, daß er zum Tode des anderen, des Fremden, des Feindes,
    eine radikal andere Stellung einnahm als zu seinem eigenen. Der
    Tod des anderen war ihm recht, galt ihm als Vernichtung des
    Verhaßten, und der Urmensch kannte kein Bedenken, ihn herbei-
    zuführen. Er war gewiß ein sehr leidenschaftliches Wesen, grau-
    samer und bösartiger als andere Tiere. Er mordete gerne und
    wie selbstverständlich. Den Instinkt, der andere Tiere davon ab-
    halten soll, Wesen der gleichen Art zu töten und zu verzehren,
    brauchen wir ihm nicht zuzuschreiben.

    Die Urgeschichte der Menschheit ist denn auch vom Morde
    erfüllt. Noch heute ist das, was unsere Kinder in der Schule als
    Weltgeschichte lernen, im wesentlichen eine Reihenfolge von
    Völkermorden. Das dunkle Schuldgefühl, unter dem die Mensch-
    heit seit Urzeiten steht, das sich in manchen Religionen zur An-
    nahme einer Urschuld, einer Erbsünde, verdichtet hat, ist wahr-
    scheinlich der Ausdruck einer Blutschuld, mit welcher sich die
    uneitliche Menschheit beladen hat. Ich habe in meinem Buche
    Totem und Tabu“ (1913), den Winken von W. Robertson

  • S.

    [337]

    Smith, Atkinson und Ch. Darwin folgend, die Natur dieser
    alten Schuld erraten wollen, und meine, daß noch die heutige
    christliche Lehre uns den Rückschluß auf sie ermöglicht. Wenn
    Gottes Sohn sein Leben Opfern mußte, um die Menschheit von
    der Erbsünde zu erlösen, so muß nach der Regel der Talion, der
    Vergeltung durch Gleiches, diese Sünde eine Tötung, ein Mord
    gewesen sein. Nur dies konnte zu seiner Sührie das Opfer eines
    Lebens erfordern. Und wenn die Erbsünde ein Verschulden gegen
    Gott-Vater war, so muß das älteste Verbrechen der Menschheit
    ein Vaterrnord gewesen sein, die Tötung des Urvaters der primi-
    tiven Menschenhorde, dessen Erinnerungsbild später zur Gottheit
    verklärt wurde.Vgl. „Die infantile Wiederkehr des Totemismus“ (die letzte Abhandlung in „Totem und Tabu“).

    Der eigene Tod war dem Urmenschen gewiß ebenso unver-
    stellbar und unwirklich, wie heute noch jedem von uns. Es ergab
    sich aber für ihn ein Fall, in dem die beiden gegensätzlichen
    Einstellungen zum Tode zusammenstießen und in Konflikt mit-
    einander gerieten, und dieser Fall wurde sehr bedeutsam und
    reich an fernwirkenden Folgen. Er ereignete sich, wenn der Ur-
    mensch einen seiner Angehörigen sterben sah, sein Weib, sein
    Kind, seinen Freund, die er sicherlich ähnlich liebte wie wir die
    unseren, denn die Liebe kann nicht um vieles jünger sein als
    die Mordlust. Da mußte er in seinem Schmerz die Erfahrung
    machen, daß man auch selbst sterben könne, und sein ganzes
    Wesen empörte sich gegen dieses Zugeständnis; jeder dieser
    Lieben war ja doch ein Stück seines eigenen geliebten Ichs.
    Andersens war ihm ein solcher Tod doch auch recht, denn in
    jeder der geliebten Personen stak auch ein Stück Fremdheit. Das
    Gesetz der Gefühlsambivalenz, das heute noch unsere Gefühls-
    beziehungen zu den von uns geliebtesten Personen beherrscht,
    galt in Urzeiten gewiß noch uneingeschränkter. Somit waren
    diese geliebten Verstorbenen doch auch Fremde und Feinde ge-

     

  • S.

    [338]

    wesen, die einen Anteil von feindseligen Gefühlen bei ihm her-
    vorgerufen hatten.1

    Die Philosophen haben behauptet, das intellektuelle Rätsel,
    welches das Bild des Todes dem Urmenschen aufgab, habe sein
    Nachdenken erzwungen und sei der Ausgang jeder Spekulation
    geworden. Ich glaube, die Philosophen denken da zu – philo-
    sophisch, nehmen zu wenig Rücksicht auf die primär wirksamen
    Motive. Ich möchte darum die obige Behauptung einschränken
    und korrigieren: an der Leiche des erschlagenen Feindes wird
    der Urmensch triumphiert haben, ohne einen Anlaß zu finden,
    sich den Kopf über die Rätsel des Lebens und Todes zu zer-
    brechen. Nicht das intellektuelle Rätsel und nicht jeder Todesfall,
    sondern der Gefühlskonflikt beim Tode geliebter und dabei doch
    auch fremder und gehaßter Personen hat die Forschung der Men-
    schen entbunden. Aus diesem Gefühlslconflikt wurde zunächst die
    Psychologie geboren. Der Mensch konnte den Tod nicht mehr
    von sich ferne halten, da er ihn in dem Schmerz um den Ver-
    storbenen verkostet hatte, aber er wollte ihn doch nicht zuge-
    stehen, da er sich selbst nicht tot vorstellen konnte. So ließ er
    sich auf Kompromisse ein, gab den Tod auch für sich zu, bestritt
    ihm aber die Bedeutung der Lebensvernichtung, wofür ihm beim
    Tode des Feindes jedes Motiv gefehlt hatte. An der Leiche der
    geliebten Person ersann er die Geister, und sein Schuldbewußt-
    sein ob der Befriedigung, die der Trauer beigemengt war, be-
    wirkte, daß diese erstgeschaffenen Geister böse Dämonen wurden,
    vor denen man sich ängstigen mußte. Die Veränderungen des
    Todes legten ihm die Zerlegung des Individuums in einen Leib
    und in eine – ursprünglich mehrere – Seelen nahe; in solcher
    Weise ging sein Gedankengang dem Zersetzungsprozeß, den der
    Tod einleitet, parallel. Die fortdauernde Erinnerung an den Ver-
    storbenen wurde die Grundlage der Annahme anderer Existenz-

    ___
    1) Siehe „Tabu und Ambivalenz“ (die zweite Abhandlung in „Totem und Tabu“).

  • S.

    [339]

    formen, gab ihm die Idee eines Fortlebens nach dem anschei-
    nenden Tode.

    Diese späteren Existenzen waren anfänglich nur Anhängsel an
    die durch den Tod abgeschlossene, schattenhaft, inhaltsleer und
    bis in späte Zeiten hinauf geringgeschätzt; sie trugen noch den
    Charakter kümmerlicher Auskünfte. Wir erinnern, was die Seele
    des Achilleus dem Odysseus erwidert:

    Denn dich Lebenden einst verehrten wir, gleich den Göttern,
    Argos Söhn’; und jetzo gebietest du mächtig den Geistern,
    Wohnend allhier. Drum laß dich den Tod nicht treuen, Achilleus.
    Also ich selbst; und sogleich antwortet’ er, solches erwidernd:
    Nicht mir rede vom Tod ein Trostwort, edler Odysseus!
    Lieber ja wollt’ ich das Feld als Tagelöhner bestellen
    Einem dürftigen Mann, ohn’ Erb’ und eigenen Wohlstand,
    Als die sämtliche Schar der geschwundenen Toten beherrschen.
    (Odyssee XI v. 484—491.)

    Oder in der kraftvollen, bitter-parodistischen Fassung von H. Heine:

    Der kleinste lebendige Philister
    Zu Stuckert am Neckar
    Viel glücklicher ist er
    Als ich, der Pelide, der tote Held,
    Der Schattenfürst in der Unterwelt.

    Erst später brachten es die Religionen zustande, diese Nach-
    existenz für die wertvollere, vollgültige auszugeben und das durch
    den Tod abgeschlossene Leben zu einer bloßen Vorbereitung herab-
    zudrücken. Es war dann nur konsequent, wenn man auch das
    Leben in die Vergangenheit verlängerte, die früheren Existenzen,
    die Seelenwanderung und Wiedergeburt ersann, alles in der Ab-
    sicht, dem Tode seine Bedeutung als Aufhebung des Lebens zu
    rauben. So frühzeitig hat die Verleugnung des Todes, die wir
    als konventionell-kulturell bezeichnet haben, ihren Anfang ge-
    nommen.

    An der Leiche der geliebten Person entstanden nicht nur die
    Seelenlehre, der Unsterblichkeitsglaube und eine mächtige Wurzel
     

  • S.

    [340]

    des menschlichen Schuldbewußtseins, sondern auch die ersten
    ethischen Gebote. Das erste und bedeutsarnste Verbot des er-
    wachenden Gewissens lautete: Du sollst nicht töten. Es war
    als Reaktion gegen die hinter der Trauer versteckte Haßbefriedigung
    am geliebten Toten gewonnen worden und wurde allmählich auf
    den ungeliebten Fremden und endlich auch auf den Feind aus-gedehnt.

    An letzterer Stelle wird es vom Kulturmenschen nicht mehr
    verspürt. Wenn das wilde Ringen dieses Krieges seine Entschei-
    dung gefunden hat, wird jeder der siegreichen Kämpfer froh in
    sein Heim zurückkehren, zu seinem Weibe und Kindern, unver-
    weilt und ungestört durch Gedanken an die Feinde, die er im
    Nahkampfe oder durch die fernwirkende Waffe getötet hat. Es
    ist bemerkenswert, daß sich die primitiven Völker, die noch auf
    der Erde leben und dem Urmenschen gewiß näher stehen als
    wir, in diesem Punkte anders verhalten – oder verhalten haben,
    solange sie noch nicht den Einfluß unserer Kultur erfahren hatten.
    Der Wilde – Australier, Buschmann, Feuerländer – ist keines-
    wegs ein reueloser Mörder; wenn er als Sieger vom Kriegspfade
    heimkehrt, darf er sein Dorf nicht betreten und sein Weib nicht
    berühren, ehe er seine kriegerischen Mordtaten durch oft lang-
    wierige und mühselige Bußen gesühnt hat. Natürlich liegt die
    Erklärung aus seinem Aberglauben nahe; der Wilde fürchtet noch
    die Geisterrache der Erschlagenen. Aber die Geister der erschla-
    genen Feinde sind nichts anderes als der Ausdruck seines bösen
    Gewissens ob seiner Blutschuld; hinter diesem Aberglauben ver-
    birgt sich ein Stück ethischer Feinfühligkeit, welches uns Kultur-
    menschen verloren gegangen ist.1

    Fromme Seelen, welche unser Wesen gerne von der Berührung
    mit Bösem und. Gemeinem ferne wissen möchten, werden gewiß
    nicht versäumen, aus der Frühzeitigkeit und Eindringlichkeit des

    –––
    1) Siehe „Totem und Tabu“.

  • S.

    [341]

    Mordverbotes befriedigende Schlüsse zu ziehen auf die Stärke
    ethischer Regungen, welche uns eingepflanzt sein müssen. Leider
    beweist dieses Argument noch mehr für das Gegenteil. Ein so
    starkes Verbot kann sich nur gegen einen ebenso starken Impuls
    richten. Was keines Menschen Seele begehrt, braucht man nicht
    zu verbieten,1 es schließt sich von selbst aus. Gerade die Betonung
    des Gebotes: Du sollst nicht töten, macht uns sicher, daß wir
    von einer unendlich langen Generationsreihe von Mördern ab-
    starnmen, denen die Mordlust, wie vielleicht noch uns selbst, im
    Blute lag. Die ethischen Strebungen der Menschheit, an deren
    Stärke und Bedeutsarnkeit man nicht zu nörgeln braucht, sind
    ein Erwerb der Menschengeschichte; in leider sehr wechsblndem
    Ausmaße sind sie dann zum ererbten Besitze der heute lebenden
    Menschheit geworden.

    Verlassen wir nun den Urmenschen und wenden wir uns dem
    Unbewußten im eigenen Seelenleben zu. Wir fußen hier ganz
    auf der Untersuchungsmethode der Psychoanalyse, der einzigen,
    die in solche Tiefen reicht. Wir fragen: wie verhält sich unser
    Unbewußtes zum Problem des Todes? Die Antwort muß lauten:
    fast genau so wie der Urmensch. In dieser wie in vielen anderen
    Einsichten lebt der Mensch der Vorzeit ungeändert in unserem
    Unbewußten fort. Also unser Unbewußtes glaubt nicht an den
    eigenen Tod, es gebärdet sich wie unsterblich. Was wir unser
    „Unbewußtes“ heißen, die tiefsten, aus Triebregungen bestehenden
    Schichten unserer Seele, kennt überhaupt nichts Negatives, keine
    Verneinung – Gegensätze fallen in ihm zusammen – und kennt
    darum auch nicht den eigenen Tod, dem wir nur einen nega-
    tiven Inhalt geben können. Dem Todesglauben kommt also nichts
    Triebhaftes in uns entgegen. Vielleicht ist dies sogar das Geheimnis
    des Heldentums. Die rationelle Begründung des Heldentums ruht
    auf dem Urteile, daß das eigene Leben nicht so wertvoll sein

    ___
    1) Vgl. die glänzende Argumentation von Frazer (Freud, „Totem und Tabu"].

  • S.

    [342

    kann wie gewisse abstrakte und allgemeine Güter. Aber ich meine,
    häufiger dürfte das instinktive und impulsive Heldentum sein,
    welches von solcher Motivierung absieht und einfach nach der
    Zusicherung des Anzengruberschen Steinklopferhanns: Es kann
    dir nix g’scheh'n
    , den Gefahren trotzt. Oder jene Motivierung
    dient nur dazu, die Bedenken wegzuräumen, welche die dem
    Unbewußten entsprechende heldenhafte Reaktion hintanhalten
    können. Die Todesangst, unter deren Herrschaft wir häufiger
    stehen, als wir selbst wissen, ist dagegen etwas Sekundäres, und
    meist aus Schuldbewußtsein hervorgegangen.

    Anderseits anerkennen wir den Tod für Fremde und Feinde
    und verhängen ihn über sie ebenso bereitwillig und unbedenklich
    wie der Urmensch. Hier zeigt sich freilich ein Unterschied, den
    man in der Wirklichkeit für entscheidend erklären wird. Unser
    Unbewußtes führt die Tötung nicht aus, es denkt und wünscht
    sie bloß. Aber es wäre unrecht, diese psychische Realität im
    Vergleiche zur faktischen so ganz zu unterschätzen. Sie ist be-
    deutsam und folgenschwer genug. Wir beseitigen in unseren un-
    bewußten Regungen täglich und stündlich alle, die uns im Wege
    stehen, die uns beleidigt und geschädigt haben. Das „Hol‘ ihn
    der Teufel“, das sich so häufig in scherzendem Unmute über
    unsere Lippen drängt, und das eigentlich sagen will: „Hol‘ ihn
    der Tod“, in unserem Unbewußten ist es ernsthafter, kraftvoller
    Todeswunsch. Ja, unser Unbewußtes mordet selbst für Kleinig-
    keiten; wie die alte athenische Gesetzgebung des Drakon kennt
    es für Verbrechen keine andere Strafe als den Tod, und dies mit
    einer gewissen Konsequenz, denn jede Schädigung unseres all-
    mächtigen und selbstherrlichen Ichs ist im Grunde ein crimen
    laesae majestatis.

    So sind wir auch selbst, wenn man uns nach unseren unbe-
    wußten Wunschregungen beurteilt, wie die Urmenschen eine Rotte
    von Mördern. Es ist ein Glück, daß alle diese Wünsche nicht die
    Kraft besitzen, die ihnen die Menschen in Urzeiten noch zu-

  • S.

    [343]

    trauten;1 in dem Kreuzfeuer der gegenseitigen Verwünschungen
    wäre die Menschheit längst zugrunde gegangen, die besten und
    weisesten der Männer darunter wie die schönsten und holdesten
    der Frauen.

    Mit Aufstellungen wie diesen findet die Psychoanalyse bei den
    Laien meist keinen Glauben. Man weist sie als Verleumdungen
    zurück, welche gegen die Versicherungen des Bewußtseins nicht
    in Betracht kommen, und übersieht geschickt die geringen An-
    zeichen, durch welche sich auch das Unbewußte dem Bewußtsein
    zu verraten pflegt. Es ist darum am Platze darauf hinzuweisen,
    daß viele Denker, die nicht von der Psychoanalyse beeinflußt sein
    konnten, die Bereitschaft unserer stillen Gedanken, rnit Hinweg-
    setzung über das Mordverbot zu beseitigen, was uns im Wege
    steht, deutlich genug angeklagt haben. Ich wähle hiefür ein ein-
    ziges berühmt gewordenes Beispiel an Stelle vieler anderer:
    Im „Père Goriot“ spielt Balzac auf eine Stelle in den Werken
    J. J. Rousseaus an, in welcher dieser Autor den Leser fragt,
    was er wohl tun würde, wenn er – ohne Paris zu verlassen
    und natürlich ohne entdeckt zu werden – einen alten Mandarin
    in Peking durch einen bloßen Willensakt töten könnte, dessen
    Ableben ihm einen großen Vorteil einbringen müßte. Er läßt
    erraten, daß er das Leben dieses Würdenträgers für nicht sehr
    gesichert hält. „Tuer son mandarzin“ ist dann sprichwörtlich
    geworden für diese geheime Bereitschaft auch der heutigen
    Menschen.

    Es gibt auch eine ganze Anzahl von zynischen Witzen und
    Anekdoten, welche nach derselben Richtung Zeugnis ablegen, wie
    z. B. die dem Ehemanne zugeschriebene Äußerung: Wenn einer
    von uns beiden stirbt, übersiedle ich nach Paris. Solche zynische
    Witze wären nicht möglich, wenn sie nicht eine verleugnete
    Wahrheit mitzuteilen hätten, zu der man sich nicht bekennen

    ___
    1) Vgl. über „Allmacht der Gedanken“ in „Totem und Tabu“.

  • S.

    344

    darf, wenn sie ernsthaft und unverhüllt ausgesprochen wird. Im Scherz darf man bekanntlich sogar die Wahrheit sagen.

    Wie für den Urmenschen so ergibt sich auch für unser Un-
    bewußtes ein Fall, in dem die beiden entgegengesetzten Ein-
    stellungen gegen den Tod, die eine, welche ihn als Lebensver-
    nichtung anerkennt, und die andere, die ihn als unwirklich verleugnet, zusammenstoßen und in Konflikt geraten. Und dieser Fall ist der nämliche wie in der Urzeit, der Tod oder die Todes- gefahr eines unserer Lieben, eines Eltern- oder Gattenteils, eines Geschwisters, Kindes oder lieben Freundes. Diese Lieben sind uns einerseits ein innerer Besitz, Bestandteile unseres eigenen Ichs, anderseits aber auch teilweise Fremde, ja Feinde. Den zärtlichsten und innigsten unserer Liebesbeziehungen hängt mit Ausnahme ganz weniger Situationen ein Stückchen Feindseligkeit an, welches den unbewußten Todeswunsch anregen kann. Aus diesem Ambi-
    valenzkonflikt geht aber nicht wie dereinst die Seelenlehre und die Ethik hervor, sondern die Neurose, die uns tiefe Einblicke auch in das normale Seelenleben gestattet. Wie häufig haben die psychoanalytisch behandelnden Ärzte mit dem Symptom der über-zärtlichen Sorge um das Wohl der Angehörigen oder mit völlig unbegründeten Selbstvorwürfen nach dem Tode einer geliebten Person zu tun gehabt. Das Studium dieser Vorfälle hat ihnen über die Verbreitung und Bedeutung der unbewußten Todeswünsche keinen Zweifel gelassen. Der Laie empfindet ein außerordentliches Grauen vor dieser Gefühlsmöglichkeit und nimmt diese Abneigung als legitimen Grund zum Unglauben gegen die Behauptungen der Psycho- analyse. Ich meine mit Unrecht. Es wird keine Herabsetzung unseres Liebeslebens beabsichtigt, und es liegt auch keine solche vor. Unserem Verständnis wie unserer Empfindung liegt es freilich ferne, Liebe und Haß in solcher Weise miteinander zu ver- koppeln, aber indem die Natur mit diesem Gegensatzpaar arbeitet, bringt sie es zustande, die Liebe immer wach und frisch zu

  • S.

    [345]

    erhalten, um sie gegen den hinter ihr lauernden Haß zu ver-
    sichern. Man darf sagen, die schönsten Entfaltungen unseres
    Liebeslebens danken wir der Reaktion gegen den feindseligen
    Impuls, den wir in unserer Brust verspüren.

    Resümieren wir nun: unser Unbewußtes ist gegen die Vor-
    stellung des eigenen Todes ebenso unzugänglich, gegen den
    Fremden ebenso mordlustig, gegen die geliebte Person ebenso
    zwiespältig (ambivalent) wie der Mensch der Urzeit. Wie weit
    haben wir uns aber in der konventionell-kulturellen Einstellung
    gegen den Tod von diesem Urzustande entfernt!

    Es ist leicht zu sagen, wie der Krieg in diese Entzweiung ein-
    greift. Er streift uns die späteren Kulturauflagerungen ab und
    läßt den Urmenschen in uns wieder zum Vorschein kommen. Er
    zwingt uns wieder, Helden zu sein, die an den eigenen Tod
    nicht glauben können; er bezeichnet uns die Fremden als Feinde,
    deren Tod man herbeiführen oder herbeiwünschen soll; er rät
    uns, uns über den Tod geliebter Personen hinwegzusetzen. Der
    Krieg ist aber nicht abzuschaffen; solange die Existenzbedingungen
    der Völker so verschieden und die Abstoßungen unter ihnen so
    heftig sind, wird es Kriege geben müssen. Da erhebt sich denn
    die Frage: Sollen wir nicht diejenigen sein, die nachgeben und
    sich ihm anpassen? Sollen wir nicht zugestehen, daß wir mit
    unserer kulturellen Einstellung zum Tode psychologisch wieder
    einmal über unseren Stand gelebt haben, und vielmehr um-
    kehren und die Wahrheit fatieren? Wäre es nicht besser, dem
    Tode den Platz in der Wirklichkeit und in unseren Gedanken
    einzuräumen, der ihm gebührt, und unsere unbewußte Ein-
    stellung zum Tode, die wir bisher so sorgfältig unterdrückt
    haben, ein wenig mehr hervorzukehren? Es scheint das keine
    Höherleistung zu sein, eher ein Rückschritt in manchen Stücken,
    eine Regression, aber es hat den Vorteil, der Wahrhaftigkeit
    mehr Rechnung zu tragen und uns das Leben wieder erträg-
    licher zu machen. Das Leben zu ertragen, bleibt ja doch die

     

  • S.

    [546]

    erste Pflicht aller Lebenden. Die Illusion wird wertlos, wenn sie
    uns darin stört.

    Wir erinnern uns des alten Spruches: Si vis pacem, para
    bellum
    . Wenn du den Frieden erhalten willst, so rüste zum
    Kriege.

    Es wäre zeitgemäß, ihn abzuändern: Si vis vitam, para
    mortem
    . Wenn du das Leben aushalten willst, richte dich auf
    den Tod ein.

    –––